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Rainer Hermann: Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2018, 378 Seiten

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Published/Copyright: June 8, 2018

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Hermann Rainer Arabisches Beben. Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten Klett-Cotta Verlag Stuttgart 1 378 2018


Dieses Buch ist keine wissenschaftliche Analyse, die mit großer Gründlichkeit eine überschaubare Anzahl von Hypothesen unter Verwendung ausgefeilter methodischer Verfahren untersucht. Aber der Autor, ein ausgewiesener Kenner der arabischen Welt und des Nahen und Mittleren Ostens, pflegt den Kontakt zur Wissenschaft und steht im engen Austausch mit führenden wissenschaftlichen Autoritäten sowohl in der Region als auch in Europa und den USA. Er legt ein Buch vor, welches viele wissenschaftlichen Analysen aufnimmt und diese im Sinne einer breiteren strategischen Analyse verwertet. Der Untertitel („Die wahren Gründe der Krise im Nahen Osten“) mag überambitioniert klingen, aber Hermann, der seit Jahrzehnten für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt und lange in der Region gelebt hat, dringt tief in die strukturellen Ursachen der Krise des Nahen und Mittleren Ostens ein. Im Vergleich zu Büchern anderer Journalisten, die die Politik des Westens für alle Unbill in der Region verantwortlich machen und gerne in tiefem Kulturpessimismus schwelgen, fällt diese Publikation dadurch auf, dass sie differenziert argumentiert, gut und verständlich geschrieben ist und zudem nach Lösungsmöglichkeiten Ausschau hält.

Ausgangspunkt ist die sogenannte Arabellion von 2011, die Protestwelle, die in Tunesien begann, in Ägypten zum Sturz des Mubarak-Regimes führte, in Libyen das Ende der Ära Gaddafis einläutete, im Jemen den Sturz von Präsident Ali Abdullah Salih verursachte und auch in anderen arabischen Staaten zu spüren war. „Das Beben“, so Hermann, „das die arabische Welt seit den Massenprotesten des Jahres 2011 erschüttert, hat Konflikte mit einem gewaltigen Zerstörungspotenzial freigelegt“. Die Analyse dieses Potenzials steht im Mittelpunkt des Buches. Der Verfasser geht davon aus, dass die Krise der arabischen Welt struktureller Natur ist und auf Probleme hinweist, die sich im Laufe der Jahrzehnte aufgetürmt haben und die gleichsam wie tektonische Verschiebungen zu massiven Erschütterungen führen.

Die Krise der arabischen Welt hat laut Hermann sowohl äußere als auch innere Ursachen. Zu den äußeren Ursachen zählt er die Neuordnung des arabischen Raumes durch Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, bei der willkürlich Staaten für Menschen geschaffen worden seien, die keine Identifikation mit diesen entwickelten und in denen häufig Eliten an die Macht kamen, die religiöse Minderheiten repräsentierten. So sei es zu Fehlentwicklungen beim Aufbau der Staatlichkeit gekommen: Es seien vornehmlich autoritäre Staaten entstanden, die auf mehr oder weniger totalitär angelegten pan-arabischen, sozialistischen und nationalistischen Ideologien beruhten. Gesellschaftlich und wirtschaftlich verloren diese Staaten dadurch den Anschluss an die Globalisierung, so die weitere Feststellung, denn fast überall regierten Eliten, die sich hauptsächlich selbst bereicherten und bestrebt waren, ihre Herrschaft zu sichern, denen das wirtschaftliche Fortkommen des Landes und das Wohl der Bürger aber weitgehend gleichgültig blieben. Ein weiteres Element der Krise der arabischen Welt war und ist, dass der Islam immer stärker zu einem Konfliktverschärfer geworden ist.

