Vom Reiz des Immersiven
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Doris Kolesch
Abstract
Am Beispiel immersiver Situationen untersucht der Beitrag Verflechtungen zwischen alltäglichen ästhetischen Formationen und performativen Künsten. Denn sowohl in der Theater- und Performancekunst als auch in einem weiten Spektrum von Arbeits-, Konsum- und Erlebniswelten gewinnt Immersion als Erfahrung der Verflüssigung von Grenzen und Räumen zunehmend an Bedeutung. Der Text charakterisiert wesentliche Aspekte immersiver Theaterformen, erläutert kritisch etablierte Konzepte von Immersion und zeigt am Beispiel des Smartphone- und Tabletspiels Pokémon Go das Eindringen des Immersiven in den mediatisierten Alltag. Abschließend wird die seismografische Signifikanz des Immersiven für die Gegenwart reflektiert, insofern Immersion ein neues epistemologisches Verständnis von Subjekt und Welt sowie einen neuen Zugang zu ihr anzuzeigen scheint.
Immersives Theater
Seit etlichen Jahren etablieren sich Aufführungsformate, die eine Beteiligung, eine aktive Teilnahme, ja Teilhabe des Publikums einfordern. Schlagworte wie Partizipation, Interaktives Theater, bisweilen despektierlich auch „Mitmach-Theater“ genannt, aber auch immersives Theater dominieren die Debatten und polarisieren ZuschauerInnen wie Kritik. Mach mit, bring dich ein, werde aktiv, engagiere dich, mach das Beste aus deinem Theaterabend, du bist für deine Erlebnisse selbst verantwortlich – appellieren diese Theaterformate beständig an ihr Publikum. Die Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben, von Kunst und Alltag, die seit den historischen Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts künstlerische Phantasien wie Praktiken mobilisiert, scheint hier eingelöst.
ZuschauerInnen werden mit Handy, Radio oder Kopfhörer ausgestattet und durch den Stadtraum oder auch ein Theatergebäude geführt und befolgen dabei die stimmlich übermittelten Anweisungen einer unbekannten Person – oder auch nicht (wie bei den Walks von Ligna, Rimini Protokoll oder Janet Cardiff und George Bures Miller). Sie können aber auch in ein begehbares Bühnenbild steigen und mit den Performern sowie mit andern ZuschauerInnen gemeinsam essen und diskutieren, wie in Showcase Beat Le Mots Cooking in Crisis. SheShePops Warum tanzt Ihr nicht? fordert die BesucherInnen auf, mit den PerformerInnen zu tanzen, wobei es allerdings auch den Freiraum gibt, unschlüssig in der Ecke stehen zu bleiben und den anderen beim Tanzen zuzusehen, was allerdings auch keine Lösung des Dilemmas „Mitmachen oder nicht“ verspricht, werden doch peinliche Erinnerungen an Klassenpartys aus der eigenen Schulzeit evoziert. In anderen Produktionen kann man zum Theaterpublikum werden, das ironisch-distanziert und gleichwohl rechtmäßig beteiligt die Abläufe, Spielregeln und Verhaltensweisen auf einer realen Aktionärsversammlung von Daimler Benz beobachtet, wie in Rimini Protokolls Die Hauptversammlung. TheaterbesucherInnen können – wie in der Produktion The Money von Kaleider – entweder als stumme ZeugIn dabei sein oder als WohltäterIn mitentscheiden, was mit den Einnahmen des Abends geschieht, wobei Mitentscheiden hier billiger kommt als vermeintlich unbeteiligter „silent witness“ zu sein. In den Arbeiten des Künstlerkollektivs SIGNA schließlich, das seit über zehn Jahren auf höchst eigenwillige und innovative Weise das immersive Potenzial performativer Installationen entfaltet und erkundet, kann man Gefahr laufen, sich peinlicher Befragungen oder auch körperlicher Züchtigungen zu unterziehen wie in den Hundsprozessen oder sexuell ein- bzw. zweideutige Einladungen zu erhalten, wie in Club Inferno.
