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Walter Harry Deutsche Sprichwörter und Redensarten. Historisch-etymologische Skizzen mit europäischen Äquivalenten (PHILOLOGIA: Sprachwissenschaftliche Forschungsergebnisse 249) Hamburg Verlag Dr. Kovač 2021 603 pp. ISBN 978-3-339-12098-4
Der Autor des vorliegenden Bandes, Harry Walter, ist als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Slawische Sprachwissenschaft an der Universität Greifswald tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehört neben Lexikologie und Lexikographie des slawischen Substandards auch die Erforschung der slawischen Parömiologie und Parömiographie im europäischen Kontext.
Die jahrzehntelange wissenschaftliche Beschäftigung mit Proverbien hat Walter dazu inspiriert, „die Sprichwörter verschiedener Völker einer vergleichenden Analyse zu unterziehen, sie in einem Wörterbuch darzustellen“ (Walter 2021: 7). Dementsprechend unternimmt er in seinem Band „den Versuch, deutsche Sprichwörter zu erklären und historisch-etymologisch zu interpretieren, um sie dann ihren fremdsprachlichen Äquivalenten gegenüberzustellen“ (Walter 2021: 18).
Bei der Zusammenstellung, Annotation und Interpretation des Materials behält der Autor ständig seine Zielgruppe im Blick. Es handelt sich dabei vorwiegend um Studierende der Slawistik und Germanistik an der Universität Greifswald. Da am Institut für Slawistik Russisch, Polnisch, Tschechisch und Ukrainisch gelehrt werden, schenkt Walter bei der Auswahl der Äquivalente zu den im Wörterbuch aufgelisteten deutschen Sprichwörtern gerade diesen vier Sprachen eine besondere Aufmerksamkeit (vgl. Walter 2021: 18–19; 29).
Der Autor eröffnet den Band mit einem recht ausführlichen Vorwort (S. 7–28), in dem er auf diverse Fragen parömiologischen und parömiographischen Charakters eingeht. Unter anderem setzt er sich mit folgenden Themen auseinander:
Seit wann beschäftigen wir uns mit Sprichwörtern?
Wo finden wir die Sprichwörter?
Kommt man mit der sprichwörtlichen Wahrheit weit oder ist sie eine Gefahr?
Wie modern sind Sprichwörter?
Was sind Sprichwörter?
Wer hat’s erfunden und wem gehört’s?
Obwohl der Autor nachdrücklich darauf hinweist, dass die deutschen Sprichwörter den „Ausgangspunkt für die historisch-etymologische und die kulturelle Beschreibung bilden“ (Walter 2021: 29), fällt beim Lesen des Vorworts auf, dass er sich in seinen Ausführungen und bei der Auswahl der Illustrationsbeispiele verstärkt auf das Russische bezieht. Das mag auf die Tatsache zurückzuführen sein, dass Walter Russisch studiert bzw. im Fachbereich „Russische Sprache“ promoviert hat und dass das Russische einen der wichtigsten Schwerpunkte seiner Lehr- und Forschungstätigkeit bildet.
Auf das Vorwort folgen die Hinweise zur Benutzung (S. 29–32), die klar und präzise formuliert sind und den NutzerInnen des Sprichwörterbuchs dabei helfen, eine gewisse Vertrautheit mit der Struktur des Wörterbuchs und der einzelnen Wörterbuchartikel aufzubauen und somit die gesuchten Informationen schnell und unkompliziert zu finden.
Den Hauptteil des Bandes bilden die zahlreichen Wörterbuchartikel (S. 33–550), deren Inhalt und Aufbau im Folgenden kurz unter die Lupe genommen wird. Es werden dabei etliche lexikographische Aspekte diskutiert, die die Makro-, Mikro- und Mediostruktur des Wörterbuchs betreffen (vgl. Hrisztova-Gotthardt 2010: 52–53).
