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„Hat nichts mit Wahrheitsfindung zu tun“

Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 und die deutsche Militärgeschichts-schreibung
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Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2020
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Abstract

Der Kieler Matrosenaufstand von 1918 ist bis heute die größte Meuterei in der deutschen Geschichte. Aus einzelnen Matrosenerhebungen entwickelte sich binnen weniger Tage eine landesweite Revolte in Marine und Heer, die in der Novemberrevolution gipfelte. Die deutsche Militärgeschichtsschreibung hatte jahrzehntelang große Schwierigkeiten mit diesem Ereigniskomplex, wobei das Quellen- und Deutungsmonopol der von Akteuren in Offiziersuniform dominierten amtlichen Kriegshistoriografie stark ins Gewicht fiel. Christian Lübcke kann auf der Basis bislang kaum beachteter Dokumente zeigen, dass in der Weimarer Republik, im Dritten Reich und noch in der jungen Bundesrepublik Sichtweisen dominierten, die wenig mit Wissenschaft, aber umso mehr mit Selbstrechtfertigung, Revisionismus und Apologie zu tun hatten

Abstract

To date, the 1918 Kiel Mutiny is the largest mutiny in German history. Within the space of a few days, individual uprisings by sailors developed into a countrywide revolt in the navy and army, which culminated in the November Revolution. For decades, German military historiography had great difficulties with this nexus of events, strongly influenced by the fact that official war historiography, which was dominated by actors in uniform, enjoyed a monopoly on sources and interpretation. On the basis of hitherto disregarded documents, Christian Lübcke can show that during the Weimar Republic, the Third Reich and the young Federal Republic views predominated, which had little to do with scholarship and much more with self-justification, revisionism and apologia.

Vorspann

Von der Flottenbasis der Kaiserlichen Marine in Kiel ging Ende 1918 die bis heute größte Meuterei in der deutschen Ge­schich­te aus. Aus einzelnen Matrosenerhebungen entwickelte sich binnen weniger Ta­ge eine lan­des­weite Revolte in den Garnisonen des Deutschen Reichs, die in der Novemberrevolution gip­felte und der Monarchie ein Ende setzte. Die deutsche Mi­­­litär­­ge­schichts­­­schreibung hatte jahr­zehn­te­lang große Schwierigkeiten mit diesem Themenkomplex, wobei das Quellen- und Inter­pre­tations­mo­no­pol der von Akteuren in Offiziersuniform do­mi­nierten amtlichen Kriegshistoriografie stark ins Gewicht fiel. Christian Lübcke kann auf der Ba­sis bislang kaum ausgewerteter Dokumente zeigen, dass in der Weima­rer Republik, im Dritten Reich und noch in der jungen Bundesrepublik Deutungsmuster vorherrschten, die wenig mit Wis­sen­schaft, aber umso mehr mit Selbstrechtfertigung, Re­visio­nis­mus und Apo­logie zu tun hatten.

I. Umkämpfte Erinnerung

Im Dezember 1960 besuchte der Inspekteur der Bundesmarine, Vizeadmiral Friedrich Ruge, das Militärarchiv beim Bundesarchiv in Koblenz. Zu den Marineakten des Archivs gehört bis heute die größte Quellensammlung zum Kieler Matrosenaufstand, der sich Ende 1918 zu einer allgemeinen Erhebung der deutschen Garnisonen ausweitete. Die Masse dieser Quellen war 1960 noch nicht professionell gesichtet und ausgewertet worden – sofern sie den Zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden hatten. Ein Blick in den stetig wachsenden Bestand militärgeschichtlicher Werke in der Bibliothek des Archivs zeigte jedoch, dass die Legendenbildung rund um den Kieler Matrosenaufstand bereits in vollem Gange war. Im Verlauf des Gesprächs fragte der Archivleiter, Oberarchivrat Hermann Teske, nach Ruges Meinung zu einer wissenschaftlichen Aufarbeitung des Kieler Matrosenaufstands und der Novemberrevolution von 1918. Der Vizeadmiral entgegnete sinngemäß, eine solche Aufarbeitung sei aus seiner Sicht weder notwendig noch hilfreich. Teske ließ daraufhin den Gedanken wieder fallen, kommentierte das Gespräch in seinen Aufzeichnungen jedoch mit der vielsagenden Notiz: „Hat nichts mit Wahrheitsfindung zu tun“.[1]

Diese Episode wirft ein bezeichnendes Schlaglicht auf ein Phänomen in der Forschung zur deutschen Militärgeschichte, das sich wie ein roter Faden praktisch ununterbrochen von 1919 bis in unsere Zeit zieht. Seit mehr als 100 Jahren befinden sich der Kieler Matrosenaufstand und die Novemberrevolution in einem toten Winkel der akademischen Militärgeschichte. Das ist durchaus erklärungsbedürftig, gab es doch im 20. Jahrhundert nicht viele Aufstände deutscher Militärangehöriger, die sich zu Hunderttausenden landesweit für Frieden, Abrüstung, Demokratie und Militärreformen stark machten. Insgesamt zeichnet sich ein recht sonderbares Bild ab: Jahrzehntelange Versäumnisse, bewusste wie unbewusste Vernachlässigung, fachliche Fehler, aber auch bewusste Geschichtsverfälschungen im Umgang mit jenen Ereignissen werfen ihre Schatten bis in unsere Zeit. Noch immer tut sich die Militärgeschichtsschreibung sichtlich schwer bei der Aufarbeitung und Bewertung der Ereignisse vom November 1918. Woran liegt das?

Der Kieler Matrosenaufstand ist bis heute die größte Meuterei in der deutschen Geschichte. Aus einzelnen Matrosenerhebungen entwickelte sich binnen weniger Tage eine landesweite Erhebung von revolutionärer Qualität. Dieser Aufstand beschleunigte nicht nur das Kriegsende, sondern leitete das Ende der Monarchie auf deutschem Boden und die Entstehung der Weimarer Republik ein. Vor diesem Hintergrund ist es umso erstaunlicher, dass der Kieler Matrosenaufstand und seine Weiterungen bislang nur lückenhaft erforscht worden sind. Nimmt man einschlägige Gesamtdarstellungen zur Hand, finden sich die Aufstände und Erhebungen meist zu wenigen Sätzen über das Ende des Ersten Weltkriegs und den Beginn der Republik von Weimar reduziert.[2] Warum gibt es bislang nicht ein Buch, das sich umfassend mit diesem Phänomen in der deutschen Militärgeschichte auseinandersetzt und die einzelnen Aufstände in den verschiedensten deutschen Garnisonen in einer Zusammenschau miteinander verknüpft? Warum kennt man von den meisten regionalen Anführern der Aufstände und führenden Köpfen in den jeweiligen Soldatenräten heute oft kaum mehr als ihre Namen?

Eine zentrale Frage, die sich in diesem Zusammenhang immer wieder aufs Neue stellt, lautet folgendermaßen: Konnte oder wollte man sich nicht näher mit dem Kieler Matrosenaufstand und den Novemberunruhen im deutschen Militär beschäftigen? Diese Frage liegt auch dem vorliegenden Aufsatz zugrunde, der vor allem die bisherige militärgeschichtliche Forschung auf den Prüfstand stellt. Von erheblicher Bedeutung ist dabei zweierlei: Zum einen hatten jahrzehntelang praktisch nur diejenigen Zugang zu den entsprechenden Dokumenten, die in militärhistorischen Archiven oder Forschungseinrichtungen arbeiteten und oft selbst einen militärischen Hintergrund hatten. Zum anderen waren die Hauptakteure des Kieler Matrosenaufstands und der darauffolgenden Erhebungen mehrheitlich Soldaten. Deutungskämpfe konnten in dieser Konstellation kaum ausbleiben.

Um diese Deutungskämpfe zu rekonstruieren, wurden die Arbeiten führender Militärhistoriker aus 100 Jahren herangezogen und ausgewertet.[3] Der vorliegende Aufsatz beruht aber nicht nur auf dem Studium aller wesentlichen militärgeschichtlichen Werke zum Thema, sondern vor allem auch auf intensiven Recherchen in verschiedenen staatlichen und kommunalen Archiven. Es handelt sich dabei um mehrere tausend Dokumente zum Kieler Matrosenaufstand und zur Novemberrevolution. Zudem wurden mitunter erstmals private Aufzeichnungen führender Militärs herangezogen, die einen direkten Einfluss auf die militärgeschichtliche Forschung in den ersten drei Jahrzehnten nach den Ereignissen im November 1918 hatten.[4] Dieses Quellenstudium ist unbedingt notwendig, da sich nur so die Aussagekraft verschiedener militärgeschichtlicher Werke und die Qualität der dort vertretenen Thesen richtig einschätzen und bewerten lassen. Ohne die Kenntnis der Originalquellen läuft man rasch Gefahr, verschiedene Aussagen in früheren Werken anstandslos zu akzeptieren. Dieser Fehler wurde – wie dieser Aufsatz belegen wird – gerade bei den verschiedenen Jubiläen zum Kieler Matrosenaufstand und der Novemberrevolution wiederholt gemacht, zuletzt im Jahr 2018. Die Folge dieser ungeprüften Übernahme aus früheren Werken hat zur Bildung von Legenden rund um die Begebenheiten des Novembers 1918 geführt, die mitunter nur noch wenig Bezug zu den tatsächlichen Ereignissen haben.

