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Samuel Charap/Jeremy Shapiro/Alexandra Dienes/Sergey Afontsev/Péter Balás/Rodica Crudu/James Dobbins/Vasyl Filipchuk/Diana Galoyan/Ulrich Kühn/Andrei Popov/Yauheni Preiherman/Pernille Rieker/Nikolai Silaev/Olesya Vartanyan/Andrei Zagorski: A Proposal for a Revised Regional Order in Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., 2019

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Published/Copyright: March 31, 2020

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Charap Samuel Shapiro Jeremy Dienes Alexandra Afontsev Sergey Balás Péter Crudu Rodica Dobbins James Filipchuk Vasyl Galoyan Diana Kühn Ulrich Popov Andrei Preiherman Yauheni Rieker Pernille Silaev Nikolai Vartanyan Olesya Zagorski Andrei A Proposal for a Revised Regional Order in Post-Soviet Europe and Eurasia Santa Monica, Cal. RAND Corp. 2019


Im Jahre 1516 veröffentlichte Thomas More „Ein kleines, wahres, sowohl vorteilhaft als auch angenehm [zu lesendes] Buch darüber, wie die Dinge auf der neuen Insel namens Utopia sein sollten“. In dem politsatirischen Werk werden eingangs die üblen Zustände dargestellt, die das moderne Europa befallen haben – wie beispielsweise die Neigung der Könige, Kriege anzuzetteln und die enorme Geldverschwendung für nutzlose Vorhaben. Diese Verhältnisse, so More, würden nicht in Utopia herrschen. Die Dinge würden dort in idealer Weise geregelt sein.

In enger Zusammenarbeit mit dem in Wien angesiedelten Regional Office for Cooperation and Peace in Europe der Friedrich-Ebert-Stiftung hat die RAND Corporation die unbefriedigenden Verhältnisse im heutigen Europa aufgezeichnet und Gedanken darüber entwickelt, wie diese neu geregelt werden sollten. Zu den unbefriedigenden Verhältnissen rechnet die US-amerikanische Forschungsorganisation insbesondere die scharfen Auseinandersetzungen über die regionale Ordnung im postsowjetischen Europa und Eurasien und den Zusammenbruch der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Die gegenwärtige regionale Sicherheitsarchitektur mit ihren Regeln, Normen und Institutionen sei dysfunktional. Anstatt Ordnung herzustellen, hätte sie Unordnung, Unsicherheit und Instabilität produziert. Dies hätte große sicherheitspolitische und wirtschaftliche Herausforderungen für die „Staaten dazwischen“ geschaffen, vor allem für die Ukraine, aber auch für Belarus, Moldova, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Der extremste Fall sei der Krieg in der Ukraine, in dem bereits über 13.000 Menschen gestorben seien. Zudem seien die regionalen Handelsmuster gestört und Reformprozesse und innerer Wandel in diesen Staaten gebremst worden. Im Endergebnis seien alle beteiligten Staaten – Russland, die Länder des Westens und die Zwischenstaaten – weniger sicher und wohlhabend.

In der 110 Seiten umfassenden Studie wird ein im Konsens der Autoren und vermutlich auch des Steering Committees ausgearbeiteter Vorschlag (Consensus Proposal) für ein „neues Verständnis für eine Sicherheitsarchitektur, wirtschaftliche Integration und regionale Konflikte“ in den Zwischenstaaten formuliert. Entsprechend der drei Bereiche wurde der Vorschlag von drei Expertengruppen erarbeitet, die von der RAND Corporation und dem Wiener Regionalbüro der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammengestellt wurden. Jede Gruppe bestand aus Vertretern des Westens, Russlands und der dazwischen liegenden Staaten. Mitglieder des Steering Committees waren Samuel Charap, Jeremy Shapiro, John Drennan, Oleksandr Chalyi, Reinhard Krumm, Yulia Nikitina und Gwendolyn Sasse. Die Vorschläge in den drei Bereichen sind wie folgt:

Für den Bereich der Sicherheitsarchitektur wird vorgeschlagen:

Das Abhalten regelmäßiger Konsultationen mit dem Ziel, die regionale Sicherheitsarchitektur zu erörtern, etwaige Streitigkeiten zu klären und gegenseitiges Vertrauen (reassurance) über die wechselseitigen Absichten herzustellen. Ständige Teilnehmer der Konsultationen [der Begriff „Organisation“ wird nicht verwandt] sollten die Vereinigten Staaten, Russland und die EU sein. Jeder Zwischenstaat kann eine Sitzung der ständigen Teilnehmer einberufen, um angehört werden.