Ausgehend von diesen zuletzt genannten immersiven Theaterformen und ihrer zunehmenden Verbreitung wie Popularität fragt der vorliegende Beitrag nach der seismografischen Signifikanz des Immersiven für unsere Gegenwartsgesellschaft. Bemerkenswert ist nämlich, dass immersive Situationen und Settings nicht nur für ästhetische Formationen in Theater, Film, Video, Computerspiel oder auch Virtual Reality-Anwendungen charakteristisch sind, sondern verstärkt alle nur denkbaren gesellschaftlichen und kulturellen Bereiche durchziehen: vom militärischen Einsatz immersiver Szenarien zur Kriegsvorbereitung und Soldatenausbildung über medizinische Anwendungen, unterschiedliche edukativ-didaktische Kontexte wie die Museumspädagogik oder die Vermittlung verschiedenster Wissensbestände und Erfahrungsformen, ökonomisierte Werbe-, Konsum- und Arbeitswelten bis hin zur Erlebnis- und Unterhaltungsindustrie. Dabei möchte ich in diesem Beitrag die These verfolgen, dass das Potenzial wie die Faszination des Immersiven darin begründet liegt, dass Immersionserfahrungen eine Verflüssigung von Grenzen und Räumen implizieren. Immersion hat mit Erfahrungen, Vorstellungen, Konzepten, bisweilen auch Phantasien der Verwischung oder gar Auflösung der Grenzen zwischen Subjekten und Medien, zwischen BetrachterInnen/Be-NutzerInnen und Räumen, sowie zwischen unterschiedlichen Wahrnehmungs- und Erfahrungsdimensionen (z. B. visuell – körperlich-haptisch) zu tun – also mit der Vermischung und Hybridisierung ansonsten vermeintlich klar geschiedener Kategorien, Praktiken oder Bereiche.
Immersive Theaterformen bespielen häufig urbane Räume, welche nicht als Orte von Kunst institutionalisiert sind, wie leerstehende Fabrik- oder Bürogebäude, Brachflächen, U- oder S-Bahn-Bögen etc. Sie kombinieren Darstellungsmuster aus Schauspiel-, Performance- und Installationskunst mit Elementen aus der Populärkultur, aus Film, Fernsehen und Unterhaltungsindustrie, aber auch mit Elementen aus der Arbeitswelt, dem Gesundheitssystem, der Psychotechnik, der Rechtsprechung und Bürokratie oder auch der Sexindustrie. In durchgestalteten, atmosphärisch dichten Räumlichkeiten, die nicht nur visuell, sondern auch akustisch, olfaktorisch, gustatorisch und materiell bezüglich der verwendeten Gegenstände, Stoffe und Texturen einen ganzheitlichen Wahrnehmungseindruck erwecken und perfekt durchinszeniert sind, werden begehbare Parallelwelten erzeugt, in denen sich die BesucherInnen häufig für mehrere Stunden aufhalten, wobei sie mit den PerformerInnen ebenso wie mit anderen BesucherInnen interagieren (können) und bisweilen auch müssen.
