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„Kaiser ohne Kleider“?

Der Nationalstaat und die Globalisierung
  • Andreas Wirsching EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Oktober 2020
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Abstract

Globalisierung gehört zu den wichtigsten Bewegungsbegriffen unserer Zeit und bedarf einer systematischen Analyse, um wissenschaftlich brauchbar zu sein. Insbesondere stellt das spannungsreiche Verhältnis von Nationalstaat und Globalisierung für die zeitgeschichtliche Forschung eine bedeutende fachliche und methodische Herausforderung dar. Die Zeitgeschichte sollte sie annehmen und über diese wichtige Thematik in einen Dialog mit den Sozialwissenschaften treten. Der Artikel plädiert für einen engeren Globalisierungs-Begriff, der die jüngeren Entwicklungen von früheren Jahrhunderten unterscheidet und um 1970 ansetzt. In dieser Zeit begann die Globalisierung als ein politisches Projekt der westlichen Industriestaaten, angeführt von den USA. Seit den 1990er Jahren veränderte sie grundlegend die Raumvorstellungen der Nationalstaaten. Die Verflüssigung nationaler Grenzen wurde in längerfristige nationale Traditionen eingeordnet, was erhebliche Unterschiede in den jeweiligen nationalen Haltungen zur Globalisierung erzeugte.

Abstract

Globalisation is one of the most important concepts of our time and requires systematic analysis in order to become accessible for research. The relationship between the nation state and globalisation is particularly laden with tensions and thus poses a methodological challenge for contemporary historiography. Contemporary history should accept this challenge and enter into a dialogue with the social sciences about this important topic. The article pleads for a narrow concept of globalisation starting around 1970, which helps distinguish recent developments from those of earlier centuries. During this time, globalisation began as a political project of the Western industrialised countries, headed by the USA. Since the 1990s, it fundamentally changed the concepts of space of the nation states. The increasing fluidity of national borders was declared to be part of long-term national traditions, which led to considerable differences in the respective national attitudes to globalisation.

Vorspann

Der abschließende Beitrag des VfZ-Schwerpunkts historisiert den Globalisierungsbegriff durch eine Analyse des Verflechtungsverhältnisses von Nationalstaat und Globalisierung. Ausgehend vom Befund, dass sich die Geschichte der Globalisierung und die Globalgeschichte des Nationalen wechselseitig bedingen, werden zunächst die politökonomischen Ursprünge der Globalisierung herausgearbeitet. Die Idee eines größtmöglichen Freihandels entsprach den Wünschen multinationaler Konzerne und gipfelte in den 1990er Jahren in einer verstärkten Deregulierung der (Finanz-)Märkte und der Intensivierung grenzüberschreitender Transaktionen. Die unterschiedlichen Reaktionen auf die Globalisierungsdiskurse verweisen auf Pfadabhängigkeiten, Traditionsbestände und Deutungsmuster, die nationale Raumkonzeptionen entscheidend prägten. Dabei zeigt sich das Potenzial eines Forschungsansatzes, der die unterschiedlichen Zeitschichten und -bezüge der Globalisierung in den Fokus rückt.

I. Einleitung und Fragestellung

Nur wenige Begriffe haben die Welt der Wissenschaften so nachhaltig erobert wie die Globalisierung.[1] Tatsächlich gibt es in den Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften so gut wie kein aktuelles Thema mehr, das nicht in der einen oder anderen Weise unter der Perspektive der Globalisierung verhandelt und diskutiert wird.[2] Einer nicht mehr zu überblickenden Masse von Beschreibungen, Analysen und Theorien steht allerdings nach wie vor eine völlig konträre Wertung entgegen. Es ist noch nicht lange her, da ein geradezu messianischer Lobpreis mit Verdammungsurteilen konkurrierte, die praktisch alle sozialen und politischen Probleme durch die Globalisierung bedingt sahen. Andere wiederum betrachteten die Globalisierung als ein bloßes Schlagwort. Zuletzt häuften sich die Stimmen, die unter dem Eindruck der krisenhaften Entwicklung der vergangenen beiden Jahrzehnte vom Collapse of Globalism oder von einer „gescheiterten Globalisierung“ sprechen.[3]

Solche globalisierungskritischen Stimmen speisen sich meist aus dem Empfinden, der Nationalstaat und seine souveränen Handlungsmöglichkeiten würden über Gebühr eingeschränkt oder sogar zerstört. Der Rückzug staatlicher Regulierungsregime zugunsten einer liberalisierten globalen Wirtschaftsordnung erzeuge neue Formen der ökonomischen Schutzlosigkeit und Verwundbarkeit. Betroffen seien vor allem die schwächeren Bevölkerungsgruppen, deren soziales und kulturelles Kapital nicht ausreiche, um an der Globalisierungsdividende zu partizipieren. Der Abbau des Sozialstaats und die asymmetrische Gewinnakkumulation verschärften die globale und soziale Ungleichheit, was schließlich zur direkten Gefährdung der Demokratie führe.[4] Ist der Nationalstaat also angesichts der Globalisierung mit einem kontinuierlichen Machtverlust konfrontiert, bis er am Ende gleichsam nackt als „Kaiser ohne Kleider“ dasteht?[5]

Nun hat die Corona-Pandemie des Jahrs 2020 unsere Sicht auf die Dinge binnen weniger Wochen verändert. Manche Fragen werden ganz neu und zum Teil ganz anders gestellt, als man hätte erwarten können. Als es um den Infektionsschutz und die Gesundheitsprävention der Bevölkerung ging, war zunächst allein der Nationalstaat handlungsfähig. In Staaten mit föderativer Struktur wie Deutschland oder die USA besaßen auch die Bundesländer und -staaten hohe Handlungskompetenz. Dagegen waren weder internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation noch die Europäische Union in der Lage, exekutiv einzuschreiten. Nationale Grenzen erhielten weltweit wieder eine Kraft und Bedeutung, die man kaum mehr für möglich gehalten hätte. Glaubt man der Stimme des Augenblicks, dann steht sogar die Globalisierung insgesamt zur Disposition, und es zeichnet sich der Umriss einer neuen zeitgeschichtlichen Epoche von circa 1970 bis 2020 ab, die von Internationalisierung, Liberalisierung und Globalisierung geprägt war und nun an ihr Ende gekommen ist.

Für solche Bilanzen und Zeitdiagnosen ist es freilich noch viel zu früh, und darüber, dass das Rad niemals einfach zurückgedreht werden kann, dürfte in der Historiografie Übereinstimmung herrschen. Insofern stellen die hier verfolgte Thematik und die damit konnotierte Verflechtung von Nationalstaat, Staatlichkeit und Globalisierung für die Zeitgeschichte als Wissenschaft eine kardinale konzeptionelle Herausforderung dar. Denn tatsächlich dominieren in der Zeitgeschichte nach wie vor Themen und Zugriffe, für die der Nationalstaat den Rahmen bildet. Ohne die Legitimität solcher Prägungen, für die es viele gute Gründe gibt, infrage zu stellen, gilt doch offenkundig: Die nationalstaatliche Perspektive der zeithistorischen Forschung in eine Beziehung zum Problemkomplex der Globalisierung zu setzen, ist eine überfällige Aufgabe. Sie ist umso dringender geboten, als dies in den Sozialwissenschaften bereits seit geraumer Zeit geschieht. Globalisierung und Nationalstaat, die Entstehung transnationaler Regime und neuer Formen von Global Governance sind mittlerweile etablierte Gegenstände innovativer Forschung, die auch zu differenzierten Ergebnissen führt.[6] Warum aber sollte die Zeitgeschichte – gleichsam als Expertin für die Geschichte der Nationalstaaten – hier nicht ihr methodisches Proprium einbringen und in einen überfälligen Dialog mit der sozialwissenschaftlichen Expertise für die Globalisierung eintreten?[7]

Eine historische Betrachtung der Globalisierung ist auch deshalb dringend erforderlich, weil nach wie vor eine überzeugende zeithistorische Periodisierung der Zeit seit den 1970er Jahren fehlt. Insbesondere ist das einflussreiche Erzählmuster „nach dem Boom“ in die Jahre gekommen. Seit dem „Strukturbruch“ im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ist mehr Zeit vergangen, als der Boom selbst andauerte, und diese Periode währt nun schon länger als die Epoche der Weltkriege.[8] Es reicht daher zum Verständnis dieser jüngsten Zeitgeschichte nicht mehr aus, semantisch eine Nach-Geschichte zu konstruieren, die ihre Maßstäbe aus der vergangenen Epoche bezieht. Damit liefe man Gefahr, einer selbstreferenziellen Geschichte des Niedergangs auf den Leim zu gehen.[9] Auch deswegen hilft eine historische Analyse des Globalisierungsbegriffs.