Das hundertste Jubiläum des Kieler Matrosenaufstands gab Hoffnung auf eine neue Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen; schon 2017 kam eine Fülle neuer Veröffentlichungen auf den Markt, so beispielsweise aus der Feder von Joachim Käppner, Mark Jones oder Knut-Hinrik Kollex.[5] Bedauerlicherweise zeigt sich aber auch bei vielen dieser neueren Werke ein bekanntes Muster: Anstatt sich intensiv mit dem vorhandenen Quellenmaterial auseinanderzusetzen, hat man in der Regel lediglich frühere Werke neu aufbereitet und – wie etwa bei Käppner oder Kollex – durch Anekdoten erweitert. Die Autoren hinterfragten weder frühere Aussagen in Literatur und Forschung, noch machten sie den Versuch, neues Quellenmaterial zu erschließen. Als Beispiel lässt sich hier ein vielbeachteter Aufsatz von Kollex anführen, der nicht nur eine Reihe inhaltlicher und chronologischer Fehler beinhaltet, sondern die Ereignisse in Kiel unnötig dramatisiert.[6]

Dabei hätte es Kollex besser wissen können, gehörte er doch zu den Autorinnen und Autoren des im April 2018 von Sonja Kinzler und Doris Tillmann unter dem Titel „Die Stunde der Matrosen. Kiel und die deutsche Revolution 1918“ herausgegebenen Sammelbands, der multiperspektivisch nicht nur die Novemberereignisse in Kiel, sondern auch andere interessante Untersuchungsfelder rund um den Aufstand und die Revolution von 1918 beleuchtet.[7] Als Begleitbuch zur Jahresausstellung des Kieler Stadt- und Schifffahrtsmuseums enthält dieser Sammelband viele neue Facetten der Forschung, die jedoch aus Platzgründen nicht weiter vertieft werden. So nimmt beispielsweise der Beitrag von Jann M. Witt mit dem interessanten Titel „Die Rezeption des Matrosenauf­stands in den deutschen Marinen. Die Meuterei als Trauma“ weniger als eine Seite ein.[8] Erfreuliche Erkenntnisfortschritte bringt auch die Arbeit von Martin Rackwitz.[9] Im Gegensatz zum allgemeinen Trend stecken in Rackwitz’ Arbeit jahrelange intensive Forschung an Primärquellen. Seine Studie stellt die übrigen Neuerscheinungen der Jahre 2017 und 2018 in den Schatten und lieferte, vor dem Hintergrund jahrelanger Zusammenarbeit, auch Klaus Kuhl eine solide Grundlage für seine bemerkenswerte Publikation.[10]

II. Das Quellenmonopol – gescheiterte Versuche einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Novemberrevolution in der Weimarer Republik

Eine Antwort auf die zentrale Frage nach den Gründen für die oft nur oberflächliche oder verfälschte Darstellung liegt zweifellos im schwierigen Quellenzugang. In den vergangenen 100 Jahren lassen sich durchaus Bestrebungen nachweisen, den Kieler Matrosenaufstand und die dadurch ausgelöste Revolution wissenschaftlich aufzuarbeiten und unter militärhistorischen Gesichtspunkten zu untersuchen. Bereits in den ersten Jahren der Weimarer Republik gab es Versuche, die Novemberereignisse zumindest ereignisgeschichtlich zu rekonstruieren und so für die Nachwelt festzuhalten. Noch im Winter 1918/19 kam es mit dem Fall der Zensurbestimmungen zu einer Fülle einschlägiger Veröffentlichungen.[11] Hier zeigte sich jedoch bereits ein großes Problem: der Quellenzugang. Zivile Autoren hatten in der Regel keine Möglichkeit, Militärakten einzusehen. Zudem war das gesammelte Material oft als geheim und vertraulich eingestuft, sodass kaum eine Möglichkeit zu eingehenden Recherchen bestand. Gleiches galt für Polizei- und Verwaltungsakten. Sebastian Rojek sprach in diesem Zusammenhang mit Blick auf die Quellen zu Recht von einem Monopol der Reichsmarine und ihrer Forschungseinrichtungen.[12]

Wer keine Uniform trug, konnte daher nur auf eigene Erlebnisse, Augenzeugenberichte, Zeitungen, Erzählungen oder Gerüchte zurückgreifen. So entstandene Darstellungen und Untersuchungen waren in der Regel nur regional begrenzt und stießen bei Offizieren und Militärhistorikern gleichermaßen auf wenig Gegenliebe. Traditionalisten in Armee und Politik begannen sehr schnell damit, die Schuld für den Aufstand vom angeblich unbesiegten Heer abzuwälzen; groß war das Interesse an einer Aufarbeitung der Novemberereignisse hier ohnehin nie gewesen. Ungeachtet des Umstands, dass sich letztendlich weitaus mehr Soldaten als Matrosen dem Aufstand angeschlossen hatten, suchte man die Sündenböcke anderswo.

Ein beliebtes Vehikel dafür war die Dolchstoßlegende, die immer wieder den Umständen angepasst wurde.[13] Waren es zunächst noch Arbeiterschaft und Heimatheer, die den Fronttruppen in den Rücken gefallen seien, reichte man den Schwarzen Peter rasch exklusiv an die Marine weiter. Die öffentlichkeitswirksamen Aktionen von roten Matrosen im Jahr 1919, etwa bei den Kämpfen der Volksmarinedivision in Berlin, schienen diese Vorwürfe zu erhärten. Die einst ebenso hochgerühmte wie populäre Marine befand sich plötzlich in einem gewaltigen Imagetief. In dieser Situation beschloss der Chef der Admiralität, Konteradmiral Adolf von Trotha, die Flucht nach vorne anzutreten. Gewissermaßen zur „Ehrenrettung“ der Marine gab er eine umfassende interne Ermittlung und eine möglichst präzise wissenschaftliche Rekonstruktion der Novemberereignisse in Auftrag. Am 29. April 1919 erließ er dazu einen zentralen Aufruf an alle Marinedienststellen: „Vertraulich! Es liegt sowohl im allgemeinen historischen wie im dringenden Gesamtinteresse der Marine über die Vorgänge bei der Revolution ein möglichst wahrheitsgetreues Bild zu gewinnen.“[14]

Tatsächlich folgte auf diesen Aufruf die Zusendung von hunderten Erlebnisberichten von unmittelbar involvierten Marineoffizieren; zudem begann man damit, wichtige Amts- und Polizeiberichte, zeitgenössische Zeitungsartikel und private Veröffentlichungen zu sammeln. Die Kriegswissenschaftliche Abteilung der Marine erhielt den Auftrag, dieses Material auszuwerten und im Rahmen einer Buchreihe über die Einsatzgeschichte der Kaiserlichen Marine im Ersten Weltkrieg zu veröffentlichen. Ein Großteil der damals gesammelten Quellen ist noch heute vorhanden. Es handelt sich um einen umfangreichen Bestand, der im Militärarchiv des Bundesarchivs in Freiburg verwahrt wird; manches findet sich auch in den Nachlässen unmittelbar beteiligter Admiräle und Marinestabsoffiziere.

Konnte man in den 1920er Jahren zumindest für die Regionen mit Marinestandorten eine umfassende wissenschaftliche Arbeit über die Hintergründe, den Verlauf und die unmittelbaren Folgen des Aufstands schreiben? Grundsätzlich schon. Die nächste Frage ist aber: Wollte man es auch wirklich? Konteradmiral von Trotha äußerte sich in seinem Aufruf dazu bereits vielsagend: „Ich werde von den eingehenden Berichten nur solche an die kriegsgeschichtliche Abteilung überweisen, deren Inhalt dies unbedenklich zulässt.“[15]

In der Marine waren diese Maßnahmen von Trothas nicht unumstritten. So bemerkte Konteradmiral Hans Küsel, dem man als ehemaligem Stabschef der Marinestation in Kiel ein persönliches Interesse unterstellen darf, gegenüber anderen Offizieren kritisch: „Ich sehe in der Art, wie der Chef der Admiralität die Berichterstattung haben will, eine Gefahr für die historische Wahrheit.“[16] Auch wenn mit Blick auf Küsels eigenes Manuskript zum Kieler Matrosenaufstand die kritische Frage gestellt werden muss, was der Konteradmiral als „historische Wahrheit“ ansah, waren seine Einwände durchaus angebracht. Offenen Widerstand gegen von Trothas Initiative gab es jedoch nicht. Gegenüber der Öffentlichkeit schwieg sich die Marineführung über die Novemberereignisse aus und hielt die gesammelten Quellen sorgsam unter Verschluss. Junge Offiziere, die versuchten, eigene Texte zu veröffentlichen, wurden von vorgesetzter Stelle daran gehindert.[17] Ungeachtet der Lippenbekenntnisse verschiedener Führungsoffiziere der Marine gibt es keinen Zweifel daran, dass eine kritische Aufarbeitung des Matrosenaufstands unter den damaligen Umständen von vornherein so gut wie unmöglich war.

Dieser Umstand lag einerseits in den Absichten der Marineführung, andererseits in der Person des Bearbeiters begründet, zumal es sich als sehr schwierig erwies, überhaupt einen geeigneten Mann zu finden. Zudem kam es zu zahlreichen gewollten wie ungewollten Verzögerungen, bis man ernsthaft begann, die vielen Zusendungen in einem Abschlussbericht zu bündeln. Mehr als zehn Jahre verstrichen auf diese Weise. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte schon eine ganze Reihe ehemaliger Admiräle der Kaiserlichen Marine zur Rechtfertigung des eigenen Handelns während der Aufstände oder zur Wiederherstellung des eigenen Rufs Manuskripte entworfen oder bereits publiziert.[18] Der Verfasser des offiziellen Berichts im Auftrag der Marineführung musste sich also nicht nur gegenüber der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber diesen Admirälen behaupten können.

Letztendlich fiel Anfang der 1930er Jahre die Wahl auf den ehemaligen Kapitän zur See Karl Wilhelm Weniger (1874–1945).[19] Weniger war ein erfahrener Marinestabsoffizier und hatte bereits für die Kriegswissenschaftliche Abteilung gearbeitet. Er entstammte zudem einer einflussreichen Familie. Sein Onkel war Admiral Friedrich von Ingenohl, ein auch in der Reichsmarine hoch angesehener Offizier. Noch weit stärker sprach in den Augen der Marineführung für Weniger, dass dieser am 5. November 1918 in Kiel bei dem – wie es später allgemein hieß – „heroischen“ Versuch, die Reichskriegsflagge mit der Waffe in der Hand vor meuternden Matrosen zu verteidigen, viermal angeschossen worden war.[20]

Das deutsche Marineoffizierkorps stand jahrzehntelang wegen seines Krisenmanagements im November 1918 unter heftiger Kritik. Während der Revolte von weit über 200.000 meuternden Matrosen waren lediglich drei Offiziere durch die Hand von Aufständischen zu Tode gekommen.[21] Schon diese Tatsache galt vielen Kritikern als beredtes Indiz für die Tatenlosigkeit und Feigheit der Marineoffiziere. Wenigers Verwundungen machten ihn dagegen so gut wie immun gegenüber solchen öffentlichen Anschuldigungen. Wie objektiv die Darstellungen eines Marineoffiziers sein konnten, der persönlich tief in die damaligen Ereignisse verstrickt gewesen war, war dagegen keine Frage, die man damals stellte.