Prägnant könnte man die unterschiedlichen Erscheinungsformen und Ausprägungen immersiven Theaters[1] wie folgt auf den Begriff bringen: Es mobilisiert die ZuschauerInnen in einem umfassenden Sinn, und es schafft die Bühne als einen klar abgegrenzten, besonderen Ort ab, ja totalisiert sie. Damit befragt immersives Theater die Grundbedingungen von Theater überhaupt: Was ist, woraus besteht und was charakterisiert diesen gemeinsamen, geteilten Raum des Theaters, der ja immer von Topografien und Hierarchien durchzogen ist? Was ist das für ein Publikum – und ist das überhaupt noch ein Publikum? –, das da zum Teilnehmer, Zeugen, Komplizen und häufig gar zum Akteur des Geschehens wird, einem Geschehen, in dem plötzlich jede/r Einzelne für sein Theatererlebnis selbst verantwortlich zu sein scheint? Was für eine Form von Gemeinschaft – wenn man hier überhaupt von Gemeinschaft sprechen kann – bildet diese temporäre Zufallsgemeinschaft einer Aufführung, in der Einzelne nicht selten in sogenannten one-to-one-Situationen ausgewählt, zufällig oder auch aus bestimmten, zumeist nicht ersichtlichen Gründen isoliert und separiert werden? Dies geht so weit, dass manche Aufführungen, beispielsweise der belgischen Gruppe Ontroerend Goed, nur noch mehr oder weniger intime Begegnungen zwischen einem Performer und einem Zuschauer konstellieren, so dass das Publikum nicht mehr als Kollektiv erscheint, sondern vielmehr einer kollektiven Vereinzelung Vorschub geleistet wird. The Smile off Your Face beispielsweise vollzieht sich durchgängig in one-to-ones. In dieser Arbeit wird jede BesucherIn einzeln durch verschiedene, atmosphärisch dichte Räumlichkeiten geführt. Mit verbundenen Augen und Händen, den Körper in einem Rollstuhl immobilisiert, wird man im rollenden Stuhl mobilisiert und von freundlichen PerformerInnen zu verschiedensten Situationen gefahren und zu den unterschiedlichsten sinnlichen Erfahrungen eingeladen. Eine Feder kitzelt plötzlich im Gesicht, helles Rascheln wie von Bonbonpapier erklingt ganz nah am eigenen Ohr, und schließlich liegt man, noch immer mit gefesselten Händen und verbundenen Augen, auf einem Bett, neben oder fast über sich eine nur leicht bekleidete PerformerIn. Ein anderes Beispiel ist Mona el Gammals Rhizomat, bei dem im Herbst 2016 das ehemalige DDR-Fernmeldeamt in der Palisadenstraße in Berlin in ein „Institut für Methode“ des Jahres 2060 verwandelt wurde. In diesem bis ins kleinste Detail durchinszenierten, narrativen Raum wurde ein Stück aufgeführt, in dem keine einzige SchauspielerIn oder PerformerIn einen Auftritt hatte. Die BesucherInnen wurden einzeln auf einen Parcours und auf Spurensuche durch die auratisch aufgeladenen Räume geschickt, wobei Ton- und Lichtsignale die Dauer des Aufenthalts begrenzten.
So unterschiedliche, zwischen den Künsten und Gattungen angesiedelte Produktionen wie Rimini Protokolls Situation Rooms, Mona el Gammals Haus Nummer Null oder der soeben erwähnte Rhizomat, Interrobangs Callcenter Übermorgen, SIGNAs Die Erscheinungen der Martha Rubin oder auch die rezenteren Söhne & Söhne, Wir Hunde oder Das Heuvolk können als Beispiele immersiver Theaterformen angeführt werden. Auch Arbeiten u. a. von Artangel, Blast Theory, Lundahl & Seitl, den schon genannten Ontroerend Goed, Punchdrunk, Shunt, Slung Low, You Me Bum Bum Train oder Zecora Ura sind als immersives Theater beschrieben worden.
Was ist Immersion?
Immersion leitet sich vom lateinischen Verb immergere her, das ursprünglich das Eintauchen eines Körpers oder Gegenstands in eine Flüssigkeit bezeichnet und im übertragenen Sinn das Sich-Versenken, Sich-Vertiefen in eine bestimmte Situation. Während Immersion im Deutschen erst seit kurzem gebräuchlich ist, wird der Begriff im Englischen schon lange benutzt, um das (vollständige) Eintauchen in (künstliche) Welten oder Zeichensysteme zu beschreiben. Klassische Immersionserfahrungen sind beispielsweise die christliche Taufe oder auch der Spracherwerb, wenn Personen, zumeist Kinder, in ein fremdsprachiges Umfeld versetzt werden, um die Sprache zu lernen.