Freilich ist Globalisierung für sich genommen ein nominalistischer Begriff, der im Maße seiner ubiquitären Verwendung zum reinen Abstraktum zu werden droht. Hinzu kommt, dass es sich sowohl um einen unsystematisch verwendeten Quellen- wie um einen analytischen Begriff handelt, der in den Sozialwissenschaften bereits früh theoretisiert wurde. Nicht zuletzt die dem Begriff inhärenten teleologischen Aspekte, aber auch die Diskussionen über „Gelingen“ oder „Scheitern“ der Globalisierung deuten die methodischen Schwierigkeiten an. Für die Geschichtswissenschaft geht es daher darum, den Begriff zu historisieren und seinen Bedeutungsüberschuss zumindest in den historischen Kontext zu setzen oder überhaupt zu dekonstruieren.[10] Im Folgenden wird dies am zentralen Aspekt des Verflechtungsverhältnisses von Nationalstaat und Globalisierung versucht. Besonders berücksichtigt werden dabei deutsche, französische und britische Perspektiven. Diese Länder weisen in geradezu idealtypischer und damit paradigmatischer Weise unterschiedliche Traditionen, Mentalitäten und Politikstile auf, standen aber angesichts der Globalisierung vor vergleichbaren Herausforderungen. Entsprechend differierte der Umgang mit der globalen Verflechtung der eigenen Nation. Aber nicht nur die deutsch-französischen Unterschiede sind hier interessant. Vielmehr avancierte die Globalisierung auch zu einem dominanten europäischen Thema. Im Rahmen der europäischen Integration und des Maastricht-Prozesses waren Deutschland und Frankreich fundamental aufeinander angewiesen, sodass konträre nationale und gemeinsame europapolitische Interessen sich in den jeweiligen Politiken der Globalisierung miteinander verschränkten. Die hier vorgetragenen Überlegungen verstehen sich als Beitrag zum Konzept einer Geschichte der Globalisierung; zugleich sollen sie aber auch dazu anregen, die Nationalstaaten globalgeschichtlich zu fassen und ihre Verflechtung mit dem Globalen zu analysieren. Geschichte der Globalisierung und Globalgeschichte des Nationalen schließen sich also nicht gegenseitig aus, sondern bedingen einander.[11]

Dementsprechend geht es im Folgenden erstens um die politökonomischen Ursprünge der Globalisierung und zweitens um die analytischen Potenziale, die der Kategorie des Raums in der Spannung von Globalem und Nationalem innewohnten. Ein letzter Gedankengang resümiert noch einmal den Begriff Globalisierung und seine Verwendbarkeit für die zeithistorische Forschung.

II. Die Globalisierung als politisches Projekt

Die zunehmend ubiquitäre Verbreitung des Globalisierungs-Begriffs[12] brachte es mit sich, dass Historikerinnen und Historiker einen Gewinn darin sahen, ihn für die von ihnen untersuchten Epochen zu reklamieren. Die Geschichte der Antike oder der Frühen Neuzeit[13] gerät dann ebenso zu einer Globalisierungsgeschichte wie die Geschichte der Küstenschifffahrt an der Ostsee.[14] Solche Generalisierungen sind nur möglich, wenn man einen sehr formalen, im Grunde ahistorischen Verflechtungsbegriff zugrunde legt, der prinzipiell auf Phänomene aller Epochen angewendet werden kann. Dann lässt sich auch behaupten, dass die Globalisierung im Jahre 1571 begann, als die Spanier in Manila einen Handelsstützpunkt einrichteten.[15] Solche Aussagen mögen aufmerksamkeitsökonomischen Erwägungen entspringen; zur näheren geschichtswissenschaftlichen Bestimmung des Globalisierungs-Begriffs tragen sie jedoch nichts bei.

Weitverbreitet und methodisch-konzeptionell wesentlich relevanter ist dagegen die Auffassung, es handle sich bei der Globalisierung um eine Form weltweiter Verflechtung, wie sie aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bekannt sei.[16] Wer diese Position vertritt, kann auf gute Argumente zurückgreifen, denn die Parallelen zur jüngsten Zeitgeschichte sind offenkundig. Angeführt von der überragenden Bedeutung Großbritanniens als global agierendes Industrie- und Finanzzentrum, expandierte die auf Kolonialismus, Imperialismus und Goldstandard basierende Weltwirtschaft vor 1914 wie nie zuvor und erreichte zugleich ein bis dahin nicht gekanntes Maß an Integration.[17] Technische Durchbrüche ermöglichten eine Revolution im Verkehrs- und Transportwesen sowie in der Telekommunikation.[18] Zugleich erreichten die weltweiten Migrationsbewegungen einen neuen Höhepunkt.[19] Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Geschichte des Nationalen als Geschichte der Globalisierung schreiben.[20] Erst die Epoche der Weltkriege mit ihren finanz-, währungs- und handelspolitischen Disruptionen setzte der Blüte dieser ersten Globalisierung avant la lettre ein jähes Ende.[21]

Trotzdem spricht vieles dafür, die Geschichte der Globalisierung seit den 1970er Jahren als Zäsur sui generis zu betrachten. Zwar handelte es sich dabei zunächst weniger um völlig neue Entwicklungen als um die immense quantitative Steigerung im Kern bereits bekannter Phänomene. Alle Merkmale der Globalisierung – Intensivierung internationaler Arbeitsteilung, Expansion des Welthandels und der Auslandsproduktion, Ausdehnung der Kapitalinvestitionen und Finanzmärkte, technische Innovationen, Grenzöffnungen und Migrationsbewegungen – waren nicht per se neu. Aber sie konvergierten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in einer zuvor ungekannten Dynamik. Wir plädieren daher dafür, den zu historisierenden Begriff der Globalisierung auf diese jüngste Epoche zu beschränken und damit zum Gegenstand der Zeitgeschichte zu machen.

Eine solche epochenspezifische Beschränkung wird umso plausibler, wenn man die Ursprünge der Globalisierung näher betrachtet. Denn diese folgten einer eindeutig polit-ökonomischen Logik.[22] So waren die Trente Glorieuses ökonomisch betrachtet kein globales Zeitalter. Im Vergleich zur Epoche vor 1914 stellten sie eher einen Rückschritt dar, in dessen Verlauf die Rolle des Nationalstaats bedeutender geworden war und geradezu eine Nationalisierung der (früheren) Weltwirtschaft erfolgte. Als Erbe der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs verengten Protektionismus und Währungskontrollen die Möglichkeiten des internationalen Handels. Hinzu traten Enteignungen und Sozialisierungen, die viele sogenannte Entwicklungsländer im Zuge der Dekolonisierung durchführten. Infolgedessen konzentrierte sich der internationale Handel fast ausschließlich auf die Beziehungen zwischen den USA und Westeuropa, während in Bezug auf Rohstoffe und vor allem Dienstleistungen nationalstaatlich geschlossene Märkte dominierten.[23]

Dieses System, das auf dem Abkommen von Bretton Woods beruhte, die Trente Glorieuses hervorgebracht hatte und gelegentlich als „halbierte Globalisierung“ bezeichnet wurde,[24] stieß in den 1970er Jahren an seine Grenzen. Den Optimismus des Booms löste die Erfahrung der Krise ab. Die 1970er und 1980er Jahre bildeten den archimedischen Punkt eines umfassenden ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturwandels, dessen Dynamik durch massive aktuelle Krisenerscheinungen katalytisch verstärkt wurde. In den westlichen Industriestaaten brachen manche Branchen wie die Textil- oder die Fotoindustrie binnen kurzer Zeit fast gänzlich zusammen; andere Bereiche wie der Schiffsbau oder die Stahlindustrie kämpften ums Überleben und drohten zu ewigen Krisenbranchen zu werden.[25] Die Autoindustrie, einst ein Monopol der westlichen Industriestaaten, hatte sich zunehmend der japanischen Konkurrenz zu erwehren. Die Krise der Weltwirtschaft und die massiv zunehmende internationale Konkurrenz zwangen die Industrieunternehmen zu schmerzhaften Anpassungs- und Rationalisierungsmaßnahmen und beschleunigten dadurch den Abbau industrieller Arbeitsplätze. Die Abschwächung des Wirtschaftswachstums, die steigende Inflation und die hohe Arbeitslosigkeit nährten daher ein grenzüberschreitendes wirtschaftliches Krisengefühl, denn einfache ökonomische Lösungskonzepte boten sich nicht an.[26] Mehr als alles andere bestimmte diese Erfahrung die politische Agenda der westlichen Industriestaaten.

Nicht zufällig entstand in diesem Kontext die Einrichtung der G7-Gipfeltreffen. Deren Geschichte begann mit dem ersten Weltwirtschaftsgipfel in Rambouillet vom 15. bis 17. November 1975, der auf Initiative Helmut Schmidts und Valéry Giscard d’Estaings zusammenkam.[27] Die weltwirtschaftlichen Vorzeichen empfand man als düster, und nicht nur im Foreign Office fühlte man sich an vergangene Unbill erinnert: „Wir erinnern uns, wie die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der dreißiger Jahre den Aufstieg der Diktatoren begünstigten.“[28] Die Staats- und Regierungschefs stimmten denn auch darin überein, „daß die Wirtschaftskrise, die inzwischen alle Länder erfaßt hatte, uns nicht wie die Krise in den frühen dreißiger Jahren zu einem handels- und währungspolitischen Kampf aller gegen alle verleiten dürfe“.[29] Man trennte sich in dem Einvernehmen, es diene den jeweiligen nationalen Interessen am besten, die Hemmnisse, die der Zirkulation von Waren und Finanzströmen entgegenstanden, möglichst weitgehend abzubauen.