Dazu kam die Struktur des Materials, das Weniger zur Verfügung stand und das verzerrte Wahrnehmungen präjudizierte. Das erste große Problem war, dass sich die Quellensammlung lediglich auf marineinterne Berichte beschränkte. Bis auf wenige Ausnahmen – wie im Fall Berlins – wurden Dokumente aus dem Heer nicht miteinbezogen. Es fehlt allerdings an Nachweisen, wie es zu der mangelhaften Zusammenarbeit zwischen Heer und Marine gekommen ist und wer dafür verantwortlich zeichnete. Aber auch bei der marineinternen Dokumentation gab es erhebliche Versäumnisse. Bis auf wenige Ausnahmen, bei denen Zuschriften unmittelbar beteiligter Deckoffiziere[22] der Marine in die Sammlung aufgenommen wurden, stammten alle anderen Berichte von Marineoffizieren oder Offizieranwärtern. Da den Aufstand vor allem Mannschaftsdienstgrade und Unteroffiziere getragen hatten, konnten die Berichte der Offiziere oft nur oberflächlich zu einer Rekonstruktion der Ereignisse beitragen.

Eine systematische Befragung durch einen unabhängigen Dritten hätte in späterer Zeit Klarheit über die ursprünglichen Pläne der Matrosen und ihre verschiedenen Aktionen gebracht. Stattdessen beließ man es seitens der Marineführung dabei, das Verhalten der Matrosen während des Aufstands lediglich anhand der Augenzeugenberichte von Offizieren, so gut es ging, zu interpretieren. Liest man diese Berichte kritisch, bleibt der Eindruck nicht aus, dass einzelne Offiziere in ihren Rechtfertigungsschriften absichtlich Tatsachen verdrehten und falsche Angaben über wichtige Tathergänge machten.[23] Hinweise auf Offiziere und Deckoffiziere, die die Aufständischen aktiv unterstützt hatten, gab es damals ebenfalls, doch wurden diese streng vertraulich behandelt und flossen nicht in die offiziellen Berichte ein – eine Praxis, die durchaus der Absicht der Marineführung entsprach.[24]

Eine offizielle Zusammenfassung sollte vor allem die Ehre der Marine retten und die Admiralität von möglichst allen Vorwürfen freisprechen. Dafür war es erforderlich, zumindest den Anschein zu erwecken, das Offizierkorps habe sich an diesem Aufstand in keiner Weise aktiv beteiligt oder diesen begünstigt. Denn eines war in diesem Augenblick bereits klar: Der Kieler Aufstand und die zahlreichen Meutereien im deutschen Militär wurden schon sehr früh sowohl in weiten Teilen der Politik als auch in der Militärführung als etwas grundsätzlich Negatives wahrgenommen.[25] Das Verhalten der Matrosen und Soldaten im November 1918 widersprach allem, was den Geist der kaiserlichen Streitkräfte ausmachte. Danach hatte ein Soldat vor allem eines zu sein: unpolitisch, gehorsam und hundertprozentig loyal gegenüber seinen Vorgesetzten.[26] Hunderttausende Soldaten und Matrosen, die meuterten, unter der roten Flagge revolutionäre politische Forderungen stellten und das eigene Militärwesen kritisch hinterfragten, entsprachen überhaupt nicht dem Bild vom preußischen und deutschen Militär, das fast 200 Jahre lang im In- und Ausland gewachsen war. Allenfalls den Vertretern der Sozialdemokratie, die mit der Revolution Schlüsselpositionen im Reich übernommen hatten, wäre es möglich gewesen, die Handlungen der Soldaten und Matrosen im November 1918 rückwirkend zu legitimieren und zu würdigen.[27] Dies geschah jedoch nicht.

Das lag nicht zuletzt daran, dass das aktive Eintreten von Militärangehörigen für politische und soziale Belange bereits im Frühjahr 1919 wiederholt dazu geführt hatte, dass sich ganze Einheiten auf die Seite der demonstrierenden städtischen Zivilbevölkerung schlugen. Bürgerkriegsähnliche Zustände waren vielerorts die Folge. Hatten die Aufstände der Soldaten und Matrosen die Monarchien im Reich zu Fall gebracht und den Sozialdemokraten überall im Land beachtlichen Einfluss beschert, wurden die allerorts gebildeten Soldatenräte schnell zu einem Ärgernis für die neue Regierung in Berlin. Das Pochen auf Mitbestimmung, oft verbunden mit einem gewissen militärischen Druck, machte die Soldatenräte in den Augen der provisorischen Reichsregierung mehr und mehr zu einer potenziellen Gefahr für die eigene Politik.[28] Es lag daher im Interesse der politischen Führung, eine Armee zu schaffen, die sich konsequent aus allen innenpolitischen Angelegenheiten heraushielt und allein dem Willen der Regierung folgte. Dementsprechend hatte man auch keine Einwände dagegen, dass im Zuge der allgemeinen Demobilisierung Sympathisanten der Revolution – seien es nun Mannschaften, Unteroffiziere oder Offiziere – aus dem Dienst entlassen wurden. Dadurch schwächte man einerseits die bestehenden Soldatenräte im Land so nachhaltig, dass diese später leicht aufgehoben werden konnten, andererseits bildete sich aus ausgesuchten Kadern und Freikorpsverbänden eine neue Armee, die auch bei großen Arbeiterunruhen einsetzbar war. Erst später sollte sich zeigen, dass die konservative und mitunter noch stark monarchistisch geprägte neue Reichswehr selbst zu einem Problem für den Fortbestand der Weimarer Republik werden konnte.[29]

III. Heroisierung und Negierung – der wechselvolle Umgang mit der Novemberrevolution in der Reichs- und Kriegsmarine

Karl Wilhelm Wenigers Arbeiten zogen sich bis weit in das Jahr 1934 hin. Am Ende umfasste sein Manuskript rund 500 Seiten. Zum Zeitpunkt der Fertigstellung war jedoch das Interesse an Wenigers Nachforschungen deutlich gesunken. Die Weimarer Republik existierte nicht mehr, und die Erinnerung an die Novemberunruhen von 1918 war in der deutschen Öffentlichkeit schon vielerorts verblasst. In dieser Situation wurde Wenigers Manuskript zu einer störenden Erinnerung an einen scheinbaren Makel in der Geschichte der deutschen Marine. Hinzu kam, dass Weniger trotz seines milden Urteils über Fehler und Versäumnisse von Offizierskameraden auch Kritik am Krisenmanagement verschiedener Admiräle und Dienststellen äußerte. Damit erregte er jedoch heftigen Widerspruch. Vor allem der ehemalige Konteradmiral Hans Küsel, seinerzeit Stabschef der Marinestation in Kiel, erhob heftigen Protest gegen eine geplante Veröffentlichung. Wenigers Darstellung sei „zu einseitig“, diene lediglich dazu, das Verhalten des III. Geschwaders (und damit auch Wenigers eigenes Handeln) zu rechtfertigen und alle Verantwortung für die Ausbreitung des Aufstands auf den früheren Kieler Gouverneur Admiral Wilhelm Souchon (und Küsel selbst) zu laden.[30]

Auch wenn sich Weniger gegen diese Vorwürfe verteidigte und dabei Rückendeckung durch seinen Abteilungsleiter Konteradmiral Kurt Aßmann (1883–1962) erhielt, ordnete Admiral Erich Raeder vermutlich auf einer gemeinsamen Besprechung am 29. Dezember 1934 an, alle Aufzeichnungen über den Matrosenaufstand aus dem geplanten Buchband über die Einsatzgeschichte der Kaiserlichen Marine im Jahr 1918 zu entfernen.[31] Konteradmiral Aßmann erhob gegen diese Entscheidung Protest, doch gelang es auch ihm nicht, die Veröffentlichungen von Wenigers Studien durchzusetzen. Aßmann schrieb später dazu:

„Die freundschaftlichen Beziehungen, die Admiral Raeder, um den Kontakt zwischen der früheren kaiserlichen und der neuen Reichsmarine möglichst eng zu gestalten, mit den jetzt im Ruhestand lebenden Admiralen der Kriegszeit unterhielt, wurden von diesen vielfach dazu benutzt, um in ihrem Sinne die Geschichtsschreibung zu beeinflussen [...] [sic!] In einer Auseinandersetzung, die ich mit [Raeder] darüber hatte, wagte ich in der Hitze des Gefechts die kühne Feststellung: ‚Ich bin überzeugt, daß es Ihnen, Herr Admiral, ganz gleichgültig ist, was wir schreiben. Wir müssen nur so schreiben, daß Sie Ihre Ruhe vor den alten Admiralen haben!‘ [...]“.[32]

Nachdem Admiral Raeder die Veröffentlichung des Manuskripts verhindert hatte, wurde Weniger im Jahr 1935 vollständig von diesem Projekt abgezogen. An seiner Stelle erhielt nun Kapitän zur See Ernst Hintzmann den Auftrag, eine offizielle Darstellung über den Verlauf der Matrosenunruhen von 1918 zu verfassen. Auch Hintzmann war als ehemaliger Chef der Operationsabteilung des Kommandos der Hochseestreitkräfte persönlich in die Ereignisse verwickelt, die er nun ins rechte Licht rücken sollte. Zudem stand er unter einem großen Druck, bekannte sich die Marineführung doch bedingungslos zu Adolf Hitler. Daher lautete die Parole: „Nie mehr November 1918!“[33] Etliche Marineoffiziere, die während des Aufstands noch im Rang zwischen Oberleutnant und Korvettenkapitän gestanden hatten, waren inzwischen in den Admiralsrang aufgestiegen und lehnten die Veröffentlichung eines Abschlussberichts über die Novemberereignisse von 1918 ab. Beide Manuskripte, sowohl das von Weniger als auch das von Hintzmann, wurden nie veröffentlicht; sie fielen während des Zweiten Weltkriegs Bombenangriffen zum Opfer.[34]