Anhand der Entwicklungen in Syrien und Ägypten, im Irak, in Libyen und im Jemen zeigt Hermann die Stufen des Zerfalls dieser Staaten auf. Die Länderanalysen vermitteln einen sehr differenzierten Einblick in die Konfliktverläufe und Hintergründe und lassen eines erkennen: Die oftmals holzschnittartige Weise, wie bei uns die Konflikte dargestellt werden, ist wenig hilfreich, will man die Komplexität der Lage verstehen. Hermann konstatiert einen generellen Verfall der politischen Ordnung: Die Schwächung staatlicher Autorität hat zur Betonung religiöser Identität geführt und marginalisierte Mittelschichten haben einer Radikalisierung des Islam – bis hin zum dschihadistischen Salafismus – nicht im Wege gestanden. Je mehr radikale Varianten der sunnitischen und der schiitischen Richtung zu politisch maßgeblichen Orientierungsmustern werden und je brutaler staatliche Herrscher ihre Machtposition verteidigen, umso größer wird nach Einschätzung von Hermann die Gefahr, dass Bürgerkriege und staatenübergreifende Kriege entstehen. Durch ein Eingreifen von Saudi-Arabien (als führende Macht der sunnitischen Welt) und dem Iran (als Vormacht der Schiiten) in diese Konflikte könne ein regionaler Dauerkonflikt entstehen, der die letzten Reste der regionalen Ordnung zerstört. Diese Dynamik aufzuzeigen, gelingt dem Verfasser außerordentlich gut.

Er konstatiert auch, dass neben dem saudisch-iranischen Antagonismus weitere Konfliktlinien die arabische Welt zerreißen. Dazu gehören der Konflikt innerhalb der sunnitischen Staaten, der hauptsächlich durch den Führungsanspruch Saudi-Arabiens und den Widerstand mehrerer kleinerer Staaten entstehe, sowie die zunehmende Infragestellung der staatlichen Autoritäten durch radikale Islamisten, außerdem der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern. Diesen nutze vor allem der Iran, um in der arabischen Welt Einfluss zu gewinnen. In dieser Konfliktkonstellation sieht der Verfasser mittelfristig den Iran als Gewinner und Saudi-Arabien zunehmend in der Defensive. Iran verfüge über größere Machtressourcen als Saudi-Arabien und habe vor allem den Bürgerkrieg in Syrien dazu nutzen können, um seine Vormachtstellung in der Region auszubauen. Auch habe der durch die USA erfolgte Sturz Saddam Husseins den Irak zum Verbündeten Teherans gemacht. Saudi-Arabien hingegen habe sich durch Unterstützung radikaler Islamisten in Syrien sowie die Verkennung der Lage im Jemen und seine dortige Luftkriegsführung isoliert.

Saudi-Arabien, so Hermann, sei nur deshalb derzeit die Führungsmacht der sunnitischen Araber, weil keine andere mehr existiere. Dies liege vor allem an der Schwäche Ägyptens. Das Land sei unter Ḥusnī Mubarak zu einem vom Militär kontrollierten und ausgebeuteten Rentenstaat geworden. Die gesamte Struktur dieses Staates sei auf die Bereicherung der Elite ausgerichtet und verspreche vordergründig Stabilität, tatsächlich steige der Druck im Kessel immer mehr an, denn die Unzufriedenheit der Menschen nehme zu. Der Ausgang der Rebellion in Ägypten und der Sturz der von Präsident Mohammed Mursi geführten Regierung der Moslembruderschaft werden von Hermann mit großer Skepsis gesehen. Der Verlauf der Rebellion habe gezeigt, dass die oppositionellen Kräfte lediglich in der Lage gewesen seien, die bestehenden Strukturen zu erschüttern und Mubarak zum Rücktritt zu zwingen. Eine neue politische Ordnung hätten diese aber nicht schaffen können. Nutznießer sei das Militär, das unter Abdel Fattah al-Sissi zwar einen Generationswechsel vollzogen habe, aber letztendlich bleibe alles beim Alten. Das absehbar schwerwiegendste Problem sei, dass die bis dahin noch relativ moderate Muslimbrüderschaft von der Militärregierung als terroristisch eingestuft und ihre Mitglieder verfolgt werden. Dadurch werde eine bis dahin friedliche und stark im Bürgertum verankerte muslimische Partei in die Radikalität gestoßen und somit ein dschihadistisches Potenzial gestärkt. Ägypten, so der Verfasser, stehe in absehbarer Zeit vor dem „großen Knall“. Was immer er damit meint – es wird keine Wiederholung der friedlichen Rebellion von 2011 geben.

