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Gert R. Polli: Schattenwelten. Österreichs Geheimdienstchef erzählt. 1. Auflage. Graz: Ares Verlag 2022, 320 Seiten

  • Jakob Kullik

    Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

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Published/Copyright: November 29, 2022

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GertR.Polli: R. Polli: Schattenwelten Österreichs Geheimdienstchef erzählt. 1. Auflage Graz Ares Verlag 2022 1 320


In der auf dem deutschen Buchmarkt verfügbaren (seriösen) Sach- und Memoiren-Literatur zu Geheimdiensten sind es die bedeutenden westlichen Staaten (USA, Großbritannien, Deutschland), die bevorzugt aufgegriffen werden, oder jene, um deren Nachrichtendienste sich Legenden ranken (Israel, Russland). Die Geheimdienste kleinerer Staaten werden meist kaum beachtet. Und dennoch existieren sie und dienen ihren jeweiligen nationalen Regierungen in den sprichwörtlichen Schattenwelten. Eines dieser Länder, über dessen geheimdienstliche Aktivitäten man hierzulande kaum etwas hört, ist unser Nachbar Österreich. Die Alpenrepublik ist zwar kein sicherheitspolitischer Global Player, und ihre Neutralitätspolitik macht sie für strategische Großdebatten nur bedingt relevant. Dennoch ist es gerade die geografische Lage im Herzen Europas, die das Land als Drehschreibe für geheimdienstliche Aktivitäten interessant macht. Es sollte Berlin also interessieren, was Wien denkt und was dort vor sich geht. Einer, der einen tiefen Einblick in die Geschehnisse und Abläufe der österreichischen Innen-, Sicherheits- und Nachrichtendienstpolitik hat, ist Gert R. Polli. Er war von 2002 bis 2008 Direktor des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT), das er mit aufgebaut hat. In seinem neuen Buch Schattenwelten. Österreichs Geheimdienstchef erzählt gewährt Polli dem Leser tiefe Ein- und Überblicke in seine professionelle Karriere und sein Privatleben. Wie bei allen Abhandlungen zur Welt der Geheimdienste ohne nachvollziehbaren Quellenapparat und spezielle Insider-Kenntnisse sind auch seine Ausführungen mit einer gewissen Vorsicht zu genießen – das bringt das Metier mit sich. Man sollte das Buch daher als Einladung für und Eintrittstor in eine Welt voller Geheimnisse, Intrigen, Skandale und Täuschungen sehen. Es sind drei Merkmale, die das Buch zu einem hochinteressanten Lesevergnügen machen.

Erstens, der biografische Werdegang des Autors. Sich vom einstigen Tischlerlehrling aus Kärnten zum ersten Direktor des österreichischen Inlandsgeheimdienstes und späteren Leiter der Konzernsicherheit bei Siemens hochzuarbeiten, darf mit Recht als beeindruckende Aufsteigerkarriere bezeichnet werden. Polli zeigt, wie früh er mit Lebens- und Berufsentscheidungen haderte, welche Motive und Interessen ihn antrieben und wie er mit Niederlagen, Weggefährten, Kollegen und Vorgesetzten umging (und sie mit ihm). Tiefsinnige Reflexionen wechseln sich mit sprichwörtlichen Lausbuben-Streichen ab, etwa wenn er (fast schon genüsslich) schildert, wie es ihm zusammen mit seinem einstigen Klassenkameraden an der Militärakademie gelang, die Aufgaben der Russisch-Klausur zu stehlen, um durch den Kurs zu kommen. Retrospektiv könnte man hier bereits eine gewisse nachrichtendienstliche Affinität erkennen. Gleichwohl gibt er gleich zu Beginn des Buchs zu, dass sein Wechsel vom Heeres-Nachrichtenamt ins Innenministerium und von dort später ins BVT „ein nicht mehr wiedergutzumachender Fehler“ (S. 12) gewesen sei. Folgt man Pollis Ausführungen bis zum Schluss, wird deutlich, warum er zu diesem Schluss gekommen ist. Er sei in eine „Schlangengrube“ aus „permanenten externen und internen Anfeindungen“ (ebd.) geworfen worden. Das Buch hätte somit statt Schattenwelten wohl auch Schlangengruben heißen können.