Seit 1933 kam es in Deutschland zu einer schrittweisen, aber grundlegenden Neubewertung der Novemberereignisse. Ein erklärtes Ziel war es dabei, die Kriegsmarine aus ihrem Imagetief zu holen. Galten die Matrosen zunächst noch als Täter, wurden sie zunehmend zu Opfern einer kommunistischen und später einer sozialdemokratischen oder jüdischen Verschwörung stilisiert. Zugleich verklärte man einzelne Offiziere der Kaiserlichen Marine. Zwei Kriegsschiffe – die Zerstörer Z 8 „Bruno Heinemann“ und Z 9 „Wolfgang Zenker“ – wurden nach Offizieren benannt, die am 5. November 1918 bei einem Schusswechsel an Bord des Li­nien­schiffs Seiner Majestät Schiff (SMS) „König“ den Tod gefunden hatten. In der Marine­führung hatte sich inzwischen eine veränderte Wahrnehmung der Novemberrevolution etabliert. Selbst Adolf von Trotha, der 1919 noch alle möglichen Schritte zur Ehrenrettung der Marine unternommen hatte, konstatierte 1933 gegenüber dem Leiter des Marinearchivs: „Ich habe den Eindruck, dass auch innerhalb unseres Offizierkorps, oft auch in Veröffentlichungen und mehr oder minder historischen Büchern immer noch, natürlich aus Unkenntnis, etwas leichtfertig der Gedanke ausgesprochen wird, dass die Revolution vom November 18 von der Marine ausgegangen wäre.“[35]

Folgerichtig wurde versucht, alle Publikationen zu unterbinden, die Kritik an der Marineführung enthielten. Ein Beispiel dafür ist die geplante Veröffentlichung des ehemaligen Heeresoffiziers Erich Trowitz im Herbst 1936. Trowitz hatte als Kommandeur eines Infanterie-Ersatzbataillons zunächst an einem vergeblichen Versuch teilgenommen, den Kieler Aufstand am 4. November 1918 im Keim zu ersticken. Später hatte er sich darum bemüht, von Neumünster aus das Vordringen der aufständischen Matrosen nach Hamburg zu verhindern. Obwohl er damit zunächst erfolgreich war, kämpfte er letztendlich auf verlorenem Posten, da die Aufständischen auf anderem Wege nach Hamburg gelangten. Zuletzt sicherte Trowitz mit seinen Leuten die Bahnlinie zwischen Hamburg und Kiel zu einem Zeitpunkt, wo sich beide Städte bereits in der Hand der Aufständischen befanden. Als sich seine eigenen Leute gegen ihn wandten und ebenfalls einen Soldatenrat bildeten, ergriff Trowitz die Flucht. Verbittert sammelte er in späteren Jahren akribisch Material und brachte zu Papier, wie der Aufstand in Schleswig-Holstein aus seiner Sicht verlaufen war.[36]

Zunächst löste er damit kein Missfallen aus. Mehrere Heeresgeneräle befürworteten sogar Trowitz’ Arbeit, der die Hauptschuld für den Aufstand allein bei der Kaiserlichen Marine und ihrer Führung sah.[37] Mit der Neubewertung der Novemberunruhen durch die Nationalsozialisten kam aber auch Trowitz in Konflikt mit der Zensur, wie im Herbst 1936 das Projekt zeigte, in einer Ehemaligenzeitschrift seines Regimentes einen marinekritischen Aufsatz zu den Novemberaufständen zu veröffentlichen. Da mehrere ehemalige Heeresgeneräle in den Fall involviert waren, schaltete sich Reichskriegsminister Werner von Blomberg persönlich ein. Am 17. November 1936 schrieb er an Trowitz: „Eine solche Veröffentlichung kann ich nicht billigen, da sie geeignet ist, anstelle der heute angestrebten vertrauensvollen Einheit der Nation, Gegensätze in der Wehrmacht hervorzurufen.“[38] Der Generalfeldmarschall forderte die sofortige Rücknahme der Publikation und die Vernichtung von Trowitzʼ Arbeiten. Blombergs Schreiben endete mit der Drohung: „Einer Mitteilung bis zum 1. Dezember über die diesbezüglich unternommenen Maßnahmen sehe ich entgegen, da ich es vorläufig vermeiden möchte, durch die Geheime Staatspolizei eine Beschlagnahme der Schrift zu veranlassen.“[39]

Während des Zweiten Weltkriegs scheint es ein wichtiges Anliegen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei gewesen zu sein, die Erinnerung an deutsche Soldaten und Matrosen unter roter Flagge aus der Geschichtsschreibung ein für alle Mal zu verbannen. Stattdessen wurden die Einsätze der Kaiserlichen Marine im Ersten Weltkrieg zunehmend verherrlicht und vor allem gegenüber der Jugend idealisiert. Ein gutes Beispiel dafür sind die Werke von Fritz Otto Busch. Dieser war 1912 in die Marine eingetreten und hatte als Leutnant nicht nur den Ausbruch des Matrosenaufstands in Kiel persönlich miterlebt, sondern war auch dabei, als Konteradmiral Johannes von Karpf in einem letzten Versuch, die Kontrolle auf der Ostsee zurückzuerlangen, einen Verband vermeintlich loyaler Kriegsschiffe versammelt hatte. Das Unternehmen endete in einem Fiasko. Busch selbst war Zeuge, wie der Konteradmiral in einer überhasteten Aktion mehrere Kriegsschiffe, darunter auch Buschs Schiff, den Minenkreuzer SMS „Bremse“, außer Dienst stellen ließ, weil er glaubte, nur so eine Übernahme durch meuternde Matrosen verhindern zu können.[40]

Diese Ereignisse, die damals involvierte Marineoffiziere tief beschämten, sorgten mit dafür, dass Busch alles tat, um den guten Ruf der Kaiserlichen Marine wiederherzustellen. Bereits in der Reichsmarine begann er, die Kriegsleistungen der Schiffe, auf denen er gefahren war, zu glorifizieren, und beteiligte sich an der Schaffung des Mythos rund um die Seeschlacht vor dem Skagerrak. Nach 1933 stieg Busch zu einem der meistgelesenen Propagandaautoren im Bereich Marine auf. Er wurde Hauptschriftleiter der vielbeachteten Zeitschrift Kriegsmarine – Deutschland zur See und blieb bis 1944 auf diesem Posten. 1940 gab er mit dem Propagandaschriftsteller Gerhard Ramlow das Buch „Deutsche Seekriegsgeschichte“ heraus. Dort wird der Aufstand von 1918 lediglich mit einem Satz kurz erwähnt, um gleich danach die „Verteidigung“ der Reichskriegsflagge durch Offiziere am 5. November 1918 auf SMS „König“ zu rühmen.[41] Nur an einer späteren Stelle ging Busch noch einmal kurz auf die Novemberereignisse ein, indem er schrieb: „Trotz ungeheurer Leistungen von Heer und Kriegsmarine war der Weltkrieg verloren, weil wir, den Dolch des Verrats im Rücken, die Waffen aus der Hand legten und glaubten, daß im Ringen der Völker Nachsicht und Milde walten könnten.“[42]

Die ehemaligen Aufständischen des Jahrs 1918 taten dagegen später ihr Möglichstes, um ihre Teilnahme am Aufstand zu verschleiern. Mit der Dolchstoßlegende machte in der Öffentlichkeit auch das böse Wort „Novemberverbrecher“ die Runde, und es wurde zunehmend gefährlich, als ehemaliger Aufständischer bekannt zu sein. Der frühere Matrose Arno Trefflich, der sich als Unterführer aktiv an der Matrosenrevolte in Kiel beteiligt hatte, vermerkte in seinen Erinnerungen: „Später vom Soldatenrat entlassen, kehrte ich in meine Heimat [Thüringen] zurück, wo ich nicht bleiben konnte. Denn von den Bauern wurde ich als roter Matrosen [sic!] geächtet.“[43] Die meisten meuternden Matrosen und Soldaten vernichteten alle privaten Aufzeichnungen oder Beweisstücke, die sie mit den Unruhen persönlich in Verbindung bringen konnten. In der Familie wurde das Thema totgeschwiegen. Aber trotzdem kam es vor, dass ehemalige Soldaten, vor allem aber Matrosen, von Außenstehenden als frühere Meuterer denunziert wurden. Eine unmittelbar auf den Aufstand folgende Amnestie konnte nicht verhindern, dass öffentliche Anschuldigungen mit einer gesellschaftlichen Ächtung Hand in Hand gingen. Beispielhaft ist der Fall des ehemaligen Obermaats Hermann Faller, der im Herbst 1933 bei einer Behörde im Kreis Stormarn angestellt war und fristlos entlassen wurde, als ihn ein anonymer Denunziant bezichtigte, am 5. November 1918 bei einem Angriff auf Offiziere an Bord der SMS „König“ dabei gewesen zu sein. Faller hatte als Maschinist auf dem U-Boot UC-76 gedient und nie einen Fuß auf SMS „König“ gesetzt, doch glaubte man ihm dies zunächst nicht. Es folgte ein monatelanger Rechtsstreit, bis Faller und seine Anwälte zweifelsfrei nachweisen konnten, dass das U-Boot bereits Tage vor der Schießerei Kiel verlassen hatte.[44]