Die Makrostruktur eines Wörterbuches bezieht sich auf Fragen der Definition und Selektion des Wörterbuchbestandes, der Anordnung der Wörterbucheinträge und der äußeren Zugriffsstrukturen. Im Vorwort zum Band legt der Autor fest, welche Art von Sprachdaten im Wörterbuch zu verzeichnen sind, und zwar „[…] vor allem Sprichwörter im engen Sinne, vereinzelt auch sprachliche Erscheinungen, die zur Familie der Sprichwörter (im weiteren Sinne) gerechnet werden können, einige Bibelzitate, Aussprüche bedeutender Persönlichkeiten und großer Denker“ (Walter 2021: 27). Nimmt man noch Walters Arbeitsdefinition hinzu, die Sprichwörter „als abgeschlossene bildhafte und nicht bildhafte Äußerung[en], die einen belehrenden oder hinweisenden Inhalt ha[ben] und die durch eine besondere rhythmische oder phonetische Gestaltung charakterisiert [sind]“ (Walter 2021: 21), stellt sich gerechterweise die Frage, warum im Titel des Bandes nebst „deutsche Sprichwörter“ auch das Wort „Redensarten“ steht. Mit dem Begriff (sprichwörtliche) Redensarten werden in der Sprichwortforschung traditionell „verbale Ausdrücke“ bezeichnet, „die erst in einen Satz eingefügt werden [müssen], um eine feste Aussage zu ergeben“ (Röhrich & Mieder 1977: 15). Da jedoch Walter lediglich Lemmata berücksichtigt hat, die einen Satzcharakter aufweisen, scheint der Zusatz und Redensarten im Titel seines Bandes nicht ganz berechtigt zu sein. Anerkennenswert sind dagegen die Bemühungen des Autors, sich primär auf Sprachmaterial zu konzentrieren, „das aktiv verwendet wird und das charakteristisch für die behandelten Sprachen und Kulturen ist“ (Walter 2021: 27).
Die Anordnung der Wörterbucheinträge entspricht der in der lexikographischen Praxis üblichen Vorgehensweise: Sprichwörter mit ein und demselben Stichwort werden unter diesem Stichwort – meist alphabetisch geordnet – aufgelistet. Es handelt sich dabei im Allgemeinen um das erste Nomen, das im Sprichwort vorkommt:
Auge, das; -s; -n
Auge um Auge, Zahn um Zahn.
[…]
Aus den Augen, aus dem Sinn.
[…]
Vier Augen sehen mehr als zwei.
(Walter 2021: 72–76)
Sollte das Sprichwort kein Nomen enthalten, fungiert das erste Adjektiv, das erste Adverb, das erste Verb bzw. das erste Numerale als Stichwort.
Als äußere Zugriffsstrukturen, die zur Benutzerfreundlichkeit des Wörterbuchs beitragen, dienen die zwei alphabetischen Register am Ende des Bandes. Das eine listet die Lemmata nach Stichwörtern (Walter 2021: 585–596), das andere nach dem ersten Wort auf (Walter 2021: 597–603).
Die Mikrostruktur eines Wörterbuches umfasst folgende Aspekte: die Einordnung der Einträge in den einzelnen Artikeln und die Art und den Umfang der lexikographischen Begleitinformationen.
Die deutschen Sprichwörter, die im vorliegenden Wörterbuch aufgezeichnet sind, sind mit zahlreichen lexikographischen Informationen versehen, die in der Regel in derselben Reihenfolge angeordnet sind.
Nach der Nennung des Sprichwortes folgen häufig Angaben zur stilistischen Färbung des Lemmas und eine Bedeutungserläuterung:
Doppelt [genäht] hält besser (ugs.): Es ist gut, sich zweimal, doppelt abzusichern.
(Walter 2021: 115)
Sowohl bei den deutschen Lemmata als auch bei den anderssprachigen Äquivalenten[1] werden lexikalische und syntaktische Varianten in runden und fakultative Komponenten in eckigen Klammern angegeben:
Viele (Alle) Wege führen nach Rom.