Das zweite Merkmal und zugleich größter Mehrwert des Buchs sind die detaillierten Ausführungen und Analysen zur Funktionsweise des österreichischen Sicherheitsapparats, der Zusammenarbeit mit ausländischen Geheimdiensten und – als unterhaltsames Sahnebonbon – die Schilderungen der Treffen mit diversen Geheimdienstchefs. Was der Rezensent vermutete, und Polli in aller Offenheit darlegt, sind die exponierte Stellung Wiens als Europas Geheimdienst-Drehscheibe und – noch bedenklicher – die selbstverschuldete Hilflosigkeit der österreichischen Regierung, diesem Treiben Einhalt zu gebieten: „Paradoxerweise werden geheimdienstliche Operationen eher selten durch österreichische Akteure, wie das BVT oder das Heeres-Nachrichtenamt, initiiert. Meist sind andere Dienste die Akteure solcher nachrichtendienstlichen Operationen, und wir dulden solche Aktivitäten auf unserem Staatsgebiet. Noch besser ist es allerdings, wenn man davon überhaupt nichts mitbekommt. […] Ein stillschweigender Konsens hat sich über Jahre eingebürgert: Man weiht uns nicht ein – und wir sind dafür auch noch dankbar. So funktioniert Spionageabwehr in Österreich im Kern“ (S. 16). Wer also dachte, dass Deutschland einen eher entspannten (manche würde sagen dilettantischen) Umgang mit fremden Nachrichtendiensten auf dem eigenen Staatsgebiet pflegt, muss nur nach Österreich schauen – es gibt immer eine Steigerung. Dennoch ist nicht alles schlecht. Polli wirkte jahrelang an führender Stelle mit, um den von allerlei Befindlichkeiten, tradierten Behördenabläufen und teils überholten Denkmustern gekennzeichneten Geheimdienst neu aufzubauen, um schlussendlich den Interessen seines Landes zu dienen. Eine belastbare Portion Patriotismus ist für diesen Beruf unabdingbar. Wer indes in dieser Welt bestehen und Erfolg haben will, brauche die richtige Denkweise, neudeutsch Mindset: „Sehr bald musste ich zur Kenntnis nehmen, dass es nicht nur Schwarz und Weiß gab, sondern unendlich viele Schattierungen dazwischen. Was mir in dieser Funktion anfänglich schwerfiel, war, mir einzugestehen, dass es weder Freunde noch Feinde gab. Es gab aber Interessen und Koalitionen, und beide wechselten ständig. Es war nicht mehr das einfache Schachspiel. Die Spieler wechselten permanent, und die Figuren änderten ihre Wertigkeit während des Spiels. Willkommen in der Welt der Geheimdienste. War das Leben beim Militär doch so einfach gewesen“ (S. 126). Dieses Plädoyer für die Anerkennung sich verändernder (grauer) Komplexitäten ist in der heutigen Welt umso wichtiger. Den gedanklich-analytischen Sprung in diese neue Welt hatten, so Polli, jedoch zu seiner Zeit noch nicht alle österreichischen Sicherheitsinstitutionen geschafft: „Das Ende des Kalten Krieges brachte es mit sich, dass das Konzept des militärischen Auslandsnachrichtendienstes implodierte. Was zuvor als Erfolgsmodell gegolten hatte, war in der Zeit der Terrorismusbekämpfung und der grenzüberschreitenden Kriminalität zu einer Falle für das Heeres-Nachrichtenamt geworden. Voller Misstrauen und Argwohn betrachtete man dort das Innenministerium und die Schwesterorganisation BVT“ (S. 203). Dieses Misstrauen wandelte sich in ein manifestes Feindbild gegenüber dem Verfassungsschutz, aber vor allem gegenüber dessen Leiter (Polli). Über das Buch hinweg zeigt er auf, dass er sich immer wieder Anfeindungen, Unterstellungen bis hin zu Anklagen erwehren musste. Zeitweise wurde er gar als iranischer Agent diffamiert (S. 178, 272). Polli schildert diese Affären, die ihn selbst nach seinem Ausscheiden aus dem BVT bei seinem neuen Arbeitgeber Siemens einholten, nüchtern. Es ist eine Gratwanderung zwischen Reflexionen, Mutmaßungen und Unterstellungen. Dennoch sind seine persönliche Ergriffenheit und das langsame Verblassen der einstigen glühenden Diensthingabe zu spüren. Man fragt sich, wie diese authentischen Darstellungen auf (künftige) Geheimdienstmitarbeiter wirken – werden sie dadurch abgeschreckt, für so einen Dienstherren ihr Leben und ihre Freiheit zu opfern? Oder vielleicht nur illusionslos vorbereitet? In jedem Fall haben die dienstlichen Schattenwelten ihre Schatten auch auf Pollis Privatleben geworfen. Der Preis: Zwei gescheiterte Ehen und eine überstürzte Heimkehr aus seiner Wahlheimat Türkei zurück nach Wien.

Das dritte Merkmal des Buchs ist stärker indirekter Natur. Es sind die Ableitungen, die sich aus der Lektüre des Buchs für Deutschlands Sicherheitspolitik ergeben. Hier hält das Buch einige Parallelen bereit. Zugespitzt zeigen sich hier Deutschlands Probleme mit seiner Sicherheitspolitik im Kleinen. Auch bei uns hadert man mit den eigenen Nachrichtendiensten. Sie sind notgedrungen akzeptiert, Verständnis für deren Arbeit existiert kaum. Und auch die Thematisierung nationaler Interessen, wie sie Polli im Epilog bilanzierend schildert, ist – cum grano salis – auf die Bundesrepublik übertragbar: „Heute ist mir bewusst, dass es so etwas wie ein abstraktes nationales Interesse in Österreich nicht gibt. Vielleicht sind wir dafür zu klein und unbedeutend, vielleicht berücksichtigen wir die ausgeprägten partikularen Gruppen in unserem politischen System zu stark. Vielleicht sind wir auch ein Land mit zu vielen historisch tradierten Verhaltensweisen“ (S. 313). Vielleicht, so eine andere Deutung, verstellt Pollis intrigenreiche Leidensgeschichte mit dem eigenen Apparat aber auch seinen Blick in dieser Sache etwas zu stark. Denkbar wäre es in dieser Welt voller Schatten und Grautöne sehr wohl.

Pollis Buch ist eine bereichernde Lektüre über die Welt der Geheimdienste. Bei einigen Textstellen hätte das Lektorat etwas gründlicher sein können. Fragen kommen bei der Wahl der Verlage auf: sein erstes Buch (Deutschland zwischen den Fronten: Wie Europa zum Spielball von Politik und Geheimdiensten wird) erschien noch im Finanzbuch-Verlag, sein aktuelles im Ares Verlag, der als rechts-konservativ gilt. Von dieser Irritation abgesehen, ist Schattenwelten auch ein Dokument österreichischer Zeitgeschichte.

About the author

Jakob Kullik

Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand der Politikwissenschaft

Published Online: 2022-11-29
Published in Print: 2022-12-16

© 2022 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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