Die ständigen Konsultationsteilnehmer sollen sich verpflichten, ohne Konsultationen keine weiteren Änderungen in der Zusammensetzung bestehender regionaler Sicherheitsinstitutionen oder am geopolitischen Status der derzeitigen Bündnismitglieder anzustreben. Sie bemühen sich, einen Konsens zu finden, wobei die regionale Stabilität und die Sicherheitsinteressen aller Parteien gebührend berücksichtigt werden. Jeder Staat mit einem Drittwegstatus (third-way status – zwischen Russland und dem Westen), verpflichtet sich, die permanenten Teilnehmer zu konsultieren, wenn er seine Sicherheitsarrangements ändern will.

Sicherung des Drittwegstatus von Teilnehmerstaaten an der neuen Sicherheitsarchitektur mittels formalisierter multilateraler Sicherheitsgarantien. Die Großmächte verpflichten sich, diese Garantien durch eine Reihe von Maßnahmen zur militärischen Zurückhaltung und Transparenz zu stärken.

Im Bereich der wirtschaftlichen Integration wird vorgeschlagen:

Europäische Union (EU) und die Eurasische Wirtschaftsunion (EWU) sollten ein umfassendes Rahmenabkommen schließen und die Zusammensetzung und die Legitimität der bestehenden Wirtschaftsinstitutionen anerkennen. Außerdem sollten sie die Integrationsentscheidungen der Zwischenstaaten respektieren, technische Vorschriften harmonisieren und Konflikte über Transitfragen entschärfen. Sie sollten auch einen für beide Seiten akzeptablen Handelsrahmen für Länder schaffen, die nicht Mitglied der EU oder der EWU und keine Unterzeichnerstaaten eines DCFTA-Abkommens (Deep and Comprehensive Free Trade Area) sind. EU und EWU sollten ein Freihandelsabkommen miteinander abschließen.

Zum Thema Regionalkonflikte wird vorgeschlagen:

Die von regionalen Konflikten direkt betroffenen sowie an ihnen beteiligten Staaten und Organisationen sollen sich verpflichten, neu über die Prinzipien und praktischen Möglichkeiten für ihre Lösung zu verhandeln. Menschliche Erleichterungen sollen vereinbart werden. Vertrauensbildende Maßnahmen müssen ergriffen werden, um Risiken bewaffneter Konflikte zu verringern und die Sicherheitslage vor Ort zu verbessern. Die an den Konflikten beteiligten Staaten sollten ein Bekenntnis zur Statusneutralität ablegen und sich verpflichten, die Statusansprüche des jeweils anderen nicht zu untergraben. Drittstaaten sollen den von Konflikten betroffenen Staaten Anreize anbieten, die darauf hinauslaufen Konflikte zu lösen, etwa durch großzügige Pakete für wirtschaftlichen Wiederaufbau.

Die in Vorschlägen skizzierte Utopie beinhaltet letzten Endes eine Festschreibung des Status quo mit einer Bestandsgarantie für die durch meist russische Interventionen von ihren Mutterländern abgetrennten Gebiete – die Krim und Teile der Provinzen Luhansk und Donezk von der Ukraine, Südossetien und Abchasien von Georgien, Transnistrien von Moldova und Berg-Karabach von Aserbaidschan. Der im politischen und politikwissenschaftlichen Diskurs ungewöhnliche Begriff des Third-Way Status für die „Zwischenstaaten“ geht im Grunde über das Verständnis von militärischer Paktungebundenheit und Blockfreiheit (non-alignment) sowie Neutralität und Neutralisierung hinaus und entpuppt sich als ein von den „permanenten Konsultationsteilnehmern“ und „großen Mächten“ – USA, EU und Russland − verfügter Status. Dieser bedeute einerseits die Nichtzugehörigkeit zu westlichen liberalen Demokratien mit freier Marktwirtschaft, Rechtstaatlichkeit und aktiver Zivilgesellschaft und andererseits auch die Nichtzugehörigkeit zu einem nicht weiter definierten „Russland“. Das Verständnis von Drittwegstatus schließt sich in fataler Weise wohl nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich an die im Kalten Krieg gängige Vorstellung eines „Dritten Weges“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus an.

