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Editorial (Deutsch)

Published/Copyright: November 29, 2021
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In unserer neuen Funktion als HerausgeberInnen des Jahrbuchs möchten wir alle Leserinnen und Leser herzlich begrüßen und Ihnen das Heft 12 (2021) präsentieren. Es beinhaltet interessante Beiträge zu älteren und aktuellen Fragestellungen der Phraseologie des Deutschen, Englischen, Russischen und Spanischen in Zusammenhang mit morphologischen und syntaktischen Phrasemen, Routineformeln, Vergleichsphrasemen und Phrasalverben. Dabei steht der Aspekt der Variabilität und des Modifikationspotenzials der angeblich festen Formen im Vordergrund, der anhand von Korpusbelegen – vorwiegend der konzeptionellen Mündlichkeit – relativiert wird.

Die Geschichte und Bedeutungsentwicklung des Terminus “Phraseologie” sowie die Historiografie der phraseologischen und phraseografischen Studien stoßen nach wie vor auf großes Interesse in der heutigen Forschung, wie der Aufsatz von Erica Autelli (Universität Innsbruck, Österreich) bezeugt. Die Studie wirft ein neues Licht auf bis dato kaum erforschte Terminologie und auf phraseologische Werke von berühmten italienischen Autoren, die im Zeitraum zwischen dem 17. und dem 20. Jahrhundert ihre monolingualen und bilingualen “phraseologiae”, d.h. Sammlungen von phraseologischen Einheiten im weiteren Sinne (inklusive u. a. Chunks und Sentenzen) zu phraseografischen bzw. didaktischen Zwecken publizierten. Somit wird diese Arbeit der wichtigen Leistung von italienischen Sprachwissenschaftlern zur Entstehung und Konsolidierung der phraseologischen Disziplin gerecht.

Igor Mel’čuk (Universität Montréal, Kanada) beschäftigt sich in seinem Aufsatz über das Russische mit zwei Phrasemtypen, denen in der Phraseologieforschung längst keine so große Beachtung wie lexematischen Phrasemen geschenkt worden ist. Es handelt sich auf der einen Seite um Morphophraseme – eine von Mel’čuk zum ersten Mal 1964 vorgeschlagene Phrasemklasse innerhalb der Wortgrenze – und andererseits um syntaktische Phraseme, auch Phraseoschablonen genannt. Die Erforschung solcher Schablonen hat in der russischen Linguistik eine große Tradition, während diese Einheiten im deutschen und germanischen Sprachraum lange Zeit eher peripher behandelt wurden. Den Aufsatz abschließend präsentiert der Autor eine nützliche Liste von 29 verschiedenartigen syntaktischen Phrasemen.

Ebenso als Phraseoschablone kann die Struktur [ni X] (dt. [weder X]) betrachtet werden, die im Spanischen als kommunikative Ablehnungsformel fungiert und von Anais Holgado Lage (Princeton University, U.S.A.) anhand von drei diatopischen Varietäten des Spanischen empirisch untersucht wird. In ihrer auf Informantenbefragungen aus Spanien, Mexiko und Kolumbien basierten Studie zeigt die Autorin anhand zahlreicher Beispiele und Grafiken die hohe diatopisch bedingte Variabilität der ni-Routineformeln in der plurizentrischen spanischen Sprache sowie die Diskrepanz zwischen der im Wörterbuch verzeichneten Form und ihrem tatsächlichen kreativen Usus im Diskurs. Darüber hinaus sind die im Spanischen umgangssprachlichen ni-Formeln der Widerlegung durch einen Gebrauch auf hauptsächlich mündlicher Ebene gekennzeichnet, was in vielen Fällen ihr kurzzeitiges Leben erklärt.