Wesentliche Impulse zu einer entsprechend zielgerichteten Politik, welche die Krise zu überwinden trachtete, kamen aus den USA, die sich, unter dem Eindruck kontinuierlicher Zahlungsbilanzdefizite vom Bretton-Woods-System abgewandt hatten. Um dieselbe Zeit verstärkten die amerikanischen Wirtschaftskreise den Druck auf die Regierung und forderten, international agierenden Unternehmen mehr Spielraum zu gewähren.[30] Die US-Administration unter Präsident Gerald Ford reagierte und stieß Verhandlungen zur Liberalisierung des internationalen Handels an. Die damit eingeleitete sogenannte Tokio-Runde der Verhandlungen des General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) beschäftigte die US-Administration während Fords gesamter Amtszeit und wurde 1979 mit einem Abkommen abgeschlossen, das 102 Staaten einschloss. Dem neuen Präsidenten Jimmy Carter konnte kurz nach seinem Amtsantritt berichtet werden: „Die Schlussergebnisse der Tokio-Runde bilden die umfassendste Handelsgesetzgebung, die jemals ein Präsident dem Kongress vorgelegt hat.“[31]

Insbesondere machte sich die US-Administration die Wünsche der multinationalen Unternehmen zu eigen, wie überhaupt die wirtschaftlich zum Teil prekäre Lage dieser Konzerne eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Globalisierung spielte.[32] Die USA strebten danach, die rechtlichen Rahmenbedingungen für ausländische Direktinvestitionen zu verbessern und den entsprechenden internationalen Kapitalfluss zu sichern. Ein wesentliches Resultat dieser Verhandlungen war im Juni 1976 die „Declaration on International Investment and Multinational Enterprises“. Dieser Erklärung, die noch heute in Kraft ist,[33] traten sukzessive 46 Länder bei. Sie glich einem Bekenntnis zur Förderung multinationaler Unternehmen. Die Minister der Staaten, die sich zur Organisation for Economic Co-operation and Development zusammengeschlossen hatten, würdigten explizit den „positiven Beitrag, den die multinationalen Unternehmen zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu leisten vermögen“. Die Schwierigkeiten, „die aus der Tätigkeit dieser Unternehmen etwa erwachsen“, wollten sie „teilweise oder ganz ausräumen [...]. Daher kamen sie überein, ihre Kooperation und Konsultation auf dem Gebiet der internationalen Investitionen und der multinationalen Unternehmen zu intensivieren.“[34] Die amerikanische Regierung beeilte sich, die Übereinkunft als bedeutenden Schritt zu preisen, hin zu einem „offenen und stabilen Umfeld für internationale Investitionen“.[35] Und nur eine Woche später drang Präsident Ford auf der G7-Gipfelkonferenz weiter darauf, „die institutionellen Strukturen des Welthandelssystems zu verbessern [...], die Zölle maximal zu senken, ein zunehmend offeneres Handelssystem zu schaffen“. Notwendig sei die „Freiheit des Kapitalverkehrs“ und die „Vermeidung von Regierungsmaßnahmen, die den Kapitalverkehr ‚verzerren‘“.[36]

Zwar kam die Liberalisierung der Finanzmärkte und des Güterverkehrs während der 1970er Jahre weltweit, aber auch in Westeuropa nur langsam voran und wurde überdies durch exogene Schocks wie die beiden Ölpreiskrisen gehemmt.[37] Zugleich jedoch verhandelten die Regierungen hinter verschlossenen Türen über eben eine solche Liberalisierung. Regelmäßig bildeten die USA dabei die treibende Kraft. Sollten diese multilateralen Verhandlungen scheitern, so befürchtete man in Washingtoner Regierungskreisen, „würden die USA, als eine starke Volkswirtschaft, Möglichkeiten für eine Exportsteigerung verlieren“. Demgegenüber stünde für die „schwächeren Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft“ wie Frankreich, Großbritannien und Italien weitaus weniger auf dem Spiel, „weil sie weniger konkurrenzfähig“ seien.[38] Angetrieben vom durchaus robusten nationalen Eigeninteresse der USA, setzte sich die Idee des größtmöglichen globalen Freihandels allmählich bei den westlichen Industriestaaten durch.

Die krisenhafte wirtschaftliche und konjunkturelle Lage erzeugte Massenarbeitslosigkeit und drohte, die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. In den Rezepten wirtschaftlicher Liberalisierung und Transnationalisierung erblickten die nationalen Regierungen daher die wichtigste, ja die einzige Methode zur Bekämpfung der galoppierenden Krise. Dabei ging es zunächst darum, so stellte der britische Industrieminister Patrick Jenkin im Oktober 1982 fest, „die eigene Industrie und die öffentliche Meinung in unseren Ländern davon zu überzeugen, daß der freie Handel zu ihrem eigenen Vorteil sei. [...] Im Grunde genommen gelte es, deutlich zu machen, daß ein offenes Handelssystem für alle Beteiligten besser sei als protektionistische Maßnahmen.“ Sollte das nicht gelingen, drohe den westlichen Industrieländern „eine Katastrophe“.[39] Mithin lassen sich die 1970er Jahre als Latenzphase der Globalisierung begreifen. Gespeist wurde sie allein durch das nationale Interesse der westlichen Industriestaaten.

In den 1980er Jahren setzte sich der Prozess der handelspolitischen Globalisierung gleichsam spiralförmig fort. Ein weiterer Durchbruch erfolgte auf der GATT-Ministertagung Ende November 1982 in Genf. Nach langen und schwierigen Verhandlungen einigten sich die Minister auf ein Arbeitsprogramm für die kommende Dekade. Es drückte zum einen die tiefgreifende Verunsicherung angesichts der sich verschärfenden Wirtschaftskrise und steigender Arbeitslosigkeit aus und appellierte zum anderen an die Mitgliedsländer, auf dem eingeschlagenen Weg der Liberalisierung voranzuschreiten. Bezeichnenderweise konnte sich die Europäische Gemeinschaft (EG) nicht zu einer uneingeschränkten Zustimmung entschließen. Der Grund hierfür lag vor allem in der Rücksichtnahme auf die heimische Landwirtschaft, nachdem sich die Ministerrunde ein zweijähriges „Agrararbeitsprogramm“ auferlegt hatte, mit dem Ziel, „landwirtschaftliche Exporte unter größere Wettbewerbsdisziplin zu stellen (sprich: weniger zu subventionieren)“.[40] Aufgrund gravierender Interessen- und Meinungsverschiedenheiten dauerte es denn auch noch vier weitere Jahre, bis mit der Uruguay-Runde ein neuer Verhandlungszyklus eingeläutet werden konnte.

Erneut standen die USA, getrieben von einem Rekorddefizit ihres Außenhandels, an der Spitze und schreckten auch vor Drohgebärden nicht zurück. „Die Mitglieder des GATT“, so deklamierte der amerikanische Delegierte Clayton Yeutter, „müssen zusammenarbeiten, um die Welt wieder in ein ökonomisches Gleichgewicht zu bringen – zum Wohle aller. Wenn andere Länder daran nicht interessiert sind, werden die USA keine Wahl haben, als ihre eigenen Interessen auf ihre Art und Weise zu verteidigen. Wir sind dazu bereit, wenn wir es müssen.“ Frei(er)er Handel mit Agrarprodukten und Dienstleistungen, die Verbesserung der weltweiten Investitionsbedingungen und die internationale Regulierung des Urheberrechts standen ganz oben auf der amerikanischen Prioritätenliste. Dabei vergaß Yeutter nicht zu betonen, dass die Liberalisierung der Märkte letztendlich allen, insbesondere den unterentwickelten Ländern zugutekommen werde: „Wenn wir Punta del Este verlassen, ohne Schritte zur Stärkung und Modernisierung des GATT unternommen zu haben, dann werden wir auf Jahre hinaus die Chance verpasst haben, das Leben für alle Bürger weltweit zu verbessern.“[41] Im September 1986 verkündeten die Minister auf dem GATT-Gipfeltreffen in Punta del Este denn auch eine umfassende Agenda über praktisch alle offenen Probleme der Handels- und Finanzpolitik. Neben der Aufnahme von Verhandlungen über neue Themenfelder wie Dienstleistungen und geistiges Eigentum versprachen die Minister, alle Artikel des GATT auf den Prüfstand zu stellen. Damit war die größte handelspolitische Verhandlungsrunde aller Zeiten eingeleitet. Sie zielte in erster Linie auf die „Sicherstellung einer stärkeren Liberalisierung und Ausweitung des Welthandels zum Nutzen aller Länder, insbesondere der weniger entwickelten Vertragsparteien, einschließlich der Verbesserung des Marktzugangs durch Senkung und Beseitigung von Zöllen, mengenmäßigen Beschränkungen und anderen nichttariflichen Maßnahmen und Hemmnissen“.[42]

