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Abwehrreaktionen und negative Effekte von Gesundheitsinformationen

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Published/Copyright: March 14, 2017

Zusammenfassung

Gesundheitsbezogene Informationen können eine Reihe negativer Effekte und Abwehrreaktionen auslösen, die bislang kaum thematisiert oder bei der Informationsgestaltung berücksichtigt werden. Der Beitrag gibt Hinweise auf einige zentrale Barrieren für die erfolgreiche Erhöhung der Gesundheitskompetenz und plädiert für eine intensivierte Diskussion über kommunikationsleitende Menschenbilder sowie unbewusste Prozesse der Informationszuwendung und -verarbeitung.

Abstract

Health-related information can produce a range of negative effects and maladaptive defensive processes, which are too rarely considered in the process of creating educative health messages. This article discusses a few common barriers for the successful increase of health competence through communicative means, and argues for an intensified discussion about communication-guiding views of mankind as well as subconscious processes of individuals’ information selection and processing.

Einleitung

Ein großer Teil der tagtäglich produzierten Gesundheitsinformationen verfehlt ihr aufklärerisches Ziel deutlich. Selten wird das so offen kommuniziert wie durch die Spiegel-Online-Schlagzeile „Organspende-Werbung: 100 Millionen Euro für nichts“ vom 4. November 2016, eher erfährt man dies in Gesprächen mit Praktikerinnen und Praktikern oder beim Blick in Evaluationsstudien [1], [2]. Und lernt spätestens dann, dass bei einem gewissen Prozentsatz der Empfängerinnen und Empfänger sogar negative Effekte zu erwarten sind, deren Spektrum weit über die Klassiker Reaktanz, Botschaftsabwehr, Nocebo- und Bumerangeffekte hinausgeht [3], [4], [5].

Solche unerwünschten Reaktionen und Abwehrprozesse sind nicht nur fundamentale Barrieren für eine erfolgreiche Erhöhung der Gesundheitskompetenz, sondern bedeuten oft sogar, dass trotz bester Absichten und eines substanziellen Ressourceneinsatzes das Gegenteil des angestrebten Ziels erreicht wurde. Nicht nur aus ethisch-moralischer Perspektive stellt sich die Frage, warum diese Effekte kaum bekannt sind und selten vollumfänglich bei der Informationsproduktion und in Evaluationen berücksichtigt werden. Hierfür mitverantwortlich sind einige „typisch menschliche“ Verzerrungen bei der Informationszuwendung und -verarbeitung, und zwar sowohl beim Publikum als auch bei den Produzenten von Gesundheitsinformationen. So etwa die Tendenzen zur Verleugnung oder Verdrängung von Risiken, zum „Schönreden“ von riskantem Verhalten (Rationalisierung) [6] sowie die Unfähigkeit, eigene Inkompetenz zu erkennen (Dunning-Kruger Effect) [7]. Dieser Beitrag möchte für diese und weitere Sollbruchstellen erfolgreicher Gesundheitsaufklärungen sensibilisieren und damit eine Basis für ihre nichtdefensive Diskussion und konzeptionelle Berücksichtigung anbieten.

Menschenbilder und Konsequenzen für Informationsstrategien

Eine alte Marketingweisheit lautet, dass der Wurm dem Fisch schmecken muss und nicht dem Angler. Die Umsetzung der hier angesprochenen Idee einer Rezipientenorientierung erfordert gewisse Grundkenntnisse über die menschliche Informationssuche, Informationsverarbeitung und Verhaltenssteuerung. Wissenschaftliche Disziplinen unterscheiden sich teilweise deutlich in ihren diesbezüglichen Vorstellungen [8]. Einige Menschenbilder, etwa die Annahme des Menschen als primär aktiv und rational handelndem Wesen, sind sozial erwünschter als andere und deshalb vermutlich in der Praxis häufiger anzutreffen (Social Desirability Bias). Für einen komplexen, individuellen, dynamischen und multideterminierten Prozess wie der Kommunikation zur erfolgreichen Wissensvermittlung erscheint ein realistisches Menschenbild allerdings essenziell, um zumindest eine Chance zu haben, zunächst die Aufmerksamkeit des Publikums und anschließend idealerweise auch die Akzeptanz der Informationen zu erreichen.