Die Anführer der Aufständischen hatten es noch weitaus schwerer als Faller. Viele ehemalige Unterführer und Soldatenratsmitglieder wurden in den Jahren zwischen 1933 und 1945 polizeilich überwacht, ins Exil gezwungen oder mitunter auch in Konzentrationslager verschleppt. Karl Artelt, zeitweise Vorsitzender des Kieler Soldatenrats, wurde ständig von der Gestapo bespitzelt und während des Kriegs mehrmals verhaftet.[45] Lothar Popp, im November 1918 der wichtigste Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Kiel und später ebenfalls Soldatenratsvorsitzender, floh über die Tschechoslowakei und Frankreich in die USA.[46] Fritz Steinhoff, seinerzeit Torpedoheizer und Soldatenratsangehöriger, später Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, gehörte zu den Aufständischen, die nach 1933 in Konzentrationslagern eingesperrt waren.[47] Ernst Henkel, ebenfalls ehemaliger Matrose und aktiv beim Aufstand von 1918, verstarb am 12. Juni 1944 an den Folgen von Misshandlungen, die er während seiner Haft in verschiedenen Konzentrationslagern erfahren hatte.[48] Augustin Sandtner, ein aufständischer Matrose, der 1918 von Kiel nach München geschickt worden war und dem dortigen Soldatenrat angehört hatte, wurde bereits 1933 verhaftet, später in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert und dort am 11. Oktober 1944 erschossen.[49] Eine umfassende Liste ehemaliger Matrosen und Soldaten, die am Aufstand von 1918 teilgenommen hatten, in Soldatenräten aktiv gewesen waren und nach 1933 von den Nationalsozialisten ermordet wurden, ist nie aufgestellt worden – aber es gibt Indizien dafür, dass eine solche Liste ziemlich lang wäre.

Nach der Rückgabe der Militärakten durch die Alliierten in den 1950er Jahren erhielten Wissenschaft und Öffentlichkeit grundsätzlich einen besseren Zugang zu den Quellentexten rund um Matrosenaufstand und Novemberrevolution.[50] Doch nun traten andere Schwierigkeiten auf. Ein großes Problem war, dass fast alle Quellen zur Beteiligung des Heers an den Novemberunruhen im April 1945 ein Raub der Flammen geworden waren. War es bereits in der Weimarer Republik gängige Praxis gewesen, der Marine die Schuld am Aufstand in die Schuhe zu schieben und die Revolte auf den Norden Deutschlands zu begrenzen, fehlte es nun, ungeachtet des neu gewonnenen Zugangs zu den Militärakten, an Dokumenten, um das Gegenteil zu beweisen. Zwar waren nicht alle Heeresquellen vernichtet, aber die noch vorhandenen Fragmente mussten seitdem erst durch aufwendige und überaus langwierige Recherchen ergänzt werden – Recherchen, die durch die Teilung Deutschlands (und der deutschen Archive) zusätzlich erschwert wurden.

IV. Exkurs: Politische Instrumentalisierung ohne wissenschaftliche Aufarbeitung. Die Novemberrevolution und die DDR

Es war vor allem die spezifische politische Deutung von Matrosenaufstand und Novemberrevolution in der DDR, die dazu führte, dass diese Themen in der Bundesrepublik entweder vernachlässigt oder ebenfalls politisiert wurden.[51] Aus heutiger Sicht kann man sagen, dass es – anders als in Westdeutschland – in der DDR bei der militärgeschichtlichen Würdigung der Novemberereignisse zu einem klaren Bruch mit früheren Sichtweisen kam. Im Zuge dieser Neubewertung stufte man in der DDR die Novemberrevolution seitens der Nationalen Volksarmee – ganz im Gegensatz zur Bundeswehr – ausdrücklich als Traditionsgut ein, genauso wie die sogenannten Befreiungskriege von 1813/14 (jahrzehntelang die einzige Gemeinsamkeit mit der Bundeswehr), die Revolution von 1848 oder den Kampf der Interbrigadisten im Spanischen Bürgerkrieg zwischen 1936 und 1938.[52] Der Aufstand der Matrosen und Soldaten von 1918 wurde als traditionswürdiges Ereignis anerkannt, eine gänzlich neue Form der Erinnerungskultur entstand. Ehemalige aufständische Soldaten und Matrosen wurden mitunter erstmals identifiziert, in eine offizielle Liste „vorbildlicher Klassenkämpfer“ aufgenommen und regelmäßig zu bestimmten Gedenktagen geehrt. Ihre Namen wurden auf Straßen und Plätzen verewigt oder zur Benennung von Heeresverbänden und Marineschiffen übernommen.[53]

Diese neue Form der Erinnerungskultur hatte mit Blick auf die Novemberereignisse jedoch deutliche Schwachpunkte: So stand die gesamte ihr zugrunde liegende wissenschaftliche Aufarbeitung auf tönernen Füßen. Da eine umfassende wissenschaftliche Erforschung aufgrund fehlenden Quellenmaterials unmöglich war, beschränkte man sich in der DDR auf eine oberflächliche Rekonstruktion, die zumeist auf Zeitungs- und Augenzeugenberichten beruhte. Diese Augenzeugenberichte wurden in der Masse erst mit einem zeitlichen Abstand von 40 bis 50 Jahren gesammelt und beschränkten sich nun wiederum lediglich auf einfache Soldaten und Unteroffiziere. Hinzu kam, dass die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) die volle Deutungshoheit über das vorhandene Quellenmaterial beanspruchte und damit begann, die Forschungsergebnisse rund um die Novemberrevolution zu manipulieren.[54] So fand beispielsweise auch in der DDR nur in den seltensten Fällen eine Identifizierung von Offizieren statt, die sich während der Novemberrevolution auf die Seite der Aufständischen gestellt hatten. Der Matrosenaufstand wurde im Rahmen marxistischer und leninistischer Doktrin zunehmend zu einem reinen Klassenkampf verklärt und seitens der SED-Führung instrumentalisiert. Bei den entsprechenden Veröffentlichungen handelte es sich vielfach um Festschriften, die im Zuge der Jubiläen von 1958, 1968 und 1978 – oft inhaltlich unverändert – erschienen.[55] Fast allen Schriften ist dabei gemeinsam, dass sie überaus nachlässig recherchiert und so stark ideologisch geprägt waren, dass teilweise völlig verzerrte Bilder entstanden. Der Aufstand der Matrosen wurde zu einem „Kampf des unterdrückten Proletariats gegen den imperialistischen Klassenfeind“, zu einem „Kampf für Friede und Brot, für Freiheit und Macht des Volkes gegen die unheilvolle Macht der Industriemillionäre, der Großagrarier und kriegswütigen Militärs“.[56]

Erst in den späten 1980er Jahren kam es zu einer immer deutlicheren Veränderung in der Darstellung der militärischen Aufstände von 1918. Beispielhaft sei an dieser Stelle Robert Rosentreter genannt.[57] Obwohl er als Fregattenkapitän der Volksmarine keinen unmittelbaren Zugang zu den Marineakten im Bundesarchiv-Militärarchiv in Freiburg hatte, griff er spätestens ab 1988 in größerem Umfang auf westdeutsche Forschungsergebnisse zurück. Seine Arbeit stellt gerade in Bezug auf den Kieler Matrosenaufstand im Vergleich zu früheren ostdeutschen Publikationen einen Meilenstein dar, krankt aber vor allem daran, dass noch immer ebenso großzügig wie unkritisch auf mitunter stark ideologisch verzerrte Zeitzeugenberichte des Instituts für Marxismus-Leninismus zurückgegriffen wurde. Dennoch zeichnete sich in den letzten Jahren der DDR in der militärgeschichtlichen Forschung eine neue Entwicklung ab.

V. Der Umgang mit der Novemberrevolution von 1918 in den militärhistorischen Forschungseinrichtungen der Bundeswehr

In der jungen Bundesmarine bildeten wie in allen Teilstreitkräften der Bundeswehr zunächst ehemalige Offiziere der Wehrmacht die Führungsspitze. Daher verwundert es nicht, dass erhebliche Vorbehalte gegen den Kieler Matrosenaufstand und die Novemberrevolution von 1918 den Zweiten Weltkrieg überdauert hatten. Diese Vorbehalte waren dem verzerrten Geschichtsverständnis aus den Jahren zwischen 1919 und 1945 geschuldet oder beruhten noch auf persönlichen Erfahrungen. Zwar äußerte man in der Bundeswehr zunehmend ein gewisses Verständnis für die Aufständischen von 1918, blieb jedoch insgesamt dabei, diese Erhebung als Meuterei zu klassifizieren. Eine Meuterei konnte jedoch grundsätzlich nicht traditionswürdig sein. Diese Haltung erscheint rückblickend recht paradox, wenn man bedenkt, dass – wenngleich auch zunächst unter großen Vorbehalten – der militärische Widerstand gegen den Nationalsozialismus als traditionswürdig eingestuft wurde, obwohl dieser Widerstand objektiv betrachtet nach dem damaligen Verständnis auch nichts anderes war als eine Meuterei.

Diese paradoxe Grundhaltung hat sich vielerorts bis heute erhalten. Die Frage nach einer grundlegenden wissenschaftlichen Aufarbeitung des Kieler Matrosenaufstands und der Novemberrevolution durch die akademische Militärgeschichte wurde in den 1960er und 1970er Jahren mitunter rege und kontrovers diskutiert, aber immer wieder verworfen.[58] Zwar existierte bereits 1958 im Militärgeschichtlichen Forschungsamt eine eigenständige Abteilung V (Marine- und Seekriegsgeschichte), doch konzentrierte sich diese fast vollständig auf den Zweiten Weltkrieg.