Die acht Jahre lang tagende Uruguay-Runde, die 1994 beendet und in die neue Welthandelsorganisation überführt wurde, kann in ihrer Wirkung kaum überschätzt werden. Hinsichtlich ihrer komplexen Materie, dem internationalen Handelsrecht, war sie ein Forum für Spezialisten, für das sich in den nationalen Parlamenten nur ganz wenige interessierten.[43] Dementsprechend tagte die Runde lange Zeit, ohne in das Blickfeld der Öffentlichkeit zu geraten. Fast erschöpfte sie sich in den Mühen der Ebene. 1990 stand sie kurz vor dem Scheitern, da vor allem die Liberalisierung der Agrarmärkte auf den schärfsten Widerstand Frankreichs, aber auch Deutschlands und damit der Europäischen Gemeinschaft traf.[44] Erst mit mehrjähriger Verspätung ließen sich die Differenzen überwinden, und am 15. Dezember 1993 unterschrieben 117 Staaten die Ergebnisse der Runde.[45]

Durch ihre Beschlüsse wurden zum einen die Zölle weltweit noch einmal substanziell gesenkt; zum anderen trug man dem Wunsch der USA Rechnung, Agrar- und Textilprodukte erstmals in das GATT-System mit einzubeziehen. Langfristig am wichtigsten war jedoch die Aufnahme von Dienstleistungen in den Liberalisierungskatalog. Internationale Investitionen und Handel im Dienstleistungs- und Finanzbereich versprachen künftig einfacher, rechtssicherer und renditestärker zu werden.[46] Zur Erleichterung vieler Beobachter verhinderte die Uruguay-Runde des GATT somit das Auseinanderdriften regionaler Märkte in Ostasien, Europa und den USA. Vielmehr trug das Abkommen entscheidend dazu bei, eben diese Märkte miteinander zu verknüpfen. Überdies konvergierte der Abschluss mit der enormen technischen Entwicklung im Bereich der Informationstechnologie und der damit verbundenen Revolution in der internationalen Kommunikation. Sie stellte die Infrastruktur für die neuen Formen weltweiter Verflechtung bereit, was eine neue dynamische Situation schuf:

„Die Deregulierung der Märkte, der Abbau von Kapitalverkehrskontrollen, die Entwicklung neuer Techniken und sogenannter Derivate wie andere finanzielle Innovationen sowie die enormen Fortschritte bei den Informationssystemen haben einen internationalen Verbund geschaffen, der noch vor relativ kurzer Zeit unvorstellbar erschien. Es gibt eine wirkliche Globalisierung des täglichen weltweiten Marktgeschehens.“[47]

Diese ökonomischen sowie wirtschafts- und handelspolitischen Impulse gilt es zu betonen. Denn sie unterstreichen, dass die Globalisierung der 1980er und 1990er Jahre keineswegs ein ungesteuerter Prozess war, der die westliche Politik gleichsam wie ein Naturereignis überrollte. Vielmehr war die Globalisierung ein durch und durch politisches Projekt. „Die Globalisierung“, so formulierte es John K. Galbraith 1997, „ist nichts Ernsthaftes. Wir, die Amerikaner, haben sie als ein Mittel erfunden, um zu verschleiern, dass wir mit unserer Politik andere Nationen wirtschaftlich durchdringen.“[48] Freilich ist dies eine überspitzte Formulierung. Sie öffnet das Tor für allzu einfache Antworten auf die Herausforderungen der Globalisierung, etwa im Sinne eines platten Antiamerikanismus oder einer politischen Ökonomie, die in der Globalisierung bloß die „aktuelle Phase des Imperialismus“ sieht.[49] Vielmehr entstand die Globalisierung aus einem multilateralen Verhandlungsprozess der Nationalstaaten, die ihre eigenen Probleme und Interessen im Auge hatten, oder anders formuliert: Man setzte an zur „Rettung des Nationalstaats“ durch die Globalisierung.[50] Angetrieben von den USA, arbeiteten die westlichen Nationalstaaten und Regierungen aktiv darauf hin, die globale Wirtschaft durch Liberalisierung zu stimulieren. Unterstützt wurden sie dabei von internationalen Organisationen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die mit dem Washington Consensus von 1990 in den Schuldnerstaaten Strukturanpassungen erzwangen. Die Weltbank drang überdies ab 1994 darauf, dass die Sozialstaaten zu kapitalgedeckten Vorsorgeformen übergehen und ihre Systeme damit für die internationalen Finanzmärkte öffnen sollten.[51]

Das zugrunde liegende Kalkül war stets, mit solchen Maßnahmen die für den Westen innenpolitisch bedrohliche Wirtschaftskrise und die Arbeitslosigkeit wirksam bekämpfen zu können. Indem sie liberalisierten, deregulierten und privatisierten, förderten die Regierungen und internationalen Organisationen nachhaltig die Macht des Markts und entgrenzten den internationalen Spielraum der großen Konzerne und Banken. Es galt, den bereits angelaufenen Strukturwandel zu beschleunigen, ihn beherrschbar zu machen und die Industriegesellschaften mit ihrem großen Anteil an einfacher Handarbeit zu modernen Dienstleistungsgesellschaften umzuformen. Freilich bahnten die westlichen Regierungen damit selbst den Weg zu eben jenem staatlichen Souveränitätsverlust, den sie später umso heftiger beklagten. In gewisser Weise hat sich der Nationalstaat selbst umgestaltet und in seiner Macht beschnitten, indem er die zahlreichen Gesetze und Regeln zur ökonomischen Globalisierung einführte.

Wie immer man die Folgen bewerten möchte: Die Ambiguität zwischen nationaler Interessenpolitik und globalem Verflechtungsanliegen ist der Geschichte der Globalisierung von ihren Anfängen an eingeschrieben. Nur vor diesem Hintergrund sind die Wirkungen zu analysieren, welche die Globalisierung auf die Nationalstaaten hinsichtlich ihrer Schlüsselkategorien Raum und Zeit ausübte. Im Sinne eines dialektischen Umschlags veränderten sich nationalstaatliche Wirtschafts- und Kulturräume durch die Globalisierung in höchst dynamischer Weise. Zugleich hat die Entwicklung seit den 1990er Jahren gezeigt, dass die ökonomische Globalisierung und die mit ihr einhergehende Konstruktion transnationaler Wirtschaftsräume einerseits und die fortbestehende Kraft nationaler Räume andererseits keineswegs inkompatibel sind. Vielmehr bleiben sie eng miteinander verflochten, ja bedingen einander. Tatsächlich gleicht die Globalisierung einer neuen Epoche der offenen Grenzen. Offenkundig besteht sie nicht nur aus der Fortsetzung des historisch bekannten intensiven grenzüberschreitenden Verkehrs – das Markenzeichen der Epoche vor 1914 –, sondern auch aus einer neu erstandenen Welt mit offenen Grenzen, die grenzenlose Transaktionen erlaubt.[52] Es entfaltete sich ein transnationaler Wirtschaftsraum, basierend auf einem immer ausgefeilteren internationalen Regelwerk und einer fortschreitenden Digitalisierung, die weltweit die freie Mobilität von Kapital und Gütern erlaubte. Das adäquate Sinnbild hierfür ist das globale Fließ- beziehungsweise Montageband.

III. Die Globalisierung und die nationalen Wirtschafts- und Kulturräume

In der modernen europäischen Geschichte verflochten sich die Idee der nationalen Souveränität, das staatliche Territorium und das jeweilige politische System zu einer nationalstaatlichen Entität. Staatsmacht und sozialer Einfluss, Staatsbürgerschaft und Individualrechte blieben normalerweise auf das nationale Territorium begrenzt. Nicht zuletzt deshalb spielten Grenzen und die gewaltsamen Konflikte um sie eine so entscheidende Rolle für die europäische Geschichte.[53] Im Zuge der Globalisierung, aber auch der Europäisierung hat sich dies seit den 1980er Jahren fundamental geändert. Die informationstechnologische Revolution und die politisch gewollte Bildung eines transnationalen Wirtschaftsraums erzeugten eine zunehmende Kompression der Zeit und eine „Verflüssigung“ des Raums.[54] Die Folge war eine dynamisch voranschreitende Tendenz zur Entterritorialisierung und Denationalisierung von Kommunikation, Rechtsnormen und wirtschaftlichen Aktivitäten. Allein die Telekommunikation werde, so lautete eine Prognose aus dem Jahr 1987, jede territoriale Beschränkung überschreiten, und „die Vorstellung, dass jedes Land die territoriale Kontrolle über die elektronische Kommunikation ausübe, wird genauso archaisch werden, wie früher die Auffassung, eine nationale Kontrolle über das gesprochene (und später das geschriebene) Wort sei möglich“.[55] Dementsprechend lautet die gängige Ansicht, die Integration von Kommunikationstechnologien, Finanzmärkten und Welthandel habe die Souveränität der Nationalstaaten unterminiert und in einen globalen Raum verlagert.

