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Ein weiteres langes „langes Jahrhundert“?

  • Wolfgang Knöbl ORCID logo EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 7. November 2025
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In der Geschichtswissenschaft ist es mittlerweile fast Brauch geworden, Überblickswerke und Synthesen entlang der Jahrhundertarithmetik zu schreiben, so dass man vom „langen 19. Jahrhundert“ spricht, das mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete und somit doch länger als 100 Jahre dauerte; oder dass man wie Eric Hobsbawm vom „Zeitalter der Extreme“ redet und mit dieser Kennzeichnung den Schlüssel für eine „Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts“ in der Hand zu haben meint, eines Jahrhunderts, das sich vom Ersten Weltkrieg bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion erstreckte und damit nicht einmal 80 Jahre umfasst. Derartige zeitliche Setzungen bieten – gleichgültig ob man lange oder kurze Jahrhunderte konstruiert – den Vorteil, dass man den Leser*innen suggerieren kann, sie hätten es bei der Lektüre mit kompakten Einheiten zu tun, die demzufolge zuverlässig auf ihre Grundtendenzen hin befragt werden können. Der Nachteil ist freilich ebenso leicht erkennbar: Denn wenn es klar definierte Anfangs- und Endpunkte des Geschehens gibt, dann ist man nur allzu leicht versucht, eine teleologisch gestrickte Geschichte zu erzählen, insofern die Grundtendenzen der Epoche eben zu Beginn jenes Jahrhunderts auftauchen und am Ende entweder kulminieren oder abbrechen: Ambivalenzen, gegenläufige Tendenzen oder zwischenzeitliche Zäsuren werden darüber nur allzu oft ignoriert – und all dies vor dem Hintergrund der Tatsache, dass man, sollte man Historiker*in der allerjüngsten Zeit sein, noch gar nicht weiß, wie die Geschichte nach jenem „Jahrhundert“ weitergehen wird und deshalb schon bald vielleicht ganz anders erzählt werden könnte oder gar müsste.

Wie verhält es sich nun mit Christoph Cornelißens 2024 erschienenem Buch „Europe in the Long Twentieth Century“, eine überarbeitete und aktualisierte Fassung des schon 2020 vorgelegten und in der Reihe „Neue Fischer Weltgeschichte“ auf Deutsch erschienenen Bandes? Rasch lässt sich feststellen, dass es dem Frankfurter Historiker in Wahrheit gar nicht um temporale Setzungen geht, eine neue empirisch oder theoretisch vorzunehmende Eingrenzung jenes „langen 20. Jahrhunderts“ strebt er gar nicht an. Der Titel ist eher der Architektur der Buchreihe geschuldet, was bedeutet, dass sich Cornelißen selbstverständlich irgendwie mit dem 20. Jahrhundert beschäftigen muss. Aber er ist aus gutem Grund nicht bereit, sich auf eine lange Diskussion über Anfang und Ende dieses Jahrhunderts einzulassen. Insofern ist er auch vor diesen schon genannten teleologischen Versuchungen gefeit; allzu griffige Thesen, welche einen Zeitraum von mehr als 120 Jahren gewissermaßen umfassen wollen – Cornelißens Erzählung endet tatsächlich erst mit dem 2022 erfolgten Überfall Russlands auf die Ukraine –, legt er nicht vor, will er auch nicht vorlegen. Stattdessen schreitet er durchaus bedächtig, aber klug voran, um die Leser*innen bis an die unmittelbare Gegenwart heranzuführen, ohne dabei simple Prozessbehauptungen aufzustellen.