Auch im Bundesarchiv-Militärarchiv ging man ziemlich stiefmütterlich mit dem Themenfeld Matrosenaufstand und Revolution um. Erich Murawski, der erste Archivchef, hatte im Zweiten Weltkrieg als Referatsleiter in der Amtsgruppe für Wehrmachtspropaganda im Oberkommando der Wehrmacht gedient, wo man nicht sonderlich gut auf den Kieler Matrosenaufstand und die Novemberrevolution zu sprechen gewesen war.[59] Als Leiter der Abteilung Militärarchiv des Bundesarchivs zeigte er wenig Interesse an einer Studie zum Kieler Matrosenaufstand. Der einleitend beschriebene Vorstoß von Murawskis Nachfolger Teske ist schon vor diesem Hintergrund bemerkenswert. Allerdings bleibt die Frage, wie gründlich und unvoreingenommen Teske bei einer wissenschaftlichen Aufarbeitung der Novemberereignisse gewesen wäre, hatte er doch selbst seit 1921 der Reichswehr angehört und es in der Wehrmacht bis zum Oberst im Generalstab gebracht.[60] Als Militärschriftsteller und Begründer der im Rah­­men der „Scharnhorst Buchkameradschaft“ erschienenen Reihe „Die Wehrmacht im Kampf“ zeigte er sich nach 1945 jedenfalls als Anhänger einer akteurszentrierten Operationsgeschichte, die politisch heikle Themen weitgehend aussparte und im Zeichen der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ stand.[61]

Was die Bundesmarine anging, so hätte die Auswahl ihrer Gründerväter mit Blick auf Matrosenaufstand und Novemberrevolution kaum unglücklicher verlaufen können. Gerhard Groß schrieb später über den ersten Inspekteur der Marine, Vizeadmiral Ruge:

„Wie seinen Vorgängern ging es Ruge nicht um eine kritische wissenschaftliche Aufarbeitung, sondern um eine im national-konservativen Sinne applikatorische und dem Ansehen der Marine fördernde Darstellung der Geschichte der Kaiserlichen Marine, denn mit der Gründung der Bundesmarine 1956 hatte die Marineführung im Tirpitzschen Sinne die bewußte Pflege des historischen Erbes deutscher Marinen zur Legitimierung der eigenen Position innerhalb der Gesellschaft und der Streitkräfte übernommen.“[62]

Sieht man sich die Vita der ersten Inspekteure der Bundesmarine an, wird ihre negative Haltung zu Matrosenaufstand und Novemberrevolution verständlicher. Friedrich Ruge, ein Angehöriger der Crew von 1914, diente zum Zeitpunkt des Kieler Matrosenaufstands als Leutnant und Wachoffizier auf einem Torpedoboot und war so von den Wirren jener Zeit direkt betroffen. Während seiner Dienstzeit als Inspekteur, aber auch in den Jahren danach, bemühte sich Ruge nicht um eine Aufarbeitung der Matrosenunruhen von 1917 und 1918, sondern setzte vielmehr einiges daran, um die Reichsmarine in einem möglichst hellen Licht erscheinen zu lassen. Dabei unterstützte er unter anderem Siegfried Sorge bei seiner Arbeit. Sorge war Angehöriger der Crew von 1916 und nach dem Krieg Kompanieführer in der Marinebrigade von Loewenfeld gewesen, die als antirepublikanisch, antidemokratisch und antisemitisch galt. Während des Zweiten Weltkriegs stieg Sorge zum Konteradmiral auf. In der Kriegsmarine wurde er vor allem durch sein Buch „Der Marineoffizier als Führer und Erzieher“ bekannt.[63] Ruge förderte die mitunter stark idealisierenden Darstellungen der Reichsmarine durch Sorge tatkräftig. In einem Vorwort zu einer längeren Abhandlung Sorges schrieb Ruge 1972: „Besonders deutlich wird, wie man in der Reichsmarine aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hatte und um eine vorbildliche ‚Innere Führung‘ mit Erfolg bemüht war. [...] Dem Politiker und dem Soldaten von heute hat diese Darstellung viel Stoff zum Nachdenken zu bieten.“[64] Ruge selbst gab noch 1978 vor allem der Regierung des Prinzen Max von Baden die Schuld am damaligen Aufstand: „Der tiefste Grund für Meuterei und Revolution lag zweifellos darin, daß eine schwache Regierung eine überbeanspruchte Nation weder politisch noch menschlich führte.“[65]

1958 kam es zu einem Vorfall, der die Marine mit ihrem bis dato ungeliebten Erbe aus dem Jahr 1918 konfrontierte. Die evangelischen Militärpfarrer des Wehrbereichs I hatten mit Unterstützung der evangelischen Akademie in Hamburg eine evangelische Rüstzeit für Bundeswehroffiziere in Glücksburg organisiert. Zu diesem Anlass wurde der Sicherheitsreferent der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und spätere Brigadegeneral Friedrich Beermann[66] eingeladen, um einen Vortrag zum Thema „Tradition der Bundesmarine“ zu halten. Der frühere Oberstleutnant der Wehrmacht hatte längere Zeit für das Amt Blank gearbeitet und unter anderem den Begriff Staatsbürger in Uniform mitgeprägt. Vor den anwesenden Offizieren und Offizieranwärtern von Heer, Marine und Luftwaffe hielt er eine Rede, in der er die Traditionswürdigkeit der 1917 hingerichteten Matrosen Max Reichpietsch und Albin Köbis hervorhob.[67] In einer anschließenden Diskussion verteidigte er seinen Standpunkt und betonte, dass die beiden Matrosen für ihn wesentlich bedeutender seien als die beiden Großadmiräle Dönitz und Raeder. Daraufhin verließen die anwesenden Marineoffiziere aus Protest den Saal.

Ihr Wortführer war der Fregattenkapitän und Ritterkreuzträger Otto Schuhart. Er erklärte in der kurzen, aber hitzigen Debatte, für ihn als ehemaligen Offizier der Reichsmarine komme eine Ehrung von meuternden Matrosen nicht in Frage. Schuhart war 1956 erster Leiter der Marineakademie der Bundesmarine, verantwortete später die Prüfverfahren für Offizieranwärter der Marine und war Kommandeur der Marinestützpunkte in Kiel und Flensburg-Mürwik. Damit hatte er einen wesentlichen Einfluss auf die Auswahl und Ausbildung der ersten Offizieranwärter der Bundesmarine.

Der Vorfall in Glücksburg erregte großes Aufsehen in der Öffentlichkeit und hatte zur Folge, dass Staatssekretär Josef Rust, Generalinspekteur Adolf Heusinger und Vizeadmiral Ruge eine gemeinsame Erklärung aufsetzten, in der sie betonten, dass die Matrosen Reichpietsch und Köbis niemals Vorbilder der Bundesmarine sein könnten. Zugleich veröffentlichte das Verteidigungsministerium aber auch eine Erklärung, in der es hieß: „Die einstigen Großadmiräle Dönitz und Raeder sind nicht die Vorbilder der Bundesmarine.“[68] Immerhin hatten die Ereignisse in Glücksburg zur Folge, dass Vizeadmiral Ruge das Traditionsverständnis der Marine, nach einem ersten Vorstoß 1957,[69] nun erneut auf die Tagesordnung setzen musste. In einem Rundschreiben an alle Marineverbände forderte er am 5. Januar 1959 Vorschläge und Stellungnahmen der Kommandeure zum Thema Marine und Tradition und ermutigte alle Marineangehörigen, sich als Staatsbürger in Uniform aktiv am demokratischen Meinungsbildungsprozess zu beteiligen.[70] Seine eigene Haltung zu den Marineunruhen in den Jahren 1917/18 änderte Ruge nicht. Auch zog der Aufruf vom Januar 1959 keine nachhaltigen Veränderungen nach sich. Es gelang nicht, ein klares Traditionsverständnis für die Bundesmarine zu formulieren. Friedrich Beermann seinerseits bekam kaum Möglichkeiten, sich für eine Neubewertung der Meutereien von 1917/18 stark zu machen oder diese gar in die Erinnerungskultur der Bundeswehr einzubringen. Als „SPD-General“ abgestempelt, blieb er weitgehend isoliert.[71]

Als Vizeadmiral Ruge im Sommer 1961 seinen Schreibtisch räumte, brachte dies keine Verbesserung der Situation. Im Gegenteil: Mit Vizeadmiral Karl-Adolf Zenker erhielt die Bundesmarine einen noch weitaus konservativeren Inspekteur, als es Ruge zuvor gewesen war. Zenker war bereits 1955 als Kapitän zur See in die Bundesmarine eingetreten. Schon knapp drei Wochen nach seinem Diensteintritt sah er sich in einen Skandal verwickelt, als er am 16. Januar 1956 vor neuen Angehörigen der Bundesmarine eine offizielle Rede hielt, die er mit der Bemerkung begann, er habe die Zustimmung von Großadmiral Raeder eingeholt, bevor er die neue Uniform angezogen habe.[72] Im weiteren Verlauf seines Vortrags führte er die Tradition der Bundesmarine ungebrochen bis in das Jahr 1848 zurück und trat dabei deutlich für die Admiräle Raeder und Dönitz ein.[73] Diese sogenannte Zenker-Rede führte in der Bundesrepublik zu scharfer Kritik, die vor allem den damaligen Verteidigungsminister Theodor Blank (CDU) traf. Zenker hatte jedoch keine Konsequenzen zu fürchten, machte in den folgenden Jahren rasch Karriere und folgte Vizeadmiral Ruge im Amt des Marineinspekteurs nach.

Zenker wurde 1907 geboren und kannte den Ersten Weltkrieg vor allem aus den Erzählungen seines Vaters, des Admirals Hans Zenker. Dieser hatte während des Matrosenaufstands das Kommando über den Sicherungsverband Nordsee und stieg in der Reichsmarine zwischen 1924 und 1928 zum Chef der Marineleitung auf. Als der Admiral 1932 starb, bekam sein Sohn den Auftrag, die Asche des Vaters dort der See zu übergeben, wo 1916 die Skagerrak-Schlacht stattgefunden hatte.