In den Sozial- und Politikwissenschaften sind die Kräfte und Phänomene solcher Entterritorialisierung seit rund zwei Jahrzehnten ein vielbeachtetes Thema und können als recht gut erforscht gelten. Allerdings bewegen sich die einschlägigen Untersuchungen überwiegend auf der Makroebene.[56] Die Strukturen, Ereignisse und Netzwerke, mittels derer die Verlagerung der Souveränität weg vom Nationalstaat hin zum globalen Raum konkret erfolgte, sind dagegen weitaus weniger greifbar.[57] Noch weniger wird die Frage berücksichtigt, wieweit die neuen Raum- und Zeitvorstellungen auf die nationalstaatliche Dimension zurückwirkten; welche Widersprüche sie erzeugten und wie sich neue Interaktionsformen zwischen nationalstaatlichen und transnationalen beziehungsweise globalen Akteuren entwickelten. Die Methode der auf rein quantitativen Daten beruhenden Globalisierungsindizes ist hierfür wenig geeignet.[58] Für die zeitgeschichtliche Forschung ergibt sich somit eine Fülle neuer Themen, die zusammengenommen eine geradezu riesige Agenda begründen. Vor diesem Hintergrund können die folgenden Bemerkungen nur vorläufigen Charakter haben.

Zunächst lässt sich erkennen, dass in jedem der europäischen Nationalstaaten sehr unterschiedliche, gleichsam individuelle Blickwinkel auf die global verflüssigten Räume entstanden. Zu untersuchen sind daher die Reaktionen und Bewältigungsstrategien der Nationalstaaten im Angesicht der Globalisierung. Sie schrieben (und schreiben) sich in lang zurückreichende nationale Pfadabhängigkeiten, Traditionsbestände und Deutungsmuster ein, die zusammengenommen eine Art longue durée bilden. Insbesondere prägen sie die nationalen Raumdiskurse im Zeitalter der Globalisierung. Großbritanniens jahrhundertealte Mental Map etwa definierte sich durch die insulare Lage und die räumliche Offenheit zu den Weltmeeren. Schon seit der Frühen Neuzeit ermöglichte dies die Vorstellung einer dynamischen Verflechtung zwischen den britischen Inseln mit London als dem kommerziellen und politischen Zentrum einerseits und der global gedachten Außenwelt andererseits. Diese Raumvorstellung begleitete und strukturierte die globale Expansion des British Empire bis ins 20. Jahrhundert und erlaubte es zum Beispiel, einen so fernen Ort wie den Suezkanal als „Imperial Piccadilly“ zu porträtieren.[59] Der Verlust des Empire seit 1947 stellte solche Raumkonstruktionen zwar nachhaltig in Frage und brachte das sehr ungewohnte Szenario des Little England auf die Tagesordnung. Aber für eine Weile schienen Commonwealth und Special Relationship zu den USA die gewohnte räumliche Verflechtung mit dem Globus weiterhin zu gewährleisten. Winston Churchills berühmtes Bild von den drei Kreisen verlieh dem entsprechend modifizierten globalen Raumbewusstsein eine konkrete Anschauung.[60] Letztendlich ist es die Verknüpfung von vergangener imperialer Raumvorstellung und aktuellem Rekurs auf die weltweite Verflechtung, die es den Briten zumindest scheinbar erlaubt, ihre nationale Identität mit der Globalisierung zu versöhnen und dem bedrückenden Szenario des Little England in Richtung offene See zu entkommen. Die Europäische Union steht dieser Konstruktion eher im Wege, wie es Theresa May im Januar 2017 auf den Punkt brachte: „Vor knapp sechs Monaten haben die britischen Wähler für den Wandel gestimmt. Sie stimmten dafür, unser Land in eine bessere Zukunft zu führen. Sie stimmten dafür, die Europäische Union zu verlassen und die Welt in Besitz zu nehmen.“[61]

Frankreich dagegen blieb sehr viel stärker der historisch gewachsenen Konzeption eines geschlossenen Territoriums verhaftet. Das Hexagon und seine sogenannten natürlichen Grenzen prägten das französische imaginaire von Zentrum und Peripherie, Region und Departement. Es lieferte die entscheidenden Elemente für die Konstruktion der Identität von Staat, Nation und Territorium. Dieses Konzept des nationalen Territoriums reicht mindestens in das 17. Jahrhundert zurück und erzeugte eine bemerkenswerte historische Kontinuität.[62] Entsprechend schwer tun sich viele Franzosen, die durch die Globalisierung in Gang gesetzte Fluidität von Raum und Territorium zu akzeptieren beziehungsweise sich ihr anzupassen. „Die Welt ist kein Vaterland“, konstatierte der bekannte konservative Historiker und Publizist Max Gallo im Jahr 2007.[63]

In Deutschland wiederum lässt sich eine gegenteilige Konzeption feststellen. Denn während in Frankreich der Blick auf das nationale Territorium die Idee der historischen Kontinuität verstärkt, ist die deutsche Territorialgeschichte disruptiv. Sie ist von ethnischen und kulturellen Ambivalenzen, Gewalt und häufigen politischen Umwälzungen gekennzeichnet. Die Konstruktion der deutschen Nation erfolgte nicht auf der Basis eines fest definierten nationalen Territoriums; es gab keine Übereinstimmung von Staat, Nation und Territorium.[64] Dies dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass die Deutschen, deren Territorium über das ganze 19. und 20. Jahrhundert hinweg fluide und wandelbar war, leichter bereit sind, globale Neuformulierungen von Raum und Territorium zu akzeptieren. Zugleich wurde ihr Blick mit der endgültigen Regelung der deutschen Grenzfragen im Jahr 1990 gleichsam entspannter und weltoffener.

Einer der wichtigsten Aspekte für die Konzeption von nationalem und regionalem Raum war der Prozess der Deindustrialisierung – ein Schlüsselbegriff für die Wahrnehmung des Strukturwandels in den westlichen Industriestaaten. Er entstand um 1980 zunächst in den USA, wo der Rückgang der heimischen Industrie als gravierendes ökonomisches, politisches und soziales Problem betrachtet wurde.[65] Der Sinngehalt, den er damals transportierte, war durchweg pejorativ. Schon der Rückblick auf die 1970er Jahre, geprägt von Fabrikschließungen und einem scharfen Rückgang des wirtschaftlichen Wachstums, ließ „ökonomische Verzweiflung“ und die „Unfähigkeit, auf dem globalen Markt zu konkurrieren“, erkennen. Erst recht stellten die 1980er Jahre eine kritische Dekade dar. Der beschleunigte technische Wandel, der sich verschärfende internationale Wettbewerb und die Wirtschaftskrise wirkten zusammen, um traditionellen und vertrauten Formen der Industriearbeit unwiederbringlich ein Ende zu setzen. Sogar in der Bundesrepublik, wo sich die Industrie mittels Rationalisierung und Innovationen vergleichsweise rasch an die neuen Bedingungen anpasste, gingen bis 1983 über zwei Millionen industrielle Arbeitsplätze verloren.[66]

Die Einordnung der Deindustrialisierung in die Erzählung über die Zeit „nach dem Boom“ war also schon zeitgenössisch vorgeprägt. Veränderungen des Raums und sich dynamisch wandelnde Raumvorstellungen spielten dabei eine zentrale Rolle. Dort, wo sich traditionelle Industrielandschaften befunden hatten, konnte binnen zwei Jahrzehnten eine Art postindustrielle Brache entstehen, ohne dass die versprochenen Segnungen der modernen Dienstleistungsgesellschaft sichtbar wurden. Für viele suggerierte dies eine Verlusterzählung, die in Abbruch und Abstieg, Fabrikschließungen und Arbeitslosigkeit mündete und als deren hauptsächliche Antriebskraft die Globalisierung erschien. In den betroffenen Regionen etablierte sich daher ein generationenübergreifendes Narrativ der Deindustrialisierung „Beyond the Ruins“,[67] das heißt eine politische, mentale und kulturelle Einbettung der in Frage stehenden Phänomene in den Kontext eines langwährenden Transformationsprozesses. Traditionelle Industrieregionen wie das Ruhrgebiet oder die östlichen und nordöstlichen Departements in Frankreich traf die Schließung von Hochöfen und Fabriken besonders hart. Gleiches galt für die Industriegebiete der früheren DDR, die in der ersten Hälfte der 1990er Jahre einen forcierten Abbau ihrer – freilich überalterten und maroden – Produktionsanlagen erlebten.[68] Im Rückblick ist offenkundig, wie durch Deindustrialisierung gespeiste Erfahrungen in die Vorstellung eines sich verändernden und verengenden beziehungsweise sogar verödeten Raums mündeten.