Cornelißens historischer Abriss gliedert sich in sechs größere, jeweils etwa 50 bis 80 Seiten lange Kapitel, deren letztes das Europa nach 1989/1990 in den Blick nimmt, wobei – wie angedeutet – der Nachklang der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges nun schon erstaunlich lange dauert, weil eben aus der Sicht des Autors alles andere als klar ist, wohin Europa streben wird. In der „Introduction“ macht er dies auch sehr deutlich (S. 5), in der er den Leser*innen gleichzeitig einige theoretisch relevante Betrachtungen mit auf den Weg gibt: Cornelißen verweist in Vorwegnahme der Ergebnisse seiner Darstellung darauf, dass Europa durch den Nationalismus einerseits sehr viel pluraler geworden ist, weil die alten Imperien im Verlauf des 20. Jahrhunderts aufgelöst worden sind, und sich damit die Zahl der europäischen Nationalstaaten massiv erhöht hat. Es ist aber gerade dadurch in einer Hinsicht sehr viel ärmer geworden, ist doch der Trend hin zum Monolingualismus unverkennbar, die selbstverständliche Beherrschung mehrerer Sprachen, die nicht wenigen Bewohner*innen der alten Imperien, in denen verschiedenste Ethnien zusammenlebten, eigen war, ist einer Situation gewichen, in der man allenfalls noch von Fremdsprachen redet und damit implizit behauptet, dass es das natürlichste von der Welt sei, zunächst einmal nur eine Sprache zu können. Auch deswegen wird sich Cornelißen in seiner Darstellung darum bemühen, nicht nur auf die kleineren Länder Europas zu blicken, die aus der Erbmasse des Imperialismus entstanden sind und die bei vielen Übersichtsdarstellungen der Geschichte Europas eher selten eine größere Rolle spielen. Darüber hinaus wird er auch – wie der Untertitel des Buches ankündigt – eine transnationale Perspektive einnehmen, die sich distanziert von der üblichen Konzentration auf das Konzert der großen Reiche und Mächte und die zudem schlicht konstatieren muss, dass die Bevölkerung Europas, obwohl in diesem 20. Jahrhundert in absoluten Zahlen auf 730 Millionen gewachsen, bezüglich seines Anteils an der Weltbevölkerung geschrumpft ist und nurmehr zehn Prozent beträgt (S. 22).

Im 1. Kapitel („The Decline of the Old Europe in the ‚Great War‘“) skizziert Cornelißen in überzeugender Weise zunächst die Grundzüge der Konfliktlinien in Europa, die in den Ersten Weltkrieg hineinführten, bevor er vor allem dessen Ende skizziert, das die Büchse der Pandora erst so richtig für revisionistische und irredentistische Bewegungen öffnete, die wiederum enorme Gewalt mit sich brachten. Dies ist gleichzeitig die Überleitung zu Kapitel 2 („The Epoch of Major Crises, 1919–1939“), das deshalb besonders lesenswert ist, weil der Autor insbesondere die Gewaltsamkeit der europäischen Geschichte mit mindestens vier Millionen Toten bis zum Jahre 1923 herausarbeitet, gleichzeitig aber die höchst unterschiedlichen politischen Strebungen in dieser Zwischenkriegszeit betont: So stellt er heraus, dass in diesen zwei Jahrzehnten zwar die Blüte der parlamentarischen Demokratie nur von sehr kurzer Dauer war, dass aber der Aufstieg des Faschismus vor 1929 kein gesamteuropäisches Phänomen darstellte, weil in dieser Zeit nur Italien, Deutschland und Rumänien stärkere faschistische Bewegungen gekannt haben. Das sollte sich erst mit der Großen Depression ändern, dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die politische Landschaft in Europa insgesamt sehr heterogen war, selbst wenn in fast allen Ländern eine Stärkung des Staates im Gefolge des Aufbaus korporatistischer Regimes oder ein mächtiger werdender Antisemitismus und völkischer Nationalismus zu beobachten waren.

Kapitel 3 („Europe in the Second World War“) stellt natürlich den Kriegsverlauf und den Holocaust in den Mittelpunkt und referiert somit in weiten Teilen lediglich den Forschungsstand. Interessante Schlaglichter vermag Cornelißen aber dennoch auf einige Aspekte zu werfen, so auf die sehr unterschiedlichen Ursachen und Gründe für das Ausmaß der Kollaboration in den jeweils von den Nazis besetzten Ländern, so auf die enorme Bedeutung der Soldaten aus dem Commonwealth für die britische Kriegsführung, so auf die Grausamkeit der Herrschaft Italiens über Teile Griechenlands und Jugoslawiens. Gerade Cornelißens Blick auf die kleineren Nationen im Krieg erhellt nochmal die Komplexität der politischen Lage in Europa selbst zu einer Zeit, als Faschismus und Krieg alles zu dominieren schienen.