(Walter 2021: 516)
Der Weg zur Hölle ist mit [lauter] guten Vorsätzen gepflastert.
(Walter 2021: 515)
Der Autor ist bemüht, bei möglichst vielen Sprichwörtern Informationen über ihr Alter und ihre Herkunft – falls bekannt – zu liefern. Er zeigt ihren etymologischen, historischen und kulturellen Hintergrund auf und strebt einen Vergleich mit fremdsprachlichen Äquivalenten an:
Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. […]
Bei diesem Sprichwort handelt es sich um eines der bekanntesten Bibelworte und [es] gehört wahrscheinlich zu den am aktivsten verwendeten Parömien überhaupt. Es hat jedoch ältere Wurzeln, in einer [F]abel des griechischen Dichters Äsop (um 600 v.Chr.) wird von einem sterbenden Löwen, einem betrügerischen Wolf und einem schlauen Fuchs erzählt – mit der Moral, dass oft der [B]etrüger zum Opfer seines eigenen Betrugs wird (DRS 2014, 81). Die aktive sprichwörtliche Verwendung ist im Englischen ab 1509 nachgewiesen, im Polnischen ab 1522, 1605 im Deutschen, 1730 im Russischen, im 19. Jahrhundert im Baltischen und im Bulgarischen (Paczolay 2000, 82). Die Wendung wird aktiv in mehr als 50 Sprachen verwendet (ebd., 77), um auszudrücken, dass jemand, der anderen vorsätzlich schaden will, oft selbst die negativen Folgen zu spüren bekommt. […]
Die Verbreitung des Sprichwortes wurde jedoch zweifellos durch die Bibel begünstigt. […]
(Walter 2021: 230–231)
Wie weiter oben ausgeführt war es dem Autor ein wichtiges Anliegen, Texte aufzuzeichnen, die auch aktuell bekannt und gebräuchlich sind. Zugleich vertritt er die Meinung, dass Antisprichwörter (Modifikationen traditioneller Sprichwörter) „als Beleg für die Bekanntheit und Verwendung eines Sprichwortes gelten“ (Walter 2021: 29). Demzufolge führt er in etlichen Wörterbuchartikeln zahlreiche Beispiele für innovative Transformationen des jeweiligen Sprichworts an:
Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. […]
Das Sprichwort wird im Deutschen, im Russischen und in anderen Sprachen aktiv transformiert: Wer andern keine Grube gräbt, fällt selbst hinein […]; Wer andern in der Nase bohrt, ist selbst ein Schwein; Wer andern eine Grube gräbt, der schwitzt; Wer andern eine Grube gräbt, braucht eine Schaufel u.a.; […]
(Walter 2021: 232)
Am Ende der einzelnen Wörterbuchartikel werden Äquivalente in anderen Sprachen aufgelistet. Die meisten davon stammen aus denjenigen Sprachen, die am Institut für Slawistik an der Universität Greifswald gelehrt und gelernt werden (s. weiter oben). An mehreren Stellen finden sich – laut Autor „in weniger konsequenter Form“ (Walter 2021: 18) – auch Pendants aus weiteren (meist) europäischen Sprachen. Es werden zunächst jene Parömien angegeben, die die gleiche oder eine ähnliche syntaktische Grundstruktur aufweisen und sich der gleichen sprachlichen Bilder bedienen; danach folgen solche, die sich zwar in Lexik und Syntax von dem deutschen Sprichwort unterscheiden, jedoch dieselbe Botschaft vermitteln. Nicht ganz konsequent ist Walters Vorgehensweise, was die Übersetzung der anderssprachigen Äquivalente angeht: An manchen Stellen wird hinter der jeweiligen Entsprechung eine wörtliche Übersetzung angegeben; worauf aber die Entscheidung für oder gegen eine solche Übersetzung beruht, bleibt weitgehend unklar.