Einer gänzlich anderen Logik folgten die Raumkonstruktionen der Hauptstädte. Tatsächlich ist die Frage, wie sich große Städte und metropolitane Regionen in die Globalisierung einschreiben, Gegenstand eines andauernden weltweiten Wettbewerbs. Entsprechende Raumvorstellungen sind stark von den Global Cities, das heißt den urbanen Ikonen der Globalisierung wie Shanghai oder Singapur und ihrer spektakulären Architektur geprägt.[69] Zugleich haben sich die Befürchtungen der frühen 1980er Jahre über die fortschreitende Amerikanisierung der europäischen Städte im Sinne einer „McDonaldization“[70] – also starker sozialer und räumlicher Segregation, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und verödeter Innenstädte – nur teilweise bestätigt. Zumindest sind deutliche Gegenbewegungen in der Gestaltung des städtischen Raums erkennbar. So sahen die letzten Jahrzehnte eine Renaissance, ja sogar eine Art Neuerfindung der europäischen Stadt. Deren Markenzeichen ist die Verknüpfung des historischen Erbes mit zum Teil ultramoderner Architektur und spezifischen Strategien des Wohnungsbaus.[71] In diesem Kontext sind London, Paris und auch Berlin zu internationalen Brennpunkten der Stadtentwicklung geworden: nationale Schaufenster, die zur gleichen Zeit kulturellen Kosmopolitismus repräsentieren.

So ist die City of London der Kristallisationspunkt, an dem die räumliche Verflechtung Britanniens mit der Welt zeitadäquat fortbestehen konnte. Nirgendwo kommt die Dialektik zwischen nationaler Identität und globaler Raumvorstellung sinnfälliger zur Geltung als in der City mit ihren weltumspannenden Finanzdienstleistungen.[72] Um deren Wettbewerbsfähigkeit zu steigern, trieb Margaret Thatcher die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte und die Anwendung neuer Informationstechnologien gezielt voran. Der 27. Oktober 1986 ging als Londons Big Bang Day in die Geschichte ein. Er veränderte für immer die Praxis des Börsenhandels. Mit der Einführung des Computerhandels und der allgemeinen Liberalisierung der Börsengeschäfte setzte der Finanzstandort London neue Standards und stärkte den eigenen Status als weltweit größtes Finanzzentrum neben der Wall Street. Nach dem Abstieg der 1970er Jahre stieg London wieder zur prosperierenden Metropole und veritablen Global City auf. Als solche übt sie auf die internationalen nouveaux riches gewaltige Anziehungskraft aus.

Paris und auch Berlin sind ebenfalls magnetische Anziehungspunkte für Menschen aus aller Welt. Dabei symbolisieren die beiden Hauptstädte in besonders sprechender Weise die deutsch-französischen Unterschiede einer Stadtkultur in der Globalisierung. Während der espace parisien mit seiner auf die Hausmannisation zurückgehenden fixen Struktur eher statisch ist, eröffnet das wiedervereinigte Berlin einen weitaus fluideren und offeneren großstädtischen Raum. Tatsächlich drücken die globalen kulturellen, ökonomischen und digitalen Einflüsse unserer Tage den Berliner Plätzen und Straßen tagtäglich ihren Stempel auf.[73]

Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass in den europäischen Nationalstaaten sehr unterschiedliche Vorstellungen und Konzepte über die Globalisierung entstanden, und entsprechend divergierten die Reaktionen auf die Ausbreitung des globalen, horizontal vernetzten Raums. In Deutschland etwa setzte sich zumindest unter den politischen und ökonomischen Eliten ein überwiegend positiver Grundton im Diskurs über die Globalisierung durch. Mehrheitlich begriff man sie als Chance und Herausforderung, während die mondialisation in Frankreich eher als Quelle der französischen Probleme galt. Für die merklich differente Art und Weise, mit der beide Länder in den 1990er Jahren die neuen globalisierten Räume zu durchdringen suchten, spielten solche gegensätzlichen Mentalitäten eine wichtige Rolle. Dabei ist es allerdings wichtig, den Zusammenhang zwischen dem Diskurs, den strukturellen Faktoren und den Raumkonzepten in beiden Ländern zu verstehen.

In Frankreich blieb der Globalisierungsdiskurs überwiegend defensiv. „Die Globalisierung der Finanzbeziehungen“, so resümierte bereits 1987 ein äußerst kritisches Memorandum des französischen Außenministeriums, hat „nicht zu einer verbesserten Konvergenz der Wirtschaftspolitiken geführt“. Im Vergleich zum System von Bretton Woods existiere heute vielmehr „die totale Freiheit des Kapitalverkehrs beziehungsweise vielmehr die Anarchie. Sie resultiert aus der Freiheit, die die westlichen Staaten nicht zu organisieren verstanden haben.“ Trotz mancher positiver Wirkungen sei die Deregulierung „geboren aus der Globalisierung des Weltmarkts, der neo-liberalen Ideologie, des Strebens nach Profitabilität, der Konkurrenz der Finanzplätze untereinander und dem amerikanischen Druck, die Drittmärkte zu öffnen“.[74]

Solcher skeptischen Einstellung entsprach es, wenn Politiker und Intellektuelle die Globalisierung für den Prozess der als geradezu traumatisch erfahrenen Deindustrialisierung verantwortlich machten.[75] Pierre Bourdieu etwa betrachtete die Globalisierung als ein bloß pseudo-argumentatives Druckmittel, um neoliberal definierte Interessen diskursiv durchzusetzen.[76] „Mondialisation“ wurde zu einer Art „großer Entschuldigung“ für die Mängel der französischen Ökonomie.[77] Der Front National beeilte sich, diese Stimmungslagen für seine Zwecke auszunutzen. Vater und Tochter Le Pen denunzierten den „Euromondialisme“ und polemisierten gegen Brüssel als „trojanisches Pferd der Globalisierung“. In den entindustrialisierten Gebieten Frankreichs gewann der Front National damit überproportional an Stimmen.[78] Dagegen wagte es nur eine Minderheit von Politikern und Ökonomen, die eigenen Schwachpunkte zu benennen.[79] Gleichzeitig forderten sie dazu auf, Frankreich solle sich auf seine traditionellen Stärken besinnen und sie auf den Weltmärkten zur Geltung bringen. Französische Luxus- und Designerwaren, Automobile, Möbel und Lebensmittel könnten im internationalen Wettbewerb besonders gut bestehen. Darüber hinaus galt es, Paris als das weltweite Symbol französischer Kultur und Eleganz, des französischen Chic als eine globale französische Handelsmarke zu entwickeln.[80]

Trotz ebenfalls vorhandener Strukturprobleme entwickelte sich der Globalisierungsdiskurs in Deutschland weitaus optimistischer. Im Kontext wachsender Arbeitslosigkeit und einer hart geführten Standortdebatte[81] setzte sich in den 1990er Jahren eine zunehmend selbstgewisse Rhetorik durch, die darauf baute, die Herausforderungen der Globalisierung bewältigen zu können. Minister und Wirtschaftsbosse, Unternehmensberater und Ökonomieprofessoren predigten das Mantra globaler Veränderung und globalen Wettbewerbs. Auch die Arbeitnehmer forderten sie dazu auf, diese Wandlungen als Chance zu begreifen und sich entsprechend zu wappnen. Nur in einem solchen diskursiven Kontext waren die Hartz-Reformen möglich.[82] Rückblickend erschien die starke Performanz der deutschen Wirtschaft nach 2009 als eindrucksvolle Bestätigung dieses offensiven Herangehens an die Herausforderungen der Globalisierung. „Wir sind Globalisierungssieger“, so triumphierte 2015 der Bundesverband der Deutschen Industrie, „und ja, das darf man ruhig im doppelten Sinne verstehen. Nicht nur ist die deutsche Wirtschaft stärker mit anderen Volkswirtschaften vernetzt als etwa die USA (Platz 3) oder Hongkong (Platz 2). Sie profitiert davon auch im besonderen Maße.“[83] Dieser Blickwinkel machte den spezifisch deutschen, aber adäquat modernisierten Wirtschaftsraum mit seinen vielen mittelständischen Wachstumsunternehmen, den sogenannten Hidden Champions, vollumfänglich kompatibel mit den Anforderungen der enträumlichten Globalisierung.