Kapitel 4 („Europe’s Reconstruction and Consolidation after 1945“) und 5 („Europe until the End of the East-West Confrontation“) behandeln die Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Mitte der 1970er Jahre bzw. zwischen dem NATO-Doppelbeschluss und dem Zusammenbruch des sowjetischen Reiches, womit sich Cornelißen im Prinzip den Periodisierungsvorschlägen anschließt, die vor allem mit Blick auf die europäische Wirtschaftsgeschichte auf die „Trentes Glorieuses“ und die Epoche „Nach dem Boom“ verweisen. Aber nicht in erster Linie oder gar ausschließlich wirtschaftsgeschichtlich argumentiert Cornelißen, sondern durchaus mit starkem Fokus auf politische Zusammenhänge. So schließt er sich Martin Conways These von der nach 1945 in Westeuropa vor allem erstrebten politischen Stabilität (nicht notwendig: Demokratie!) durchaus an, insofern er die Hegemonie rechtszentristischer Parteien in den ersten zwei Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs betont. Er stellt aber eben auch die Konflikte, Proteste und Aufstände in Osteuropa heraus, womit er diejenige Geschichtsschreibung korrigiert, die allzu sehr dem zeitgenössischen Blockdenken verharrt blieb und darüber die inneren Blockspannungen eher vernachlässigte. Kritisch vermerken möchte man hier allenfalls, dass der politisch-kulturelle Aufbruch, den man gewöhnlich mit dem Stichwort „1968“ adressiert, in Cornelißens Darstellung eine vergleichsweise geringe Rolle spielt, dass er auch dazu tendiert, etwa die politischen Auswirkungen der Entstehung eines alternativen Milieus eher herunterzuspielen (S. 280). Das ist insofern überraschend, weil er gleichzeitig völlig zurecht der politischen Transition in Südeuropa in den 1970ern breiten Raum gibt, dem Übergang zur Demokratie in Portugal, Spanien und Griechenland, der ja vermutlich ohne Berücksichtigung transnationaler kultureller Bewegungen nicht wirklich angemessen zu thematisieren ist.

Das letzte große Kapitel („Europe after the Cold War“) ist nun, wie schon angedeutet, keines, das mit spektakulären Thesen aufwartet, zumal man gerade in der derzeitigen Ära Trump ohnehin kaum Prognosen über die Zukunft des „Westens“ wagen sollte. Gleichwohl macht Cornelißen überzeugend klar, dass – und hier unterscheidet er sich gar nicht so sehr von Andreas Wirschings „Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit“ aus dem Jahre 2011 – höchst widerstrebende Prozesse zu beobachten sind, die eben auch ihre dunklen Seiten haben, vom Aufstieg rechtspopulistischer Parteien bis hin zur Wiederkehr des Krieges im ehemaligen Jugoslawien in den 1990ern und in der Ukraine seit 2014. Cornelißen ist dabei darum bemüht, in zweierlei Hinsicht den deutschen Blick auf die eigene wie die europäische Geschichte zu dezentrieren. So streicht er, erstens, ganz entschieden heraus, dass der politische Umbruch in Osteuropa weit vor 1989 im Baltikum begann (S. 313), und dass der Protest überwiegend an den Peripherien der jeweiligen Ostblockländer seinen Ausgang nahm, also jenseits der nationalen Machtzentren (S. 317): Die jeweils frühesten und stärksten Proteste fanden in Danzig statt, nicht in Warschau, in Leipzig, nicht in Ostberlin! Cornelißen betont, zweitens, dass nicht nur Deutschland seit der sogenannten Wende mit einer großen Zahl von Migrant*innen zu tun hatte, sondern auch Länder wie Spanien diesbezüglich eine enorme Integrationsleistung zu vollbringen hatten. Ungeachtet dessen hat es aber Europa, so das Fazit dieses Kapitels, geschafft, die soziale Ungleichheit einigermaßen stabil zu halten (S. 357); im Unterschied zu anderen Weltregionen ist sie jedenfalls nicht massiv gewachsen und dies nicht zuletzt deshalb, weil nach wie vor vergleichsweise stabile wohlfahrtsstaatliche Strukturen in Westeuropa vorhanden sind und es zudem in Osteuropa einen erfolgreichen wirtschaftlichen Aufholprozess gegenüber Westeuropa gegeben hat (S. 345).