Ebenfalls etwas schwer nachvollziehbar ist der Grund, aus dem in mehreren Fußnoten etymologische Angaben zu – in erster Linie – deutschen (Apfel, Besen etc.), aber sporadisch auch zu russischen (труп) Stichwörtern gemacht werden.
Was allerdings schon beim ersten Durchblättern des Bandes sehr positiv auffällt, sind die zahlreichen Karikaturen und die Bildnachweise aus dem Internet, die zum einen „zeigen, wie Bildhaftigkeit von Sprichwörtern dargestellt werden kann“ (Walter 2021: 28) und zum anderen eindeutige Belege dafür liefern, dass Sprichwörter in diversen Bereichen unseres Lebens immer noch ihren festen Platz haben.
Zu guter Letzt sei an dieser Stelle kurz auf die Mediostruktur des vorliegenden Sprichwörterbuchs, genauer gesagt auf sein Verweissystem eingegangen. Gelegentlich finden sich am Ende von Wörterbuchartikeln Verweise auf andere Einträge, „besonders in dem Falle, wenn synonyme oder teilsynonyme Bedeutungen vorliegen“ (Walter 2021: 31):
Morgenstund[e] hat Gold im Mund[e].
[…]
Das Sprichwort ist ein Synonym zu der Teilbedeutung des Gelingens in der Frühe von ↑ Der frühe Vogel fängt den Wurm.
(Walter 2021: 363–364)
Verwiesen wird auch in Fällen, in denen der Eintrag unter einem anderen Stichwort erscheint:
Katze, die; -; -n
[…]
Bei (In der) Nacht (Nachts) sind alle Katzen grau. (ugs.): ↑ Nacht: Bei (In der) Nacht (Nachts) sind alle Katzen grau.
(Walter 2021: 290)
Abgeschlossen wird der Band mit einem umfangreichen Literaturverzeichnis, in dem ausgewählte parömiologische Werke, thematische Bibliographien, gedruckte und digitale Wörterbücher, ein- und mehrsprachige Sprichwörtersammlungen sowie Online-Datenbanken aufgelistet sind. Das 34 Seiten lange Literaturverzeichnis (Walter 2021: 551–584) lässt vermuten, welches enorme Arbeitspensum Harry Walter bewältigen musste, damit dieses Sprichwörterbuch entstehen konnte.
Zusammenfassend lässt sich Folgendes sagen: Abgesehen von den einigen wenigen lexikographischen und parömiologischen Schwächen, die zu kritisieren wären, erfüllt der Band (beinah) alle Erwartungen, die durch seinen Titel und das Vorwort geweckt wurden. Walter verzeichnet systematisch zahlreiche aktuell bekannte und gebräuchliche Sprichwörter aus mehreren europäischen Sprachen und stellt sie in ihren historisch-etymologischen und sozial-kulturellen Besonderheiten vergleichend dar. In diesem Sinne eignet sich das Sprichwörterbuch als wertvolles Nachschlagewerk sowohl für Studierende der Germanistik und Slawistik als auch für Phraseologen, Volkskundler sowie für Sprach- und Kulturhistoriker.
Hrisztalina Hrisztova-Gotthardt
Correspondence address: xpucuhu@gmail.com
Literatur
Hrisztova-Gotthardt, Hrisztalina. 2010. Vom gedruckten Sprichwörterbuch zur interaktiven Sprichwortdatenbank. Überlegungen zum linguistischen und lexikographischen Konzept mehrsprachiger Sprichwortdatenbanken. Bern: Peter Lang Verlag.10.3726/978-3-0351-0023-5Search in Google Scholar
Röhrich, Lutz & Wolfgang Mieder. 1977. Sprichwort. Stuttgart : Metzler Verlag.10.1007/978-3-476-03863-0Search in Google Scholar
© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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