Solche Unterschiede lassen national divergierende Konzeptionen und Vorstellungen von dem künftigen Raum entstehen. Zugleich freilich veränderte der Integrationsschub der Europäischen Union die Raumkonzeption der meisten europäischen Nationalstaaten. Daher gilt es, auch klar zu unterscheiden zwischen den Raumvorstellungen einer Europäisierung einerseits und der Globalisierung andererseits. Denn der Prozess der europäischen Integration und die Etablierung der Europäischen Union führten ihrerseits parallel zur Globalisierung zur Verflüssigung der nationalen Grenzen und konstruierten damit ein genuin europäisches Territorium. Tatsächlich entstand seit den 1980er Jahren ein „europäischer Verwaltungsraum“, in dem sich die Verpflichtung der Nationalstaaten auf ein gemeinsames europäisches Modell materialisierte.[84] Dieser Integrationsprozess steigerte die Individualrechte, während umgekehrt die Souveränitätsrechte der Nationalstaaten zurückgingen. Im europäischen Verwaltungsraum sind Citizenship und soziale Rechte nicht mehr exklusiv an das nationale Territorium gebunden.[85] Anders als Großbritannien waren Deutschland und Frankreich die wichtigsten Triebkräfte hinter der Konstruktion der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion und damit des europäischen Verwaltungsraums. Beide Staaten kamen gewissermaßen darin überein, ihre nationalen Territorien (zusammen mit den anderen) allmählich zu fusionieren. Um supranational gültige Individualrechte zu genießen und Zugang zur jeweiligen sozialen Infrastruktur zu erhalten, spielt es kaum mehr eine Rolle, ob man in Frankreich oder Deutschland (oder in einem anderen Land der Europäischen Union) lebt.

Diese Gestaltung eines transnationalen europäischen Raums, mit Frankreich und Deutschland an der Spitze, lässt sich unter zweierlei Gesichtspunkten betrachten: Zum einen handelte es sich offenkundig um die Konstruktion eines gegen den Rest der Welt geschützten Raums. Auf der anderen Seite ging (und geht) es den Europäern darum, Europa und seine Nationalstaaten in einer globalisierten Welt wettbewerbsfähig zu machen. Dieser Europäisierungsprozess ist daher systematisch von jenen Raumvorstellungen zu unterscheiden, die der Globalisierung zugrunde liegen. Denn die Globalisierung konstituiert ein neues, dezentralisiertes und im Kern deterritorialisiertes System aus Kommunikation, ökonomischer Macht und Einfluss. Abhängig von internationaler Deregulierung, globalen finanziellen und ökonomischen Verflechtungen, dem globalen Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie grenzenlosen Medien und Informationstechnologien geht dieses System weit über die territorial stets begrenzte Vorstellung des europäischen Raums hinaus. Zugespitzt formuliert, ließe sich sogar argumentieren, dass die Europäische Union einen Gegenraum zu konstruieren suchte, der sich gegen die voranschreitende Auflösung der Räume im Sinne von Zygmunt Baumans „flüssiger Moderne“ richtet.[86]

Freilich stand dieser Gegenraum in einem dialektischen Verhältnis zur Globalität, öffnete er doch auch für die europäischen Nationalstaaten das Tor zur Globalisierung. Im Quai d’Orsay befürchtete man 1987, die Globalisierung der Kapitalmärkte werde womöglich vollendet sein, „bevor die EG ihre eigenen Märkte integrieren könne“. Umso wichtiger sei es, Europa mit einer „spezifischen Rolle“ im Globalisierungsgeschehen auszustatten.[87] Treffend unterstrich dies 1988 ein Mitarbeiter des Bundesministeriums der Finanzen, als er den Bundestagsabgeordneten die Prinzipien der Kapitalmarktliberalisierung erläuterte. Diese erfolge zwar im Rahmen der europäischen Integration, als allgemeiner Grundsatz sei aber akzeptiert,

„daß die Liberalisierung weltoffen sein müsse. [...] Auf Grund der faktischen Situation, daß man es mit globalen Märkten zu tun habe, seien alle übrigen Mitgliedstaaten überzeugt, daß die Liberalisierung weltoffen sein müsse. [...] Die Bundesrepublik trete dafür ein, daß der Liberalisierungsstand, zu dem man gegenüber den Mitgliedstaaten verpflichtet sei, auch gegenüber Drittstaaten eingehalten werde.“[88]

Faktisch sollte also der europäische Binnenmarkt mit seiner Wirtschafts- und Währungsunion für den steigenden internationalen Wettbewerb im Zeichen der Globalisierung fit gemacht werden. Schon seit den 1980er, aber vor allem in den 1990er Jahren begannen multinationale Konzerne, ihre Produktion in Niedriglohnländer zu verlagern, und entsprechend stieg der Druck auf die westeuropäischen Arbeitsmärkte und Arbeitsbedingungen. Millionen industrieller Jobs gingen verloren, ohne dass der wachsende Dienstleistungssektor volle Kompensation versprach. Während der Sozialstaat unter Beschuss geriet, sahen sich die westeuropäischen Gesellschaften zunehmend mit Tendenzen sozialer Polarisierung und Exklusion konfrontiert. In diesem Kontext erschien das Konzept einer europäischen Wissensgesellschaft als eine integrative und attraktive Querschnittsstrategie, mittels derer sich in Europa die kulturellen Ressourcen mobilisieren, die Ökonomien modernisieren und somit die Wettbewerbsfähigkeit steigern ließen. Bis zum Ende der 1990er Jahre hatten sich die politischen Akteure in Europa geradezu enthusiastisch die Perspektive einer solchen Wissensgesellschaft angeeignet. „Die Europäische Union“, so formulierte es der Sondergipfel des Europäischen Rats in Lissabon im März 2000, „ist mit einem Quantensprung konfrontiert, der aus der Globalisierung und den Herausforderungen einer neuen wissensbasierten Wirtschaft resultiert“.[89] Beraten von sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Theoretikern und praxiserfahrenen, privatwirtschaftlichen Befürwortern des Modells,[90] machte die Europäische Union die Sprache der Wissensgesellschaft zu ihrem Programm und konzipierte damit auch ihre Raumvorstellungen: Im Jahr 2000 verabschiedeten die Europäer die sogenannte Lissabon-Strategie, die darauf zielte, Europa bis 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen“.[91] Technologische, ökonomische und wettbewerbliche Faktoren, aber auch Aspekte des persönlichen Glücks und die Idee eines guten Lebens verknüpften sich in dieser neuen Strategie.[92]

Wesentliche Voraussetzung für eine solche Vision war die exponentielle Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien, die Anlass zu neuen Raumutopien gab. So sagte Manuel Castells, ebenfalls einer der Stichwortgeber der europäischen Wissensgesellschaft und Autor des einflussreichen Werks über das „Informationszeitalter“,[93] die Entstehung einer Netzwerkgesellschaft voraus. Die Basis einer solchen emanzipativen Gesellschaft sei die direkte Verbindung zwischen dem Netz und dem Selbst, die traditionelle Quellen der Macht wie die patriarchalische Familie oder den Nationalstaat hinter sich lasse. Auf diese Weise werde die Netzwerkgesellschaft zu einer offenen Struktur, die sich von einer Gesellschaft, die auf Klassen oder sozialen Schichten beruht, fundamental unterscheide. Allerdings werden am Beispiel Castells die sehr widersprüchlichen Raumvorstellungen deutlich, die dem Kontrast zwischen der durch die Nationalregierungen forcierten europäischen Wissensgesellschaft und der Globalisierung zugrunde lagen. Zielte letztere auf eine tatsächlich weltweite Einebnung aller Grenzen und eine global frei zirkulierende Kommunikation, so bildete erstere die spezifische europäische Antwort auf diese Entwicklung.

Jedoch ist das dahinter stehende Konzept, Europa zum wettbewerbsfähigsten „wissensbasierten Wirtschaftsraum“ zu machen, so lässt sich rückblickend sagen, mehr oder weniger komplett gescheitert.[94] Stattdessen haben seit Beginn des 21. Jahrhunderts die nationalen Egoismen und damit einhergehend national geschlossene Raumvorstellungen eine unerwartete Renaissance erfahren. Im Besonderen gilt dies für die Neuverhandlung der Migrationsregime, die seit den 2010er Jahren in vollem Gange ist. Grenzenlose Räume für Güter und Finanzströme, Kapital und Kommunikation sind eben keineswegs gleichbedeutend mit grenzenlosen Räumen für Menschen.[95] Selbst im Europa des Schengen-Raums dominieren nach wie vor Migrationsregime, die national eingerichtet sind und sich letztendlich gegen die freie Mobilität von Menschen richten.[96] Systeme der freien Kapitalzirkulation koexistieren mit Systemen begrenzter Freizügigkeit von Menschen. Staatliche Souveränität und nationales Territorium sind wieder Schlüsselkonzepte aktueller Weltpolitik geworden. Ebenso konkurrieren Rechtssysteme, die staatlicher Souveränität entspringen, mit menschenrechtsbasierten Ansprüchen, die per definitionem grenzenlos, denationalisiert und deterritorialisiert sind.

Diese Tendenzen ebenso wie die jüngsten protektionistischen Maßnahmen vor allem der USA sowie das Entstehen neuer nationalstaatlich dominierter Einflusszonen in Russland und Nordostasien lassen vermuten, dass die dynamische, auf Deterritorialisierung und Globalisierung hin orientierte Raumentwicklung ihren Höhepunkt möglicherweise überschritten hat. Fast scheint es, zumal in Zeiten der Corona-Pandemie, als wolle der Kaiser seine alten Kleider wieder anlegen, um vor anderen nicht mehr nackt dazustehen und sich selbst erkennen zu können. Für die Zeitgeschichte gilt es, die historischen Voraussetzungen und Prozesse dieser jüngsten Entwicklungen besser kennenzulernen.

