Home Editorial
Article Open Access

Editorial

Published/Copyright: November 29, 2022

Der russische Überfall auf die Ukraine hat eines deutlich werden lassen: die Russlandpolitik Deutschlands stand für mehr als zwei Jahrzehnte auf tönernen Füßen. Sie war von Illusionen geleitet und bestach durch eine unglaubliche Ignoranz der politischen Führung gegenüber Warnungen, die aus dem befreundeten Ausland oder aus dem Bereich der Wissenschaft kamen. Das vorliegende Heft versucht zu ergründen, warum Deutschland als eine sich als gereift verstehende außenpolitische Macht derartige strategische Irrwege beschritten hat. Daneben verfolgen wir natürlich die Entwicklung in der Ukraine.

Der erste Artikel von Andreas Heinemann-Grüder befasst sich mit den Ursachen der gescheiterten Russlandpolitik Berlins. Diese war über mehr als zwei Jahrzehnte von dem unverbrüchlichen Glauben an die Segnungen einer Partnerschaft mit Russland gekennzeichnet. Die Politik der Partnerschaft hatte, so der Verfasser, während der ergebnisoffenen Transformation Russlands in den 1990er Jahren ihre Berechtigung. Sie verlor aber mit dem Regime, das Putin repräsentierte, ihre Grundlage. Ein Wandel der deutschen Politik sei allerdings ausgeblieben, weil die beteiligten Politiker ihr Selbstbild und die Wirtschaftsakteure ihre ökonomischen Vorteile nicht preisgeben wollten. Obschon es frühzeitig Warnungen vor der autoritären Regression in Russland gab, habe die Bundesregierung mit einem zutiefst korrupten und autoritären Regime kooperiert und ihm sogar den Zugriff auf kritische Infrastrukturen in Deutschland ermöglicht. Der Krieg gegen die Ukraine habe diese Illusionen deutscher Politik zerstört.

Der Beitrag von Frank Umbach weist ferner darauf hin, dass Deutschlands gescheiterte Russland-Politik der letzten beiden Jahrzehnte mit ihren kollektiven Fehlannahmen und Fehleinschätzungen eng mit der seit 2002 verfolgten Energiepolitik verbunden war und ist. Der Faktor Versorgungssicherheit und die damit verbundenen geopolitischen Risiken wurden von den Bundesregierungen, aber auch den einschlägigen Ökonomen und Wirtschaftsjournalisten sowie der Wirtschaft weitgehend ausgeblendet oder marginalisiert. Die steigende Gasimportabhängigkeit von Russland sei auch die Folge des deutschen Doppelausstiegs aus der Kernenergie und der Kohle. Sowohl Deutschlands Russlandpolitik wie auch seine energiepolitischen Alleingänge hätten in Brüssel und bei den Nachbarstaaten Deutschlands und in den USA erhebliches Misstrauen verursacht. In der Perzeption vieler Europäer habe Deutschland als größte und mächtigste Wirtschaftsmacht in Europa das Kernprinzip der politischen Solidarität wiederholt nicht beachtet und nicht vorgelebt. Aus diesen Fehlern müsse Deutschland nun die richtigen Schlussfolgerungen für seine „Zeitenwende“ ziehen, um weitere kostspielige Fehlentscheidungen und außenpolitische Kollateralschäden bei seiner künftigen Energiewende zu vermeiden.

Der Artikel von Joachim Krause versucht historische Parallelen in der deutschen Politik aufzuzeigen. Die Phase strategischer Irrtümer deutscher Außenpolitik der vergangenen 25 Jahre weise – trotz unterschiedlicher Ausgangsbedingungen – Ähnlichkeiten mit einer früheren Phase strategischen Irrens auf: den Jahren zwischen 1890 und 1914. Der Artikel analysiert diese Zeit, indem nach drei Perioden differenziert wird, in denen die verantwortlichen Politiker trotz des Bewusstseins für das Bestehen einer existenziellen Gefahr für das Deutsche Reich eine ideologisch angeleitete und realitätsfremde Politik betrieben hätten. Strategische Blindheit, die Abwesenheit eines strategischen Zentrums, ein sorgloser Umgang mit militärischen Machtmitteln und eine zutiefst von patriotischen Gefühlen getriebene Politik hätten zu einer Selbstisolierung Deutschlands und zu Maßnahmen beigetragen, durch die die militärische Situation des Reiches immer aussichtsloser wurde und der Krieg als einziger Ausweg erschien. Die jüngste Phase strategischen Irrtums wäre zwar durch Post-Nationalismus und Pazifismus gekennzeichnet, sie habe dennoch auch dazu beigetragen, dass ein neuer Krieg in Europa ausbrechen konnte.

Zwei weitere Beiträge befassen sich mit dem Ukraine-Krieg. Der Aufsatz von Stig Förster widmet sich der Frage nach historischen Parallelen zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine. Er gelangt zu dem Ergebnis, dass die Suche nach Ähnlichkeiten in der Geschichte mit Vorsicht angegangen werden sollte. Schnellschüsse, die auf oberflächlich betrachteten, scheinbaren Analogien beruhen, führten nicht weiter. Es sei zweifelhaft, ob das Putin-Regime wirklich einen Blitzkrieg anstrebte. Vergleiche mit einstigen angeblichen Blitzkriegsoperationen überzeugten nicht. Der sowjetische Winterkrieg 1940 gegen Finnland eigne sich ebenfalls nicht für einen Vergleich. Die extreme Gewalttätigkeit der russischen Kriegführung sei keine Besonderheit, sondern wäre ein strukturelles Problem in der russisch-sowjetischen Militärgeschichte. Große Ähnlichkeiten bestünden allerdings mit der deutschen Geschichte von 1918 bis 1945 und der russischen Entwicklung seit 1991. In beiden Fällen seien Revisionismus und ideologisch motiviertes Weltmachtstreben zu konstatieren.