In den letzten Jahrzehnten waren Diskurse und Theorien der Immersion insbesondere im Zusammenhang mit Film, Video, Computerspiel, Virtual Reality und anderen medientechnischen Entwicklungen virulent. Allerdings ist nachdrücklich zu unterstreichen, dass Immersion keineswegs ein Signum der jüngeren Gegenwart darstellt oder gar ein Charakteristikum medientechnischer Errungenschaften ist. Im Gegenteil – wir können ganz in das reichlich ‚alte‘ Medium eines Buches versunken sein (im Englischen ist die Leserin oder der Leser „immersed in a book“) oder wir vergessen Zeit und Umgebung bei der Betrachtung eines Gemäldes.
Die beiden letztgenannten Beispiele des Buchs und des Gemäldes zeigen an, dass es sinnvoll ist, unterschiedliche Formen und Dimensionen von Immersion zu differenzieren, zumal der Begriff auf äußerst unterschiedliche mediale Kontexte bezogen wird: „In the broadest sense, ‚immersion‘ describes a sensation that can equally arise while reading a book, watching a film, visiting an exhibition, or playing a computer game, namely, the impression of being placed in or surrounded by the space articifially created by the respective medium. This impression can be summoned by addressing both our perceptual apparatus as well as our imagination – two examples of entirely different modes of aesthetic experience“ (Dogramaci/ Liptay 2016, S. 11).
Vor diesem Hintergrund können Immersionserfahrungen grundsätzlich als psychisch-psychologische und/oder perzeptuell-physische Ver-Ortungen in künstlerisch und/oder medial geschaffenen Welten beschrieben werden. Eine eher mental-kognitive Dimension von Immersion, die ästhetische Verfahren der Illusionierung und Illudierung immer schon prägt und als fiktionale Immersion dadurch gekennzeichnet ist, dass „ein Großteil der Aufmerksamkeit des Rezipienten von der Umgebung abgezogen und ganz auf das Artefakt gelenkt“ wird (Voss 2009, S. 127), kann so von perzeptuellen bis hin zu ganzkörperlichen Immersionserfahrungen unterschieden werden, wie sie im immersiven Theater, aber auch in immersiven Arbeits-, Konsum- und Erlebniswelten provoziert werden, in denen der Betrachter/ Zuschauer/Nutzer ein aktives und konstitutives Element der Umgebung darstellt, in der er oder sie sich gerade befindet.
„Die Ästhetik der Immersion ist eine Ästhetik des Eintauchens, ein kalkuliertes Spiel mit der Auflösung von Distanz. Sie ist eine Ästhetik des emphatischen körperlichen Erlebens und keine Ästhetik der kühlen Interpretation. Und: sie ist eine Ästhetik des Raumes“, schreibt die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Laura Bieger (2011, S. 75). Michel Foucault hat in seinen vielbeachteten Überlegungen zu „Anderen Räumen“ (1990), in denen er das Konzept der Heterotopie entwickelt, das 19. Jahrhundert als Epoche der Zeit, der Geschichte, des Fortschritts und des Denkens in historischen Prozessen charakterisiert, während er demgegenüber das 20. Jahrhundert als Epoche des Raums, der Platzierung, des gleichzeitigen Nebeneinanders und der Vernetzung bestimmte. Diese zentrale Rolle des Raumes, räumlicher Platzierungen und damit auch körperlicher Situierungen wird von den zahlreichen Immersionsangeboten in der mediatisierten Alltagskultur ebenso aufgenommen wie in der Kunst. Gegenüber ‚klassischen‘ Immersionsformen in Malerei, Film oder Literatur kann als Spezifikum zahlreicher aktueller und besonders erfolgreicher Immersionsangebote in Kunst und Kultur gerade die Verknüpfung von perzeptueller und psychologischer Immersion, von körperlich-physiologischen und mental-kognitiven Entgrenzungserfahrungen hervorgehoben werden. Dabei unterlaufen diese immersiven Formate und Situationen etablierte Vorstellungen von Räumen als abgegrenzten, Container-gleichen Orten und damit verbundenen festen Perspektiven und Standpunkten, indem Räume, Grenzen und Sichtweisen verflüssigt werden. Hierzu sei im Folgenden ein Beispiel aus der Alltagskultur angeführt.