IV. Globalisierung als Begriff der Zeitgeschichte?

Dies führt abschließend noch einmal zu der Frage, welchen Wert der Begriff Globalisierung für die zeitgeschichtliche Forschung haben kann. Dass er auf die Zeit seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts begrenzt und von früheren Epochen transnationaler und transregionaler Verflechtung unterschieden werden sollte, ist bereits ausgeführt worden. Andernfalls würde der Begriff bis zur Beliebigkeit gedehnt und infolgedessen für die wissenschaftliche Analyse unbrauchbar. Insofern plädieren wir dafür, von der Globalisierung nur zu sprechen, wenn sie entweder als Quellenbegriff greifbar ist oder als analytischer Begriff für die Epoche seit den 1970er Jahren spezifische Erklärungskraft hat. Dabei verhält es sich wie meist in den historischen Wissenschaften: Ein Quellenbegriff, der für sich genommen durchaus einen geschichtlichen Gegenstand konstituieren kann, ist deswegen noch kein analytischer Begriff; aus der Spannung zwischen beidem ergibt sich dann das charakteristische methodische Dilemma, das die modernen Bewegungsbegriffe der Geschichtswissenschaft aufbürden. Allerdings sollten Historikerinnen und Historiker diese Divergenz nicht zum Vorwand nehmen, auf den Begriff gänzlich zu verzichten. Dies wäre wohl auch schlechterdings nicht möglich, da er sich in einem spezifischen, zeithistorisch hoch relevanten Feld auf breiter Front durchgesetzt hat. Und wenn man ihn als das nimmt, was er auch ist, nämlich als einen Begriff der gesellschaftlichen und politischen Selbstbeschreibung und Selbstreflexion, ergeben sich bereits erste Hinweise zum Umgang mit dem genannten Dilemma.

Die Globalisierung gehört zu jenen Bewegungsbegriffen, die seit der Frühen Neuzeit ein verändertes Zeitempfinden anzeigen und einen zeitlichen „Veränderungskoeffizienten“ enthalten.[97] Damit vereinigt der Begriff in sich unterschiedliche Zeitstrukturen. Ähnlich wie etwa die Begriffe Modernisierung, Liberalisierung oder Demokratisierung lässt auch die Globalisierung nicht aus sich selbst heraus erkennen, auf welche jeweilige zeitliche Binnenstruktur sie sich bezieht. Reagiert der Begriff auf bereits vollzogene Veränderungen oder beschreibt er gegenwärtige Phänomene? Will er Veränderungen mittels gesteigerter diskursiver Macht erst herbeiführen,[98] oder dient er zur Negativdiagnose der Gegenwart in dem Sinne, dass die Globalisierung als Problemerzeuger identifiziert wird? Die Antworten hängen von der jeweiligen Fragestellung und Analyseebene ab. Jedenfalls integriert der Globalisierungsbegriff offenkundig jede der drei genannten Zeitschichten: als Reaktion auf Vergangenes, als Gegenwartsbeschreibung und als Zukunftsverlangen. Als Spezialisten für die Erfassung der Zeit als verursachenden Faktor und für prozessualen Wandel sind die Historikerinnen und Historiker berufen, diese Zeitschichten zu unterscheiden, um ihren entsprechenden Sinngehalt zu destillieren. Damit wird zugleich der erste Schritt getan, um einen analytischen Begriff der Globalisierung zu gewinnen, der wissenschaftlich verwendbar ist.

Anhand des in den beiden vorigen Kapiteln Gesagten lässt sich dies konkretisieren: Das Sprechen über Globalisierung entstand allmählich in den 1950er Jahren, wobei sich zunächst ein analytisch verwendeter Beobachtungsbegriff herausbildete. Im Mittelpunkt stand dabei die Erkenntnis, dass die Entwicklungstendenzen der Gegenwart über die aus der Vergangenheit bekannten Grenzen hinausdrängten. Gleich, ob es sich um die Dynamik der westlichen Industriekultur, den Wirkungskreis internationaler Organisationen, das System der internationalen Beziehungen oder die Erwartungen an die Universitäten handelte: Neuartige internationale oder als universal wahrgenommene Bewegungskräfte überlagerten die bekannten lokalen, regionalen und nationalen Begrenzungen und stellten sie in Frage.[99] Globalisierung entsprang hier also der Beobachtung eines gegenwärtigen Wandlungsprozesses, von dem man eine neue Wirklichkeit erwartete.

In den 1970er und 1980er Jahren dagegen veränderte sich die temporale Stoßrichtung der Globalisierung. Soweit er sich in erster Linie im ökonomischen und wirtschafts- und handelspolitischen Kontext etablierte, wechselte der Begriff nun gleichsam die Zeitebene. Denn Globalisierung meinte in diesem Zusammenhang nicht mehr die Beschreibung der Gegenwart. Vielmehr reagierte die Begriffsbildung auf einen in der Vergangenheit geformten Zustand, der als unbefriedigend und hemmend betrachtet wurde. Von den multinationalen Unternehmen über die Wirtschaftsfunktionäre bis hin zu den Staats- und Regierungschefs galten alle Maßnahmen, die ökonomische Zirkulationshemmnisse abbauten, als wünschenswert. Sie erfolgten im Bewusstsein eines wohlverstandenen nationalen beziehungsweise nationalstaatlichen Interesses. Und sofern sich damit ein dezidiert politisches Projekt zur Überwindung der krisenhaften Gegenwart verband, richtete sich der Globalisierungsbegriff auf eine anzustrebende Zukunft. Eine solche kognitive Verschränkung von einer zu überwindenden Vergangenheit, welche die Gegenwart noch allzu sehr konditionierte, und einer – freilich nur vage beschriebenen – besseren ökonomischen Zukunft kennzeichnet die eigentümliche Schwebelage der 1980er und 1990er Jahre. Einerseits entwickelten die damals getroffenen Maßnahmen zur Liberalisierung des Handels und zur Deregulierung der Finanzmärkte primär die bereits stark miteinander verflochtene Triade fort. Andererseits aber kann eben dieser weltumspannende Wirtschaftsraum zwischen Nordamerika, Westeuropa und den industrialisierten Staaten Ostasiens, zu denen bald auch China hinzutrat, mit Fug und Recht als entscheidender Treiber der Globalisierung im Wortsinne gelten. Hier wurde der Begriff selbst nunmehr zum Programm, mit dem sich der rhetorische Anspruch verband, eine Verheißung für die weltweit gedachte Zukunft durchzusetzen. Einen als unzulänglich definierten Zustand der Gegenwart galt es also, mittels des Globalisierungsbegriffs zu überwinden, um einen künftig erwünschten Zustand überhaupt erst herzustellen. Das bald ubiquitäre Reden über die Globalisierung wurde somit zu einem Teil der Globalisierung selbst.[100]

Dies war der Augenblick, in dem sich die Stoßrichtung des Begriffs noch einmal klar veränderte. Einerseits stark normativ aufgeladen und geradezu als Heilsbringer ideologisiert, verlor er zugleich seine ursprüngliche Konnotation als politisches Projekt der Nationalstaaten. Vielmehr wurden die dynamisch-vorwärtsweisende Globalisierung und der statisch-rückwärtsgewandte Nationalstaat zumindest tendenziell als Gegensätze konstruiert, wofür die Prozesse der Deterritorialisierung und Denationalisierung ausreichendes Anschauungsmaterial boten. Zugleich diffundierte der Begriff Globalisierung zum Teil ins Uferlose, was ihn zwar zum sehr häufig verwendeten Quellenbegriff machte, seine analytische Brauchbarkeit jedoch reduzierte. Umgekehrt verstellt ein blindes Ankämpfen gegen die Globalisierung und ihre vermeintlichen oder wirklichen Problemerzeugungen ebenso das analytische Potenzial, das dem Begriff innewohnen könnte.

Keineswegs also sollte die Zeitgeschichte die Analyse, Erklärung und damit die Verwendung dieses wohl wichtigsten Bewegungsbegriffs unserer Tage scheuen. Sie überließe damit nicht nur unnötigerweise das Feld komplett den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, sondern sie verzichtete auch auf die Anwendung ihres disziplinären Propriums: die Möglichkeit nämlich, die Objekte ihrer Forschung in eine zurückblickende und längerfristige Entwicklungsperspektive zu setzen. Auch und gerade für die Globalisierung gilt: Die Geschichte als Wissenschaft vermag die unterschiedlichen Zeitschichten und -bezüge ihrer Gegenstände präzise herauszuarbeiten, sie zu historisieren und damit analytisch auf Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen, Interessen und Absichten, Funktionen und Folgen zu befragen.

Published Online: 2020-10-01
Published in Print: 2020-09-25

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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