Denn in der Realität scheitern die meisten Informationen tatsächlich bereits daran, ausreichend Aufmerksamkeit von der Zielgruppe zu erhalten [9], [10], [11]. Die Aufmerksamkeitssteuerung von Personen ist ein hochkomplexer Prozess und umfasst sowohl unbewusste Selektionsinstanzen als auch intentionale Informationssuchen und -vermeidungen [12], [13]. Nötig sind nicht nur eine kurze initiale Aufmerksamkeit, die sich notfalls mittels aufmerksamkeitsstarker Visualisierungen erzeugen lässt, sondern darüber hinaus eine mindestens rudimentäre Verarbeitung der zentralen Inhalte. Obgleich Menschen weit über 99% aller Informationen, denen sie tagtäglich ausgesetzt sind, unbewusst ausblenden, zweifeln Laien selten daran, dass die von ihnen produzierten Informationen ausreichend rezipiert werden (Optimism Bias kombiniert mit Illusory Superiority). Hinzu kommt die gut bestätigte Tendenz, den Einfluss von Informationen auf andere Personen zu überschätzen (Third Person Effect [14]). Dieses Phänomen wiederum ist lediglich ein Sonderfall der generellen Erkenntnis, dass Menschen nicht gut darin sind, Effekte von Botschaften bei sich selbst oder anderen zu bemerken oder korrekt zu prognostizieren. Das ist seit Jahrzehnten u. a. durch Arbeiten zum inzidentellen Lernen oder zur unbewussten Beeinflussung von Emotionen, Gedanken und Verhalten bekannt [15], [16]. Mögliche Konsequenzen für die adäquate Erstellung und Evaluation von Gesundheitsinformationen werden bislang kaum thematisiert.

Gesundheitsbedrohungen vs. Bedrohungen des Selbstwertgefühls

Ein praktisches Beispiel: Wie lässt es sich erklären, dass oft gerade Angehörige der Hauptziel- und Hochrisikogruppen relevante Gesundheitsinformationen vermeiden und stattdessen an teilweise absurd anmutenden Vorstellungen oder Verhaltensweisen festhalten? Ein Verständnis des Konzepts der Bedrohung aus der Rezipientenperspektive kann helfen, dieses kontraintuitive Phänomen zu verstehen. Die wichtigste subjektive Bedrohung wird oft nicht von dem thematisierten Gesundheitsrisiko ausgehen – das liegt meist in der Zukunft und eine hundertprozentige Betroffenheit ist nicht sicher oder lässt sich verdrängen. Akut bedrohlich wäre hingegen die Rezeption entsprechender Informationen, da diese die Auseinandersetzung mit fundamentalen Themen wie Krankheit und Sterblichkeit impliziert und darüber hinaus die eigene Unwissenheit bewusst machen sowie Unsicherheit und negative Emotionen auslösen kann. Auch die Ausübung der empfohlenen Schutzmaßnahmen kann selbstwertbedrohlich sein oder Ängste hervorrufen. Bereits das reine Erwägen einer Einstellungs- oder Verhaltensänderung ist potenziell selbstwertbedrohlich, da dies mit dem menschlichen Bestreben nach Autonomie konfligieren und unangenehme kognitive Dissonanz (Wahrnehmung eines Widerspruchs zwischen eigenen Einstellungen, Gefühlen, Werten und/oder Verhaltensweisen) auslösen kann, falls bislang anders gedacht oder gehandelt wurde [17].

Ausblick

Versteht man die dem menschlichen Verhalten zugrundeliegenden Prozesse und Motive, die überwiegend unbewusst bleiben, kann man die mannigfaltigen Trigger für automatische Abwehrprozesse als Reaktion auf gesundheitsbezogene Informationen und negative Effekte minimieren. Erst damit wird dem Publikum eine ehrliche Chance gegeben, sich mit den Inhalten offen und fundiert auseinanderzusetzen. Integriert man dann noch motivierende Botschaftsmerkmale [18], [19], hat man eine deutlich bessere Chance, das höchst ambitionierte Ziel einer Erhöhung der Gesundheitskompetenz selbst bei Hochrisikogruppen zu erreichen.


Korrespondenz: Prof. Dr. Matthias R. Hastall, Technische Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften, Emil-Figge-Str. 50, 44227 Dortmund

  1. Conflicts of interest: Alle Autoren tragen Verantwortung für den gesamten Inhalt dieses Artikels und haben der Einreichung des Manuskripts zugestimmt. Finanzierung: Die Autoren erklären, dass sie keine finanzielle Förderung erhalten haben. Interessenkonflikt: Die Autoren erklären, dass kein wirtschaftlicher oder persönlicher Interessenkonflikt vorliegt. Ethisches Statement: Für die Forschungsarbeit wurden weder von Menschen noch von Tieren Primärdaten erhoben.

  2. Conflicts of interest: All authors have accepted responsibility for the entire content of this submitted manuscript and approved submission. Funding: Authors state no funding involved. Conflict of interest: Authors state no conflict of interest. Ethical statement: Primary data for human nor for animals were not collected for this research work.

Literatur

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Online erschienen: 2017-03-14
Erschienen im Druck: 2017-03-01

©2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 License.

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