Pokémon Go
Im Sommer 2016 häuften sich in allen Medien Berichte über eigentümliche Verhaltensweisen von jüngeren und auch nicht mehr ganz so jungen Menschen. Mit einem Smartphone ausgestattet zogen sie durch Bahnhofshallen oder Fußgängerzonen, sammelten sich auf Markt- oder Dorfplätzen, blockierten Brücken und Bürgersteige oder stürmten Geschäfte, bisweilen Kirchen sowie andere öffentliche wie nicht-öffentliche Gebäude. Es handelte sich dabei weder um neuartige Protestformen noch um Demonstrationen für ein bestimmtes politisches oder soziales Anliegen, es handelte sich schlicht um Pokémon-Go-Spieler auf der Suche nach den „Pocket Monstern“, deren Kurzform Pokémon dem Spiel den Namen gab.
Pokémon war in den späten 1990er Jahren eines der erfolgreichsten Videospiele auf Nintendos Gameboy und verkaufte sich bis heute mehr als 200 Millionen Mal, es gab zudem eine Fernsehserie, zahlreiche Kinofilme sowie höchst erfolgreiche Sammelkartenspiele mit den kleinen Monstern. Pokémon Go nun mobilisiert die niedlichen Monster und auch die Spielenden: Die Standort-Erkennung (GPS) des Smartphones registriert den genauen Standort des Nutzers und überblendet mittels Augmented-Reality-Technik bei aktivierter Handykamera das Bild der realen Welt mit Darstellungen der kleinen Monster, die darauf warten, von den Spielern gefangen zu werden. Die Spieler können die Pokémon nur sehen, wenn sie in ihrer Nähe sind. Dabei reagieren die virtuellen Monster durchaus auf die reale Umgebung, beispielsweise tauchen Wasser-Pokémon vor allem in der Nähe von Flüssen oder Seen auf.
In Düsseldorf wurde die Girardet-Brücke wegen des hohen Spieleraufkommens zeitweise für den Verkehr gesperrt, in Niedersachsen verirrten sich ins Spiel vertiefte Teenager auf einen Truppenübungsplatz der Bundeswehr und gerieten, den Kopf aufs Handydisplay gesenkt, in eine Schießübung mit scharfer Munition. Und in den nie um einen pädagogischen Ratschlag verlegenen USA leuchtete Autofahrern über den Highways der Hinweis entgegen: „POKEMON GO IS A NO-GO WHILE DRIVING“. Die mehr oder weniger skurrilen Anekdoten, was alles beim Pokémon-Go-Spielen passieren kann (vom Verkehrsunfall über Hausfriedensbruch bis zum Fund einer Leiche!), sind Legion und beleben eine diskursive Hysterie und einen medialen Hype, der technisch vermittelte Immersionserfahrungen schon immer begleitet hat, egal ob es sich im 19. Jahrhundert um die Panoramen und Dioramen handelte, im 20. Jahrhundert um das Kino oder Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts um Virtuelle Realität.
Der vermeintliche letzte Schrei entpuppt sich mithin erneut als leicht veränderte Wiederkehr des Vergangenen. Auch die Untergangsvisionen und beflissenen Kommentare, die derart immersive, Spieler oder Betrachter ganz in eine künstliche, virtuelle Realität hineinziehende Medien und Formate provozieren, erweisen sich als erstaunlich hartnäckige Vorurteile und medienkritische Stereotype, die so oder so ähnlich schon öfters erzählt bzw. beschworen wurden. Woran aber liegt es, dass Immersion derzeit so attraktiv und omnipräsent ist und dass Milliarden in immersive Anwendungen ebenso im militärischen, technischen, wissenschaftlichen und edukativen Bereich investiert werden wie im Bereich der (sozialen) Medien und der Unterhaltungsindustrie?