Wie im zuletzt kommentierten Aufsatz geht auch Oksana Hordii (Universität für Öl und Gas Iwano-Frankiwsk, Ukraine) auf das Phänomen der satzwertigen Routineformeln ein. Den Untersuchungsgegenstand bilden in diesem Fall kommunikative und expressive Formeln des Deutschen (z.B. aus dem Bereich der Emotionen und Gefühle wie Da wird der Hund in der Pfanne verrückt! oder So weit kommt’s noch!), die illokutive Akte wie ‘Verwunderung’, ‘Abweisung’ oder ‘Ermunterung’ vertreten oder die Einstellung des Sprechers zur außersprachlichen Situation vermitteln. In Übereinstimmung mit den Ergebnissen der Google-Suchanfragen beweist die Studie aufgrund der hohen Trefferzahl von vielen der untersuchten 2140 Einheiten die immense Vitalität dieser Art von Formeln im heutigen Deutsch, was durch ihr Vorkommen als Bestandteil von Namen bzw. Überschriften von YouTube- und Forenwebseiten zweifelsohne erhärtet wird. Als wichtige Schlussfolgerung sei die formale Flexibilität dieser Formeln auf der Diskursebene hervorgehoben, sodass die im Wörterbuch verzeichneten Satzformen in der Regel nur als (überwiegende) Realisationsvarianten betrachtet werden sollten.

Stabilität und Modifizierbarkeit wurden in der Idiomatikforschung schon früh als zwei sich ergänzende Seiten der phraseologischen Medaille erkannt. Der kontroverse und immer noch aktuelle Aspekt der Modifizierbarkeit von Phrasemen wird – außer in den oben erwähnten Arbeiten von Holgado Lage und Hordii – ebenso im Aufsatz von Gabrijela Buljan und Lea Maras (Faculty of Humanities and Social Sciences, University of Osijek, Kroatien) behandelt. Untersucht wird hier eine besondere Art von Modifikation der englischen [(as) Adj as NP]-Vergleichsphraseme, nämlich die sogenannte “Matryoshka-Modifikation”, wie sie z.B. bei blood-red as a raw steak (cf. red as blood) identifizierbar ist. Anhand von drei Korpora, unter denen das Web als Korpus (Google) als nennenswerte Alternative erscheint, und mit Hilfe quantitativer Methoden wird den Beziehungen zwischen verschiedenartigen distributiven und formalen Merkmalen der as-Vergleiche unter besonderer Berücksichtigung von potenziellen Modifikationsmustern nachgegangen.

Das aktuelle Heft endet wiederum mit einem diachron ausgerichteten Aufsatz. Untersuchungsgegenstand der Arbeit von Ljubica Leone (Universität Salerno, Italien) ist der Gebrauch von englischen „phrasal verbs“ vs. Simplizia in den Gerichtsprozessen des Londoner Central Criminal Court der späten englischen Neuzeit zwischen 1750 und 1850. In dieser korpusbasierten Studie wird in den untersuchten Gesprächen zwischen Laien und Juristen eine deutliche Präferenz für germanische Verben des Typs to go on, to leave off gegenüber den Simplizia romanischen Ursprungs (z.B. to continue, to desist) festgestellt, was in der Expressivität und der besseren Anpassung an die jeweilige kommunikative Situation der germanischen Verben begründet liegt. Aus einer phraseologischen Perspektive fokussiert der Beitrag auf das in der Phraseologie wenig erforschte Thema der englischen „phrasal verbs“ als eigenen Phrasemtyp und ihre pragmatische Spezifik gegenüber ihren monolexematischen Pendants.

Das Jahrbuch schließt mit acht Rezensionen zu spannenden Neuerscheinungen im Gebiet der Phraseologie und Phraseografie.

Abschließend möchten wir uns bei Annelies Häcki Buhofer für ihr Engagement als Chefherausgeberin herzlich bedanken. Sie sowie ihre Vorgänger haben in hervorragender Weise zum Erfolg des Jahrbuches beigetragen. Selbstverständlich werden wir unser Bestes tun, damit das YoP weiterhin eine gute Adresse für alle an Phraseologie interessierten Wissenschaftler bleibt.

Published Online: 2021-11-29
Published in Print: 2021-11-25

© 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 14.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/phras-2021-0002/html
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