Karl-Adolf Zenker hatte eine Geisteshaltung verinnerlicht, die sich bei vielen aktiven Marineoffizieren fand – vor allem bei jenen, die bereits im Zweiten Weltkrieg ein Kommando innegehabt hatten. Dies zeigte sich auch bei der Auseinandersetzung mit der Rolle der Marine in beiden Weltkriegen. So ließ Oberst Dr. Hans Meier-Welcker, der Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, seinen Abteilungsleitern durchaus einen gewissen Spielraum. Jedoch machten die für Marinefragen zuständigen Sektionschefs im Forschungsamt davon keinerlei Gebrauch. Vor allem Kapitän zur See Gerhard Bidlingmaier war der beste Verbündete der Inspekteure Ruge und Zenker. Der damalige Abteilungsleiter Marine kam aus der Reichsmarine (Crew 1925) und hatte nur wenig für die Novemberrevolution übrig. Als es Meier-Welcker ablehnte, den unveröffentlichten siebten Band („Vom Sommer 1917 bis zum Kriegsende 1918“) aus der zwischen 1920 und 1937 erschienenen Reihe „Der Krieg zur See 1914–1918 unkommentiert herauszugeben, war Bidlingmaier dezidiert anderer Meinung, und er stand damit nicht allein da.

Eine Gruppe konservativer Historiker, allen voran Walther Hubatsch,[74] zeichnete ein überaus positives Bild der Kaiserlichen Marine mit Großadmiral Alfred von Tirpitz als Schlüsselfigur. Ein Ziel dürfte gewesen sein, die Kaiserliche Marine für die Bundesmarine zu einer traditionswürdigen Vorgängerin zu machen. Vizeadmiral Zenker unterstützte als Marineinspekteur derartige Ideen,[75] die wenig Raum dafür ließen, die massenhafte Erhebung von Angehörigen der Kaiserlichen Marine wissenschaftlich aufzuarbeiten.

Als der siebte Band der Reihe „Der Krieg zur See 1914–1918“ schließlich 1965 ohne ein Kapitel zum Kieler Matrosenaufstand und zur Revolution von 1918 veröffentlicht wurde, gab es nur wenig Kritik. Gerhard Groß konnte zwei Zeitschriften ausfindig machen, in denen das Buch besprochen wurde: in den Marine-Offizier-Hilfe-Nachrichten und in der Truppenpraxis.[76] Unter den zahlreichen Traditionalisten, die das Werk ausdrücklich lobten, tat sich vor allem Alfred Schulze-Hinrichs hervor. Dieser hatte bereits in der Reichsmarine als Offizier gedient, wurde im Zweiten Weltkrieg mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet und fungierte zwischen 1943 und 1945 im Rang eines Kapitäns zur See als Leiter der Marinekriegsakademie, bevor er 1957 in die Bundesmarine eintrat. In einer kurzen Buchbesprechung lobte er 1968 nicht nur das Werk in seiner Gesamtheit ausdrücklich, sondern beschied ihm auch einen hohen Wert für die Offizierausbildung in der Bundesmarine.[77] Es ist nachvollziehbar, dass Schulze-Hinrichs als altgedienter Marineoffizier das Kapitel über Matrosenaufstand und Revolution nicht sonderlich vermisste, doch wie stand es mit der Meinung der jüngeren Generation? Ein Indiz dafür ist ein Leserbrief des späteren Amtschefs des Militärgeschichtlichen Forschungsamts Werner Rahn. Der Kapitänleutnant fand für Schulze-Hinrichsʼ Rezension kritische Worte: „Wer sich als junger Offizier in diesem Werk über die innere Situation der Hochseeflotte, über die Meuterei 1917 und die Matrosenrevolte 1918 informieren will, muss betrübt feststellen, dass Auskünfte darüber entweder spärlich und einseitig sind oder ganz fehlen.“[78]

Als Militärhistoriker leistete Rahn in den 1980er und 1990er Jahren einen großen Beitrag, nicht nur die Geschichte der Kaiserlichen Marine, sondern auch die Geschichte der Reichsmarine und der Kriegsmarine zu erforschen. Die Geschichte der Matrosenaufstände und der Novemberrevolution blieb freilich trotz allem ein Stiefkind der westdeutschen Militärgeschichte. Es gab lediglich kleinere Versuche, den Kieler Matrosenaufstand und die Novemberrevolution von 1918 aufzuarbeiten. Dennoch schrieb Wilhelm Deist vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt 1966 in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte: „Über den äußeren Verlauf der Meuterei von den ersten Befehlsverweigerungen am 29. Oktober auf der in und vor Wilhelmshaven versammelten Flotte bis zur Überwältigung des Reichskriegshafens Kiel durch die Mannschaften des III. Geschwaders am 4. November besteht weitgehend Klarheit.“[79]

Rückblickend hat dieser Satz schon fast symbolischen Charakter, folgte Deist doch hier bereits einer Legende aus den Jahren der Weimarer Republik: Für den Aufstand in Kiel sei in der Marine nur ein kleiner Personenkreis verantwortlich zu machen. In Wahrheit waren die Mannschaften des III. Geschwaders jedoch am Umsturz in Kiel kaum beteiligt. Diverse zeitgenössische Meldungen belegen glaubhaft, dass bereits beim ersten Ausbruch offener Gewalt am 3. November 1918 unter den circa 5.000 rebellierenden Matrosen maximal 50 zum III. Geschwader gehörten. Als die Stadt am Nachmittag des 4. November unter die Kontrolle der Matrosen fiel, befand sich das III. Geschwader bereits auf hoher See.[80]

1977 gab das Militärgeschichtliche Forschungsamt den vielbeachteten Abschnitt VIII des „Handbuchs zur deutschen Militärgeschichte 1648–1939“ heraus, und erstmals nahm das Thema Matrosenaufstand in der Militärgeschichtsschreibung breiteren Raum ein. Jost Dülffer widmete in seinem Kapitel „Reichs- und Kriegsmarine 1918–1939“ den Ereignissen des Novembers 1918 und den daraus erwachsenen Folgen immerhin neun Seiten.[81] Obwohl Dülffer versuchte, die Ereignisse zu beschreiben und zugleich Ursachenforschung zu betreiben, wurde er dem Gegenstand nur teilweise gerecht. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich Dülffer lediglich auf drei Schauplätze des Aufstands konzentrierte – Wilhelmshaven, Kiel, Berlin – und dabei weder das wahre Ausmaß des Aufstands noch dessen Bedeutung angemessen beurteilte. Da er sich fast ausschließlich auf die spärliche Forschungsliteratur stützte, spiegelten seine Ausführungen auch deren offensichtliche Schwächen und Leerstellen.

In den 1980er Jahren kam es im Militärgeschichtlichen Forschungsamt zu einem langsamen Umdenken und zu einer Neubewertung der Novemberereignisse. Nun erkannte man dort die Notwendigkeit, sich mit diesem lange vernachlässigten Thema auseinanderzusetzen. Mit Ernst-Heinrich Schmidt versuchte sich 1981 ein führender Militärhistoriker an einer ersten umfangreichen Aufarbeitung der Novemberunruhen, die sich direkt auf Archivquellen stützte.[82] Der Leiter des Wehrgeschichtlichen Museums in Rastatt konnte dazu bereits auf Dirk Dähnhardts[83] und Ulrich Kluges[84] umfassende Arbeiten über die Ereignisse in Kiel und die Verbreitung der Revolution zurückgreifen. Diese Studien bilden bis heute das Fundament für die meisten Beiträge zur Novemberrevolution, sind aber in vielen Detailfragen inzwischen veraltet und umstritten. Bei der Lektüre von Schmidts Buch zeigt sich rasch, dass dieser weder in irgendeinem Bezug zur Marinegeschichtsschreibung stand, noch die Bedeutung der Ostsee bei der Verbreitung des Aufstands erkannte. Schmidt leistete Pionierarbeit, als er die verstreuten Quellen aus Heeresprovenienz zusammentrug und erstmals sowohl die Dimension des Kieler Matrosenaufstands als auch die Ausbreitung der Revolte nachzeichnete. Aber auch er übersah bestimmte Marinestandorte an der Küste und blendete die Rolle weitgehend aus, die Einheiten auf See und Marinefliegerverbände bei der Verbreitung des Aufstands spielten. Seine Schilderungen der Ereignisse auf der Ostsee und in der dortigen Küstenregion beschränken sich im Grunde nur auf wenige Sätze. Zudem ließ sich Schmidt von irreführenden Narrativen beeinflussen, die sich herausbilden und halten konnten, weil die akademische Geschichtsschreibung den Aufstand so lange hatte im Abseits stehen lassen.[85]

Nach Schmidts Arbeit wurde es wieder ruhig um den Kieler Matrosenaufstand und um die zentrale Rolle des Militärs in der Novemberrevolution. Aber wenn das Thema auf die Tagesordnung kam, blieben Konflikte und Deutungskämpfe nicht aus, wie sich bei Wolfram Wettes Biografie über Gustav Noske zeigte. Wette, selbst ehemaliger Offizier, arbeitete von 1971 bis 1995 als Historiker am Militärgeschichtlichen Forschungsamt. Als er 1986 seine Studie über den sozialdemokratischen Reichswehrminister fertiggestellt hatte, erklärte der Beirat unter dem Vorsitz von General a.D. Johann Adolf Graf von Kielmansegg, das Werk sei nicht druckreif. Wette musste sich sagen lassen, er übe die gleiche Art von Kritik an Noske wie seinerzeit die Kommunisten.[86]

Andere Werke, die im direkten Auftrag oder im Umfeld des Militärgeschichtlichen Forschungsamts entstanden, thematisierten auch die Marine- und Seekriegsgeschichte, setzten zeitlich jedoch entweder deutlich vor oder erst nach dem Kieler Matrosenaufstand ein. 1983 gaben das Deutsche Marine Institut und die Deutsche Marine-Akademie ein Buch mit dem Titel „Die Deutsche Marine. Historisches Selbstverständnis und Standortbestimmung“ heraus.[87] Wer da­mals in Marine und Marinegeschichtsschreibung Rang und Namen hatte, war aufgefordert worden, einen Beitrag beizusteuern. Tatsächlich fand auch der Kieler Matrosenaufstand seinen Weg in diesen Sammelband. Werner Rahn schilderte in einem kurzen Abriss den Verlauf der Ereignisse in Kiel und wies vor allem kritisch auf Führungsprobleme in der Kaiserlichen Marine hin, konnte seine Ausführungen jedoch nicht vertiefen. Die eigentliche Bedeutung des Aufstands für die Marinegeschichte zeigte er nicht auf.[88]