Immersion als Symptom des neoliberalen Kapitalismus
Stellvertretend für unzählige weitere Beispiele zeigt Pokémon Go, dass Immersion inzwischen ein zentraler Bestandteil der allumfassenden Ästhetisierung unserer Lebenswelt geworden ist. Während die Künste häufig technische, mediale oder auch gesellschaftlich-soziale Entwicklungen vorwegnahmen und in experimentellen Settings erprobten, gilt für immersive Räume und Situationen, dass es sich bei ihnen kulturhistorisch zunächst um kultische Räume, ab dem 19. Jahrhundert dann vor allem um Räume des Konsums handelt. Literarische Zeugnisse belegen die Faszination und den Rausch, welchen die ersten Warenhäuser mit ihrer Möglichkeit, in die im Überfluss dargebotenen und ausgestellten Waren geradezu einzutauchen, auf die Zeitgenossen ausübten. Ein Grund für die gegenwärtige Faszination des Immersiven ist sicherlich die Verbindung zu neuesten Technologien, wie beispielsweise der Virtual-Reality-Brille Oculus Rift, die seit 2016 auch für die Allgemeinheit käuflich zu erwerben ist.
Dabei begleitet ein beständiger Vorwurf immersive Techniken und Erfahrungen – nämlich der Vorwurf der anti-aufklärerischen Manipulation. Unabhängig davon, ob es sich um die Atmosphäre einer Shopping Mall, um cineastische Bildwelten oder um die Strategie eines Computerspiels handelt, das wahrnehmende und erlebende Subjekt wird vielfach als eines beschrieben, das sich dem verführerischen Sog nicht wirklich zu entziehen vermag, ja ihm geradezu ohnmächtig ausgesetzt ist. So nimmt es kein Wunder, dass auch Pokémon Go als ultimative Verblendung kritisiert wurde. Der nie um starke Thesen verlegene Slavoj Žižek (2016) verglich das Smartphone-Spiel gar mit dem Mechanismus der nationalsozialistischen Ideologie. Statt die Menschen aus der realen Welt herauszureißen und in einen künstlichen virtuellen Raum zu führen, verbinde Pokémon Go beide Welten miteinander, so seine Argumentation. Sowohl das Bild der Wirklichkeit als auch der Umgang mit ihr werde mithin nach dem Fantasiebild des Virtuellen, in diesem Fall des digitalen Bildschirms, geformt.
Diesem Verdikt, insbesondere in seinem historischen Vergleich, muss man sich nicht anschließen. Zweifellos aber ist das kritische Potenzial einer Ästhetik der Immersion erst noch zu entwickeln. Ein Ansatzpunkt in unserer vernetzten, globalisierten Welt könnte sein, dass die künstlerische Gestaltung immersiver Räume dafür sensibilisieren kann, dass es einen gleichsam archimedischen Punkt der Weltbetrachtung, den einen richtigen Standpunkt nicht mehr gibt und wie diese Vielzahl von Perspektiven und Positionen miteinander verwoben ist, bisweilen auch im Widerstreit miteinander liegt.
