Bryan Frederick/Samuel Charap/Scott Boston/Stephen J. Flanagan/Michael J. Mazarr/Jennifer D. P. Moroney/Karl P. Mueller: Pathways to Russian Escalation Against NATO from the Ukraine War. RAND Corporation, Juli 2022.
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Frederick Bryan Charap Samuel Boston Scott Flanagan Stephen J. Mazarr Michael J. Moroney Jennifer D. P. Mueller: Karl P. Pathways to Russian Escalation Against NATO from the Ukraine War RAND Corporation Juli 2022
Die hier vorliegende Studie versucht potenzielle Eskalationsdynamiken zwischen der NATO und Russland im Rahmen des Ukrainekrieges zu antizipieren. Als Methodik legt das Autorenteam keine neue Primärforschung vor, sondern entwickelt aus bereits vorhandener Expertise verschiedene Pfade, die auf der Expertise über russische Außenpolitik, U.S. und NATO Militär, Abschreckung, Eskalationsdynamiken sowie der russischen und ukrainischen Militärkapazitäten abgeleitet beruhen. Die Studie beschreibt vier verschiedene potenzielle Eskalationspfade zwischen Russland und der NATO, die sich im Rahmen des Ukrainekrieges ergeben könnten. Diese werden jeweils in Vorbedingungen und Schritte zur Eskalation unterteilt.
„Pfad 0“ geht von dem Szenario aus, dass eine Eskalationsspirale zwischen NATO und Russland bereits begonnen hat, infolge der Verhängung westlicher Sanktionen und der militärischen Unterstützung der Ukraine durch westliche Staaten. Russische Gegenmaßnahmen könnten noch nicht erfolgt sein, da die russische Führung möglicherweise mit den Ereignissen in der Ukraine beschäftigt ist. Die Studie geht davon aus, dass die Eskalation hier im nicht-kinetischen Bereich beginnen würde und Vergeltungsmaßnahmen für die westlichen Aktionen darstellen.
Das zweite Szenario („Pfad 1“) geht von der Eskalationsdynamik einer Präemption gegen eine erwartete NATO Intervention in der Ukraine aus. Dies könnte besonders aus der russischen Wahrnehmung resultieren, dass eine großangelegte NATO-Intervention kurz bevorsteht. So könnte besonders die Impression eines politischen Handlungsdrucks infolge defensiver NATO-Maßnahmen an der Ostflanke der Allianz entstehen. Diese würden als Vorbereitungen der NATO interpretiert, in den Konflikt zu intervenieren. Hier wird von den Autoren im Besonderen vor einem unmittelbaren Einsatz von kinetischen Angriffen und dem möglichen Einsatz von Nuklearkapazitäten gewarnt.
Der nächste Pfad („2“) beschreibt die gewaltsame Unterbindung (interdiction) von Hilfslieferungen der NATO an die Ukraine. Hier wird von dem Szenario ausgegangen, dass Russland zu der Einschätzung kommen könnte, dass seine Kriegsziele in der Ukraine durch die NATO-Unterstützung gefährdet sind und daher die Zerstörung der Hilfslieferungen notwendig sei. Diese russischen Verhinderungsaktionen müssen jedoch nicht direkt kinetischer Natur sein, sondern könnten beispielweise auch durch Cyberattacken, Sabotageakte oder andere grey-area-Aktivitäten erfolgen. Sollten diese Maßnahmen und das Abfangen von Unterstützungslieferungen innerhalb der Ukraine nicht erfolgreich sein oder die NATO sich dazu entscheiden potenteres militärisches Gerät zu liefern, könnte Russland dazu übergehen, multiple relevante Ziele innerhalb des NATO-Bündnisgebietes anzugreifen und damit die Lieferungen zu stören und gleichzeitig den zu Westen zwingen, seine Lieferungen einzustellen.
Das letzte Szenario („Pfad 3“) geht von inneren Unruhen in Russland aus, die einen russischen Aggressionsschub auslösen würden. Um eine horizontale Eskalation voranzutreiben, müsste die innerrussische Instabilität jedoch signifikant ansteigen und die der Anti-Kriegs Proteste zu Beginn des Krieges deutlich überschreiten. Die russische Seite könnte zu dem Schluss kommen, dass Proteste im Inland dem Westen zuzuschreiben wären und demnach als direkter Angriff zu bewerten seien. Die Eskalationsspirale könnte hier zuerst mit nicht-physischen Angriffen beginnen und sich nach gegenseitigen Vergeltungsmaßnahmen und vergeblichen Abschreckungsversuchen zu kinetischen Attacken steigern. Die Autoren unterstreichen, dass sich mehrere Pfade simultan vollziehen und Eskalationsdynamiken sowohl bewusst als auch unbewusst von beiden Seiten angestoßen werden können.
Positiv hervorzuheben sind die Politikempfehlungen, mit welchen die Studie abschließt. Zum eigenen Umgang mit den Studienergebnissen geben jedoch auch die Autoren den Hinweis, dass Politiker die Szenarien im Blick behalten, aber nicht jeder Aktion ein akutes Eskalationsrisiko zugrunde legen sollten. Als hilfreich stellen sich zudem die kurzen, aber individuellen Bewertungen der Eintrittswahrscheinlichkeit der jeweiligen Szenarien dar. Die Studie bleibt besonders durch ihre strategischen Überlegungen, Identifizierung und Sensibilisierung von Faktoren im Rahmen von Eskalationssituationen und der damit einhergehenden Vorbereitung auf solche Ereignisse interessant. Ebenso können jedoch Bewertungen für Einschätzungen von Szenarien abweichen. Daher liegt ein Mehrwert der Studie auch darin, Impulse für weitergehende und erweiterte Perspektiven im Rahmen zukünftiger Überlegungen zu geben. Auch wenn die Rezension zu dieser Studie zum Veröffentlichungszeitraum hinter den Ereignissen zurückhängt, so gibt die Studie doch sinnvolle Denkanstöße über potenzielle Eskalationsszenarien, die mutatis mutandis trotz veränderter Umstände auf diesen Konflikt übertragen werden können.
https://www.rand.org/pubs/perspectives/PEA1971-1.html
About the author
Masterstudent, Vorsitzender der Hochschulgruppe für Außen- und Sicherheitspolitik
© 2022 bei den Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.
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