Die Autoren stellen in ihrer Diagnose der Problematik fest, dass der gegenwärtige Diskurs „sich in zunehmendem Maße von den Realitäten am Boden unterscheidet“. Es kommt wohl darauf an, wer diesen Diskurs führt. Die Studie ist allerdings im hohen Grade wirklichkeitsfern. Das räumen die Autoren praktisch in der Vorstellung ihrer Studie (S. 1–7) ein, wenn sie feststellen, dass ihr „Konsens-Vorschlag“ im Grunde genommen überhaupt kein Vorschlag ist, sondern die Charakterisierung einer zumindest in ihrem Verständnis schönen Neuen Welt. „Unter den gegebenen Umständen“, schreiben sie, „haben wir bewusst darauf verzichtet, Schritte für Entscheidungsträger zu formulieren. Unser Vorschlag ist vielmehr an einem künftigen Fenster von Gelegenheit ausgerichtet.“ Was sind diese offensichtlich widrigen Umstände? „Das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen vor 2014 war alles andere als ideal, [aber] die Ukraine-Krise hat dieses Verhältnis grundlegend verändert, alle noch verbliebenen Hoffnungen auf Partnerschaften ausgeschlossen und eine Konfrontationsdynamik effektiv institutionalisiert“. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, in vorausschaubarer Zukunft und sogar „in einem besseren politischen Klima […] wäre es risikoreich, Verhandlungen für die Verwirklichung des Vorschlags zu führen, denn sie würden Themen berühren, die niemals offen mit Russland und den westlichen Mächten an einem Tisch mit den Staaten der Region geführt worden sind“. Um die Utopie zu verwirklichen, müsste sich also die Politik aller an den Konflikten beteiligten Staaten fundamental ändern. Die Antwort darauf, wie und wann das passieren könnte, bleibt die Studie allerdings schuldig.

https://www.rand.org/pubs/conf_proceedings/CF410.html

Published Online: 2020-03-31
Published in Print: 2020-04-01

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  2. Editorial
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  14. Kristi Raik/Mika Aaltola/Jyrki Kallio/Katri Pynnöniemi: The Security Strategies of the US, China, Russia and the EU. Living in Different Worlds, Helsinki: Finnish Institute of International Affairs, Juni 2018
  15. Peter Rudolf: Der amerikanisch-chinesische Weltkonflikt. Berlin: SWP, Oktober 2019.
  16. Bobo Lo: Greater Eurasia: The Emperor’s New Clothes or the Idea whose Time Has Come? Paris: Institut français des relations internationales (Ifri), Études de l’Ifri, Russie.Nei.Reports, No. 2, Juli 2019.
  17. Paul Dibb: How the geopolitical partnership between China and Russia threatens the West. Canberra: ASPI, November 2019
  18. Cheol Hee Park: Strategic Estrangement between South Korea and Japan as Barrier to Trilateral Cooperation. Washington, D.C.: Atlantic Council, 2019.
  19. Rüstungskontrolle und regionale Ordnung in Europa
  20. Samuel Charap/Jeremy Shapiro/Alexandra Dienes/Sergey Afontsev/Péter Balás/Rodica Crudu/James Dobbins/Vasyl Filipchuk/Diana Galoyan/Ulrich Kühn/Andrei Popov/Yauheni Preiherman/Pernille Rieker/Nikolai Silaev/Olesya Vartanyan/Andrei Zagorski: A Proposal for a Revised Regional Order in Post-Soviet Europe and Eurasia. Santa Monica, Cal.: RAND Corp., 2019
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  22. Buchbesprechungen
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  24. Joshua R. Itzkowitz Shifrinson: Rising Titans, Failing Giants. How Great Powers Exploit Power Shifts. Ithaca and London: Cornell University Press 2018, 276 Seiten
  25. Donald Stoker: Why America Loses Wars. Limited Wars and US Strategy from the Korean War to the Present. Cambridge: Cambridge University Press 2019, 336 Seiten
  26. Stefan Fröhlich: Das Ende der Selbstfesselung. Deutsche Außenpolitik in einer Welt ohne Führung. Wiesbaden: Springer Verlag 2019. 166 S.
  27. Bildnachweise
  28. Disarmament, Demobilization, and Reintegration – An underdeveloped diplomatic tool in Yemen
Downloaded on 11.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2020-1013/html
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