Denn Žižeks Verurteilung bezieht sich auf eine – durchaus dominante – Begriffstradition von Immersion, welche Immersion als Erweiterung, ja Totalisierung der ästhetischen Illusion auffasst. Ein weiteres, insbesondere in der Theater- und Medienwissenschaft etabliertes Begriffsverständnis, welches Immersion gerade nicht als unreflektiertes Eintauchen, als naives Verschmelzen mit einer medial gestalteten Welt versteht, sondern vielmehr gerade als Unterbrechung der ästhetischen Illusion, wird hier ignoriert. Dieses Verständnis von Immersion als Unterbrechung der ästhetischen Illusion möchte ich jedoch unterstreichen und betonen, insofern für die Erfahrung der tiefen Versunkenheit, der intensiven Immersion insbesondere das Moment der Distanz, des Bruchs konstitutiv ist. Mit anderen Worten: Vor allem die Spannung zwischen dem Eintauchen in und dem Auftauchen aus einer Situation oder einer (virtuellen, künstlichen) Welt prägt die Immersionserfahrung. Gleichwohl gehört es zum Mythos der Diskurse des Immersiven, einseitig Erfahrungen des Eingetaucht-Seins, des vollkommenen Gebannt-Seins in einer anderen Welt zu betonen und das für das Erleben dieser Erfahrungen wesentliche Moment der Distanz und des Rahmenbewusstseins häufig zu unterschlagen. Insbesondere in künstlerischen Zusammenhängen – und das ist vielleicht eine ihrer (selbst-)reflexiven Stärken – wird deutlich, dass die bloße Hingabe an die Illusion, die Bereitschaft, sich verführen zu lassen und sich distanzlos der Sogwirkung einer Illusion emphatisch hinzugeben, zur Erklärung immersiver Situationen und Erfahrungen nicht hinreicht: Vielmehr geht es um eine subtile Choreografie von Eintauchen und Auftauchen, um das Zusammenspiel von Illusionierung und Desillusionierung.
Mittendrin statt gegenüber
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Immersion ein Signum der Gegenwart darstellt. Abschließend seien spekulativ einige Überlegungen formuliert, die den derzeitigen Hype um Immersion zu erklären suchen.
Spezifisch für die zunehmenden Immersionserfahrungen ist neben ihrer perzeptiven Intensität auch ihre physisch-körperliche Dimension, egal, ob es sich um Desorientierung, Schwindel, Schock oder auch (den Eindruck perfekter) Körperbeherrschung handelt. Dabei sind durchaus mediale wie historische Unterschiede von Immersionserfahrungen zu differenzieren. So scheinen sich künstlerische immersive Welten von außerkünstlerischen dadurch zu unterscheiden, dass die Welten des Konsums, der Arbeitswelt oder auch des Computerspiels eher das Gefühl der narzisstischen Selbstversicherung zu befördern scheinen, während künstlerische Entwürfe demgegenüber eher dystopische, verunsichernde und irritierende Aspekte in den Vordergrund stellen. Doch künstlerische ebenso wie technische Entwicklungen allein erscheinen nicht hinreichend, um die gegenwärtige Faszination des Immersiven zu erklären.
Denn die seismografische Signifikanz von Immersion für die Gegenwart kann meines Erachtens nicht darauf reduziert werden, dass immersiven Erfahrungen bzw. Situationen ein gleichsam vorauseilender Gehorsam für die Anforderungen an das Subjekt im neoliberalen Kapitalismus zugeschrieben wird. So zutreffend die Überlegungen von Adam Alston (2013, 2016) und anderen beispielsweise zur neoliberalen Dimension von immersivem Theater sind, so wenig reichen sie als Erklärung hin. Alston argumentiert, dass in diesen künstlerischen Formaten subjektive Vermögen wie Risikofreude, Handlungsfähigkeit und Verantwortung in einer Art und Weise provoziert und trainiert werden, dass die Teilnehmenden letztendlich in ökonomisch wie gesellschaftlich hegemoniale Formen von Narzissmus und neoliberaler unternehmerischer Partizipation eingeübt werden: „Immersive theatre encourages opportunism, the perception of personal autonomy and favours those who have the capacity to act upon it“ (2013, S. 137).
Alston stimmt damit in den kulturpessimistischen Chor derjenigen ein, die Immersion mit dem Verlust von kritischer Distanz und damit zugleich mit dem Verlust kritischer Reflexions- und Beurteilungsfähigkeit gleichsetzen. Wenn, wie oben erläutert, Immersion jedoch nicht einfach als Erweiterung und Totalisierung von ästhetischer Illusion, sondern gerade als deren Unterbrechung und Bruch verstanden werden muss, dann wäre Immersion weniger als totales, überwältigendes Spektakel des Eintauchens oder der Verschmelzung zu konzeptualisieren, sondern vielmehr als ein Bewusstmachen der spezifischen Betrachterposition, ein Aufmerksam-Machen auf die kritische Beziehung zur Darstellung. Mit Bezug auf künstlerisch-mediale Kontexte schreiben Burcu Dogramaci und Fabienne Liptay hierzu: „[W]e understand immersion as the result of a complex framework of reception within which the interface functions as the actual site of historically shifting relations between media und users“ (2016, S. 10).