In der „Conclusion“ diskutiert Cornelißen dann noch die Fragen, ob Europa mittlerweile als ein einheitlicher Rechtsraum zu sehen ist, und wohin sich die jeweiligen nationalen Erinnerungskulturen entwickeln werden, Fragen, die ja mit Blick auf die europäische Integration ebenso zentral sein dürften wie mit Blick auf den Umgang mit dem kolonialen Erbe dieser Region. Insofern stellen sie einen überzeugenden, zum Weiterdenken anregenden Abschluss dieses lesenswerten und gelungenen Bandes dar.


Rezension von

Christoph Cornelißen, Europe in the Long Twentieth Century. A Transnational History, translated by Jessica Spengler, Oxford (Oxford University Press) 2024, 496 S., ISBN 978-0-19-287142-8, GBP 119.


Published Online: 2025-11-07
Published in Print: 2025-11-03

© 2025 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Artikel in diesem Heft

  1. Titelseiten
  2. Jahresbericht des DHI Rom 2024
  3. Themenschwerpunkt L’Impero e le sue narrazioni nel pieno e tardo medioevo (XIII–XIV sec.), herausgegeben von Caterina Cappuccio
  4. L’Impero e le sue narrazioni nel pieno e tardo medioevo (XIII–XIV sec.)
  5. Electione de eo canonice celebrata
  6. Un Impero vacante? La signoria sovralocale di Oberto Pelavicino in Lombardia tra idealità imperiale e città (1249–1259)
  7. Un regno senza impero?
  8. Narrazione e percezione dell’impero nella cronachistica
  9. Artikel
  10. Building an Aristocratic Identity in Medieval Italy
  11. Memorie della Chiesa di Molfetta
  12. „Per fuoco e per estimo“
  13. Fonti e approcci sulla fiscalità pontificia per la Basilicata del XIV secolo
  14. La comunità tedesca a L’Aquila tra i secoli XV–XVI
  15. Whose Bishop/Who’s the Bishop?
  16. Si in evidentem: Pacht von Kirchengut über die Pönitentiarie
  17. Rhetorical vs. Historical Discourse?
  18. Ottavio Villani – ein Gegner der päpstlichen Politik im Dreißigjährigen Krieg
  19. Italian and German Colonialism beyond Comparison
  20. Geleitwort zum Beitrag „Gewaltlust“ von Habbo Knoch
  21. Gewaltlust
  22. Forum
  23. Der Gastronationalismus und Alberto Grandis Thesen – oder: Zur Prägekraft der italienischen Küche
  24. Tagungen des Instituts
  25. I monasteri di Subiaco e Farfa come crocevia monastico-culturale nei secoli XV e XVI
  26. Von den NS-Tätern sprechen, der Opfer gedenken. Perspektiven einer deutsch-italienischen Erinnerung zwischen Forschung und Vermittlung
  27. Circolo Medievistico Romano
  28. Circolo Medievistico Romano 2024
  29. Nachrufe
  30. Cosimo Damiano Fonseca (1932–2025)
  31. Dieter Girgensohn (1934–2025)
  32. Gerhard Müller 1929–2024
  33. Rezensionen
  34. Verzeichnis der Rezensionen
  35. Leitrezensionen
  36. Tra reti politiche e prassi documentarie
  37. Una rete di persone
  38. Ein weiteres langes „langes Jahrhundert“?
  39. Rezensionen
  40. Verzeichnis der Rezensent*innen
  41. Register der in den Rezensionen genannten Autor*innen
Heruntergeladen am 11.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/qufiab-2025-0029/html?lang=de
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