2006 veröffentlichte das Militärgeschichtliche Forschungsamt ein über 730 Seiten umfassendes Werk mit dem Titel „Deutsche Marinen im Wandel“,[89] das keinen Beitrag zum Kieler Matrosenaufstand oder zur Novemberrevolution enthält. Im selben Jahr erschien eine neue, diesmal kritisch kommentierte Version des siebten Bands der Reihe „Der Krieg zur See 1914–1918“. Als Herausgeber fungierte mit Gerhard Groß ein Militärhistoriker des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, der bereits im Vorfeld wichtige Forschungsarbeiten zur Marinegeschichte geleistet hatte. Groß relativierte und widerlegte teilweise die Legenden um den geplanten Flottenvorstoß, der die Unruhen im Herbst 1918 in Wilhelmshaven ausgelöst und damit den Hintergrund für den späteren Aufstand in Kiel geliefert hatte.[90] Er kritisierte zwar die mangelhafte wissenschaftliche Aufarbeitung, ohne aber selbst weiter tätig zu werden. Gleiches gilt für den damaligen Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamts, Oberst Dr. Hans Ehlert, der zwar den eigentümlichen Umgang der früheren deutschen Marinen mit ihrer eigenen Geschichte konstatierte, ohne aber Konsequenzen aus dieser Einsicht zu ziehen. Noch im Frühjahr 2018 nahmen führende Militärhistoriker des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, in dem das Militärgeschichtliche Forschungsamt aufgegangen war, zum Thema Traditionsverständnis Stellung. Dabei betonte der wissenschaftliche Leiter Michael Epkenhans, die preußischen Reformer und ihre Ideen seien auch weiterhin traditionsstiftend für die Bundeswehr, „selbst wenn sie nicht in allem unseren heutigen Vorstellungen von Demokratie gerecht werden“.[91] Ein Hinweis auf den Kieler Matrosenaufstand und die Revolution von 1918 fehlt.

VI. Derzeitige Situation und Ausblick

Bis heute liegt keine Monografie über die Militärrevolten des Jahrs 1918 vor, die gegenwärtigen wissenschaftlichen Standards genügt. Autoren wie Klaus Franken oder Nicolas Wolz beleuchteten zwar die Hintergründe der Krise, in der sich die Kaiserliche Marine bei Kriegsende befand, thematisierten den Kieler Matrosenaufstand und die Novemberrevolution jedoch nur am Rande.[92] Zunehmend verlegt sich die Historiografie auf den Bereich der Rezeptionsgeschichte – ungeachtet des Umstands, dass der Verlauf der Ereignisse in weiten Regionen Deutschlands noch unaufgearbeitet ist, und trotz des Wissens, dass ein Großteil früherer Veröffentlichungen zu diesem Themenkomplex auf einer schwachen Quellenbasis ruht. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Es geht hier nicht darum, dem Genre der Rezeptionsgeschichte die Existenzberechtigung abzusprechen.[93] Allerdings sei an dieser Stelle die Frage erlaubt, ob man sich intensiv der Rezeptionsgeschichte widmen kann, wenn der Verlauf der Ereignisse nicht eindeutig geklärt ist und man sich auf Werke stützt, deren Quellengrundlage sich bei eingehender Prüfung als fehlerhaft herausstellt?

Folgt man den Unruhen von Wilhelmshaven nach Kiel und versucht, ihren Weg von dort aus weiterzugehen, ergeben sich bereits bei einer Rekonstruktion der Ereignisse in Kiel noch viele offene Fragen. Dies liegt vor allem daran, dass die Masse der heute noch verhältnismäßig schnell zugänglichen Berichte nicht von den Hauptakteuren, also einfachen Matrosen und Soldaten oder Unteroffizieren, stammt; vieles wurde zudem erst mit großem zeitlichem Abstand zu Papier gebracht. Verlässt man dann erst einmal Kiel, werden die Fragen zur Verbreitung des Aufstands, zum Verlauf der Meutereien in den umliegenden Garnisonen und zu den Gegenmaßnahmen des alten Regimes rasch immer zahlreicher und zeigen Forschungslücken ebenso auf wie Fehleinschätzungen. Sehr rasch führen eingehendere Recherchen aber auch zu neuem Quellenmaterial, das verschiedenste Ereignisse in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt. Der Aufstand von 1918 ist in seinem Verlauf so einzigartig, dass es nicht der Anspruch der militärgeschichtlichen Forschung sein kann, als Ergebnis die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 zu konstatieren. Der Weg dorthin ist im Gegenteil ein Thema eigenen Rechts.

Vergleicht man beispielsweise den von Markus Schmidgall mühevoll rekonstruierten Ausbruch und Verlauf der Novemberaufstände im badischen Militär mit der umfangreichen Arbeit von Peter Kuckuk über die zeitgleichen Ereignisse in Bremen, zeigen sich Unterschiede, die eine Verallgemeinerung kaum zulassen.[94] Die Arbeiten von Schmidgall und Kuckuk sind ermutigende Beispiele für eine Rekonstruktion der Novemberereignisse von 1918 in Deutschland, die inzwischen zumindest auf regionaler Ebene stattfindet. Schmidgall hat zudem mit dem Großherzogtum Baden eine Region untersucht, die man nur selten mit dem Matrosenaufstand und der Novemberrevolution direkt in Verbindung bringt. In vielen ehemaligen Garnisonstädten und Regionen Deutschlands ist die Geschichte der Revolte der Matrosen von 1918 noch unerforscht. Es bedarf hier noch großer Anstrengungen – ganz zu schweigen von dem schwierigen Schritt, die einzelnen Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenzufügen.[95]

Einen beeindruckenden Vorstoß unternahmen in jüngerer Zeit Jens Buttgereit und Sonja Kinzler, die speziell die Rolle von Matrosen bei der Ausbreitung der Revolution in 95 deutschen Städten untersuchten. Dabei konzentrierten sie sich bewusst auf Großstädte außerhalb von Schleswig-Holstein und nahmen mit Straßburg, Danzig und Königsberg auch Städte ins Visier, die heute nicht mehr zur Bundesrepublik Deutschland gehören. Vieles bleibt zwar oberflächlich, doch sind bereits erste Ergebnisse bemerkenswert, vor allem wenn es um die Rolle von Matrosen bei der Verbreitung des Aufstands geht. Buttgereit und Kinzler geben dabei nicht nur wichtige Hinweise auf die teilweise sehr unterschiedlichen Verbreitungswege des Aufstands über die Eisenbahn, den Seeweg und die Flugzeuge der Marineflieger, sondern auch zu den örtlichen Gegenmaßnahmen der jeweiligen Garnisonskommandos und den Aktionen der Matrosen in den jeweiligen Städten.[96] Damit zeigen sie den Weg auf, den es künftig weiter zu beschreiten gilt.

Alles in allem ist zu konstatieren, dass es ungeachtet der Bedeutung der Ereignisse vom November 1918 noch große Forschungslücken gibt, die vor allem militärische Aspekte und die Verbreitung des Aufstands betreffen. Besonders für die Bundeswehr hat das Thema Potenzial – gerade in Hinblick auf die jüngsten Debatten zum Thema Tradition.[97] Es gibt in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts keinen vergleichbaren Fall; nur 1918 erhoben sich hunderttausende Soldaten und Matrosen, um Forderungen durchzusetzen, die demokratischen Freiheits- und Bürgerrechten auch für Angehörige des Militärs den Weg wiesen. Wer vom Staatsbürger in Uniform oder von der Inneren Führung spricht, der sollte von den Revolten des Jahrs 1918 nicht schweigen. Die bei Kriegsende erzwungene Einsetzung von gewählten Soldatenvertretern, die jenseits der etablierten militärischen Hierarchie Einfluss auf die alltägliche Dienstgestaltung nehmen konnten, erinnert bereits deutlich an Inhalte des Soldatinnen- und Soldatenbeteiligungsgesetzes.[98] Auch die heute selbstverständliche Begrenzung von Vorgesetzteneigenschaften und Befehlsbefugnissen zeigt deutliche Parallelen zu den Forderungen von Matrosen und Soldaten von 1918 auf.

Aus diesem Befund ergeben sich zwei Handlungsoptionen, von denen die eine geschichtspolitischer, die andere akademischer Natur ist. Die Bundeswehr täte zum einen gut daran, Matrosenaufstand und Novemberrevolution als traditionswürdige Ereignisse zu begreifen. Zum anderen ist die Geschichtswissenschaft gefragt: Weitere lokal- und regionalgeschichtliche Studien zu den entscheidenden Wochen im November 1918 sollten ebenso angestoßen werden wie eingehendere Untersuchungen zur Reichswehr in den Anfangsjahren der Weimarer Republik.[99]

Betrachtet man den Auftakt zur Novemberrevolution nicht nur als eine vor allem auf die Marine begrenzte lokale Meuterei, sondern als eine Erhebung des Militärs im Deutschen Reich, dann zeigt dies viel deutlicher, welche prodemokratischen Einflüsse auf die junge Reichswehr wirkten – oder hätten wirken können. Zudem gibt es inzwischen Hinweise auf hunderte Offiziere, die entweder die Revolution aktiv unterstützten oder aber zumindest bereit waren, die Republik zu verteidigen.[100] Auch für die NS-Zeit ergeben sich neue Ansätze; erste Untersuchungen legen den Verdacht nahe, dass zahlreiche Aktivisten der Militärrevolte von 1918 dem Nationalsozialismus ablehnend gegenüberstanden und dass sie schon wegen ihrer Entscheidungen in die Mühlen des Verfolgungsapparats gerieten, die sie 1918 getroffen hatten. Aber wie dem auch sei: Matrosenaufstand und Novemberrevolution bilden ein Forschungsfeld, das reiche Früchte tragen wird, wenn man es nur richtig bestellt.

Published Online: 2020-10-01
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2020-0034/html
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