Die Kurzanalyse von Kira Frankenthal und Arthur de Liedekerke befasst sich mit der Rolle von Belarus im derzeitigen Krieg. Die Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass Belarus und die Ukraine zwei alternative Wege aufzeigen, wie Russland versucht seinen früheren Machtbereich wiederzuerobern: Im Fall von Belarus finde eine „sanfte“ Annexion statt, im Fall der Ukraine eine brutale Form der Annexion.

Der Aufsatz von Sean Monaghan geht über den eigentlichen Ukraine-Krieg hinaus und befasst sich mit den notwendig werdenden Anpassungen der NATO. Ausgehend von den Ergebnissen des Madrid-Gipfels fordert er, dass die NATO die grundlegenden Lehren ihres früheren strategischen Konzeptes revitalisieren und modernisieren müsse, mit dem sie seinerzeit erfolgreich von sowjetischen Angriffen abgeschreckt habe. Dies betrifft insbesondere das Zusammenspiel von „Schwert“, „Schild“ und „Igel.“ Das bedeute, dass die nukleare Abschreckungsmacht der NATO gestärkt werden müsse, dass in eine konventionelle Vorneverteidigung zu investieren sei und dass die Fähigkeiten der östlichen Alliierten zur Abwehr und Abschreckung gegen alle Formen russischer Aggression verbessert werden müssten.

Die Besprechungen im abschließenden Teil fokussieren sich hauptsächlich auf den Ukraine-Krieg. Dabei werden Szenarien der Eskalation besprochen, die Abhängigkeit der russischen Verteidigungsindustrie von westlichen Technologien sowie eine Analyse der Yale-Universität zu den Folgewirkungen der westlichen Sanktionen gegen Russland. In der Kategorie „Bücher von gestern – heute gelesen“ wird das Buch von Karen Dawisha über das kleptokratische und kriminelle System Putins vorgestellt. Dieses Buch erschien 2014 und hätte auch den Entscheidungsträgern in Berlin die Augen öffnen können.

Im Buchbesprechungsteil wird ferner eine Monographie des früheren deutschen Botschafters in Moskau besprochen sowie ein Buch zur Welt der Geheimdienste und eines zur nuklearen Stabilität in Südasien.

Wir wünschen allen Leserinnen und Lesern eine anregende Lektüre.

Die Herausgeber

Published Online: 2022-11-29
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Editorial
  4. Aufsätze
  5. Russland-Politik in der Ära Merkel
  6. Strategische Irrtümer, Fehler und Fehlannahmen der deutschen Energiepolitik seit 2002
  7. Strategische Irrtümer deutscher Außenpolitik im Rückblick – die Jahre von 1890 bis 1914
  8. Alles schon mal dagewesen? Der russische Aggressionskrieg gegen die Ukraine in historischer Perspektive
  9. Das Schwert, der Schild und der Igel – Die Stärkung der Abschreckung im Rahmen des neuen Strategischen Konzepts der NATO
  10. Kurzanalyse
  11. Die strategische Bedeutung von Belarus im Ukraine-Krieg – interne und externe Entwicklungen
  12. Besprechungen strategischer Analysen
  13. Ukraine-Krieg
  14. Jeffrey Mankoff: Russia’s War in Ukraine. Identity, History and Conflict. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), April 2022,
  15. Jack Watling/Nick Reynolds: Ukraine at War. Paving the Road from Survival to Victory. London: Royal United Services Institute (RUSI), Juli 2022
  16. James Byrne/Gary Somerville/Joseph Byrne/Jack Watling/Nick Reynolds/Jane Baker: Silicon Lifeline: Western Electronics at the Heart of Russia’s War Machine. London: Royal United Services Institute (RUSI), August 2022
  17. Bryan Frederick/Samuel Charap/Scott Boston/Stephen J. Flanagan/Michael J. Mazarr/Jennifer D. P. Moroney/Karl P. Mueller: Pathways to Russian Escalation Against NATO from the Ukraine War. RAND Corporation, Juli 2022.
  18. Jeffrey A. Sonnenfeld/Steven Tian/Franek Sokolowski/Michal Wyrebkowski/Mateusz Kasprowicz: Business Retreats and Sanctions Are Crippling the Russian Economy. Measures of Current Economic Activity and Economic Outlook Point to Devastating Impact on Russia. New Haven: Yale University, Juli 2022
  19. Europa und China
  20. Ian Bond/François Godement/Hanns W. Maull/Volker Stanzel: Rebooting Europe’s China Strategy. Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik, Mai 2022
  21. Bücher von gestern – heute gelesen
  22. Karen Dawisha: Putin´s Kleptocracy. Who owns Russia? New York, London, Toronto, Sydney, New Delhi: Simon & Schuster 2014, 464 Seiten
  23. Buchbesprechungen
  24. Rüdiger von Fritsch: Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen. 1. Auflage. Berlin: Aufbau Verlage 2022, 176 Seiten
  25. Gert R. Polli: Schattenwelten. Österreichs Geheimdienstchef erzählt. 1. Auflage. Graz: Ares Verlag 2022, 320 Seiten
  26. Ashley J. Tellis: Striking Asymmetries. Nuclear Transitions in South East Asia. Washington, D.C.: Carnegie Endowment 2022, 318 Seiten
  27. Bildnachweise
Downloaded on 1.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2022-4001/html
Scroll to top button