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Richter Wolfgang Erneuerung der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa. Vom Gleichgewicht der Blöcke zur regionalen Stabilität in der Krise Berlin SWP Juli 2019
2019 brachte die Kündigung des INF Vertrages und des Nuklearabkommens mit dem Iran durch die USA. Eine dringend erforderliche Verlängerung des START Vertrages mit Russland ist zu Beginn 2020 nicht in Sicht. Die über Jahrzehnte erfolgreiche, regelbasierte konventionelle Rüstungskontrolle in Europa scheint ebenfalls kurz vor ihrem Ende. Eine seit Jahren zu konstatierende, sich beschleunigende globale Rüstungsspirale im konventionellen wie nuklearen Bereich wirft die Grundsatzfrage nach den Aussichten und Chancen der Rüstungskontrolle auf. Wolfgang Richter hat sich diesen Fragen zum wiederholten Mal angenommen und legte im Juni 2019 bei der SWP in Berlin eine Studie vor, die eine Fortsetzung und Vertiefung seiner Gedanken zur konventionellen Rüstungskontrolle in Europa darstellt, wie er sie schon in seinem Aufsatz für das Jahrbuch der OSZE 2016 (erschienen 2018) skizziert hatte.
Im ersten Teil behandelt er die Entstehung konventioneller Rüstungskontrolle als Balance zwischen den beiden hochgerüsteten Blöcken NATO und Warschauer Pakt (WP) mit ihren Hauptverträgen KSE und Wiener Dokument. Durch die Implosion der Sowjetunion, die erste Runde der NATO Erweiterung und die Territorialkonflikte im postsowjetischen Raum (die Richter mit sehr aussagekräftigen Karten untermalt) seien die rüstungskontrollpolitischen Defizite der bestehenden Verträge deutlich geworden. Nach der ersten KSE Überprüfungskonferenz von 1996 sei es zur Aufnahme von Verhandlungen zur Anpassung des KSE Vertrages wie auch des Wiener Dokuments gekommen, die in den Verhandlungsgremien der OSZE in Wien geführt wurden.
Der auf dem OSZE Gipfel 1999 in Istanbul von den Vertragsstaaten unterzeichnete AKSE Vertrag wies vielversprechende Konzepte zum Erhalt regionaler Stabilität auf, die Richter überzeugend analysiert und bewertet. Im zweiten Teil der Studie kommt Richter zu dem Schluss, dass dessen Inkrafttreten an den immer stärker zu Tage tretenden geopolitischen Gegensätzen zwischen den USA und Russland scheiterte. Eine neue, gesamteuropäische Rüstungskontrollvereinbarung habe daher auch mittelfristig keine Aussicht auf Erfolg.
Im dritten Teil entwickelt er daher Eckwerte für einen Neuansatz der Rüstungskontrolle in Europa. Hierbei müssen politische Blockaden überwunden und neue konzeptionelle Überlegungen zu aktuellen Bedrohungsperzeptionen angestellt werden. Richter beginnt seine Überlegungen mit einer Betrachtung europäischer Rüstungskontrollprinzipien, wie sie in einem der Gipfeldokumente der OSZE 1996 in Lissabon festgelegt wurden. An Beispielen verdeutlicht er, dass die Prinzipien aus der Zeit der Blockbalance stammen und nur schwer auf das hier und heute übertragbar sind (z. B. „Gleiche Sicherheit“ oder auch das „Recht auf freie Bündniswahl“).
Wegen der bereits angeführten, derzeit nicht überbrückbaren Gegensätze gerade auch mit Russland schlägt Richter spezifisch für den baltischen Raum ein subregionales Stabilitätsregime vor, das zu einem subregionalen Rüstungskontrollregime führen könnte. Begrenzungen, Transparenz und Verifikation sollen dabei die Kernelemente eines neuen Abkommens bilden. Verhandlungsgrundlage soll der in der OSZE im Kontext der konventionellen Rüstungskontrolle bisher erzielte Acquis sein, der subregional angepasst werden könnte und eine schnelle Einigung ermögliche.
Diese Idee ist nicht schlecht. Aber da der Acquis in den 1980er und 90er Jahren unter gänzlich anderen Vorstellungen über mögliche, konventionelle Auseinandersetzungen erreicht wurde, ist eine Anpassung an die neuen Bedingungen geboten. Regelungen im Sinne strategischer Stabilität müssen neue waffentechnische Entwicklungen und die damit verbundenen Einsatzszenarien reflektieren (Hyperschall Flugkörper, Laserwaffen, Raketenabwehr, weitreichende Präzisionswaffen, Angriffe aus dem Cyberraum, Militarisierung des Weltraums, Angriffe auf kritische Infrastrukturen, unbemannte Systeme und deren Einsatz im Schwarm, um nur die wichtigsten zu nennen). Von daher erscheint Vieles in den Vorschlägen von Richter zu optimistisch und angesichts geänderter künftiger militärischer Auseinandersetzungen kaum realisierbar.
Wollte man den Weg der subregionalen Rüstungskontrolle gehen, dann sollten neue Ansätze entwickelt werden, um die Ziele von Stabilität und Transparenz künftig wieder zu ermöglichen. Sinnvoll erscheint eine erste, informelle Diskussion in einer Gruppe gleichgesinnter Staaten unter Einbindung nationaler wie internationaler Think Tanks. Hier ließen sich für den baltischen Raum auch Staaten wie Finnland und Schweden mit einbinden, die zwar nur Mitgliedsstaaten des Wiener Dokuments sind, aber sehr großes Interesse an mehr Stabilität in diesem Raum haben. Konzeptionell entwickelte Maßnahmen könnten in einem weiteren Schritt einseitig eingeleitet werden, um der Gegenseite zu signalisieren, dass man deren Sicherheitsinteressen mitberücksichtigt hat. Dies wäre konzeptionell in Europa leistbar. Mittelfristig müssten allerdings die USA wie Russland in Verhandlungen miteinbezogen werden, um zumindest politisch verbindliche Regelungen erreichen zu können. Der von Richter vorgeschlagene informelle Verhandlungsrahmen in der OSZE, aber außerhalb bestehender Foren wie Rat und FSK scheint geeignet, die formale Erstarrung in Wien mittelfristig aufzubrechen, um über neue konventionelle Vertrauensbildende wie Rüstungsbeschränkende Maßnahmen in Gespräche zu kommen, die dann hoffentlich zu neuen Vereinbarungen führen können.
https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2019S17_rrw.pdf
© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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