Hermann diagnostiziert eine umfassende Krise in der arabischen Welt, die sowohl innerstaatliche als auch internationale Dimensionen hat. Der postkoloniale Gesellschaftsvertrag der Vergangenheit, bei dem politische Eliten Ordnung und Stabilität versprachen, innerhalb derer sich Menschen entfalten konnten, ist – wenn es überhaupt jemals funktioniert hat – definitiv vorbei. Die Schwäche der Autorität heutiger Staaten führt aber nicht zum Drang nach mehr Demokratie, so die Diagnose, sondern zur Suche nach Identität und Schutz im Rahmen kollektiver Identitäten, die zunehmend religiös definiert werden und blind sind für die Voraussetzungen und Chancen erfolgreicher Politik unter den Bedingungen der Globalisierung. Die Grundvoraussetzung einer funktionierenden Demokratie – die Existenz einer breiten Mittelschicht, die auf Moderation setze – sei immer weniger gegeben. Der Verfasser fordert daher einen neuen Gesellschaftsvertrag. Der könne nicht im Wege der Einführung westlicher Staatsmodelle erfolgen. Vielmehr müsse an einem neuen Konzept eines Territorialstaates gearbeitet werden, der sich erst einmal auf minimale Ziele beschränken müsse. Als Beispiel nennt er den Libanon, der trotz aller möglichen Verwerfungen immer noch als Staat existiere und eine Reihe von Funktionen übernehme, die alle verfeindeten Gruppen und Milizen akzeptierten – der Staat würde also eher als Vermittler zwischen mehr oder weniger unversöhnlichen politischen Kräften und als Garant für eine Reihe von Dienstleistungen fungieren. Es ist fraglich, ob das realistisch ist. Aber dem Verfasser ist darin zuzustimmen, dass es vermessen wäre, angesichts der derzeitigen Lage im arabischen Raum „groß angelegte“ Konzepte zu präsentieren, vielmehr ist Bescheidenheit angesagt.

Der territorial verstandene Staat (kein klassischer Nationalstaat) sei auch die Voraussetzung für eine übergreifende politische Regelung, die kommen müsse. Derzeit, so der Verfasser, weise die arabische Welt große Ähnlichkeiten mit Mitteleuropa zu Zeiten des Dreißigjährigen Krieges auf. Hermann empfiehlt daher, sich an dem Beispiel des Westfälischen Friedens zu orientieren. Ob das eine so gute Idee ist, bleibt offen. Zwar sind Ähnlichkeiten zwischen der Periode in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Mitteleuropa und der heutigen Lage im Nahen Osten vorhanden, aber ob man daraus Lehren für dessen politische Befriedung ziehen kann, ist fraglich. Rainer Hermann bleibt jedoch optimistisch.

Insgesamt allerdings schließt das Buch eher pessimistisch, denn Hermann verweist auf strukturelle Entwicklungen, die nichts Gutes bedeuten. Die eine ist die demografische Entwicklung, die wir in Europa als Migration wahrnehmen, die in der arabischen Welt aber hauptsächlich als Landflucht in die Städte stattfindet. Dadurch ändert sich der Charakter der Großstädte fundamental, wie Hermann feststellt: War eine Stadt wie Kairo bis in die 1960er-Jahre hinein geprägt durch Offenheit und Weltläufigkeit, so ist die Stadt heute voll mit Landbewohnern, die ihre konservativen Lebenseinstellungen mitgebracht haben. Die zweite Entwicklung ist das weitere Vorherrschen eines Staatskapitalismus, bei dem diejenigen reich werden, die die Macht besitzen, und diejenigen arm bleiben, die nicht daran partizipieren. Die dritte Herausforderung sieht er in der Ökologie, insbesondere der Wasserknappheit.

Alles in allem handelt es sich um ein Buch, welches allen Lesern und Leserinnen empfohlen werden kann, die sich ein realistisches Bild von der prekären Lage im Nahen Osten machen und sich nicht auf jene einfachen Parolen verlassen wollen, denen zufolge „der Westen“ an allem schuld sei und die Welt ohnehin harmonisch werde, wenn nur mehr Entwicklungshilfe gewährt und weniger Waffen geliefert würden. Die Welt ist sehr viel komplexer und rücksichtsloser – dieses für die Region Naher Osten sichtbar und verständlich gemacht zu haben, ist der große Verdienst dieses Buches.

Published Online: 2018-6-8
Published in Print: 2018-6-5

© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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