Diese „historically shifting relations“ sind meines Erachtens insbesondere durch zwei miteinander verbundene, weitreichende Entwicklungen der letzten Jahrzehnte gekennzeichnet bzw. hervorgerufen:
Wir haben es zum einen mit einem langsam, noch unklar und vage sich abzeichnenden neuen Modell des Verhältnisses des Menschen zur Welt zu tun. War spätestens seit der Aufklärung der distanzierte Überblick und die rational-abwägende, vermeintlich unbeteiligte Betrachtung dominant, so sind die Einseitigkeit und Problematik dieser Sichtweise in den letzten Jahrzehnten umfangreich und aus unterschiedlichsten Perspektiven thematisiert und kritisiert worden. Das zunehmende Interesse an emotionaler Intelligenz, die Betonung von Empathie, von intuitiven Entscheidungsprozessen, wie auch von affektiven Relationen und Resonanzen nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungen, sondern auch in politischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen oder edukativen Kontexten seien hier nur exemplarisch als Beispiele genannt. Fast scheint es, dass mit dem Fall der Berliner Mauer und dem Ende des Kalten Krieges nicht nur das konfrontative Lagerdenken von Ost vs. West, von kapitalistisch vs. sozialistisch weitgehend aufgelöst wurde, sondern dass auch andere in dieser Zeit zunehmend relevanter gewordene Erscheinungen bzw. Strömungen zu einer umfassenden Hinterfragung etablierter Dichotomien und Sichtweisen führten. So sind es in naturwissenschaftlicher, in wirtschaftlich-politischer und in kulturwissenschaftlicher Hinsicht meines Erachtens drei Phänomene, die den Blick auf die Welt und den Versuch des Menschen, sich in und mit ihr zu positionieren, in den letzten Jahrzehnten geprägt haben: Klimaerwärmung, Globalisierung und postkoloniales Denken. Alle drei kennzeichnet, dass sie nicht mehr aus einer Perspektive des Gegenüber, nicht mehr aus der Perspektive des einen Überblicks formuliert und erklärt oder auch gestaltet werden können, sondern nur durch Einnahme und Akzeptanz der Position eines vielfach vernetzten Mittendrin sowie durch die Gleichzeitigkeit mehrerer, unterschiedlicher Sichtweisen. Zwar ist das Denken und Handeln in vermeintlich dichotomischen Dualismen angesichts zahlreicher gegenwärtiger Herausforderungen noch keineswegs wirklich überwunden, doch scheint das Bewusstsein für die Interdependenz und wechselseitige Verflechtung von Subjekt und Welt, von „Eigenem“ und „Fremdem“ deutlich gestiegen zu sein.
Der große, rationale und distanzierte Überblick, der immer wieder avisiert und zugleich beständig verfehlt wird, ist eng mit bestimmten Kulturtechniken und Technologien verbunden. Waren dies in früheren Jahrhunderten beispielsweise die Zentralperspektive oder auch die (malerische) Perspektive aus der Vogelschau, so bietet das beginnende 21. Jahrhundert mit der Kombination von Google Earth (Überblick) und dem Hineinzoomen von oben an/in konkrete Orte eines politischen Geschehens, einer militärischen Auseinandersetzung, einer Naturkatastrophe oder auch einer sozialen Situation (Immersion) eine paradoxe, sowohl hoch realistische als auch absolut phantasmatische Weiterführung. Damit wird das widersprüchliche Versprechen von Überblick und zugleich Eingebettet-Sein, von kritischer Distanz und perzeptivem, affektivem wie körperlichem Eintauchen in eine Situation gegeben.
Diese komplexe Konstellation macht Immersion meines Erachtens im Alltag wie in der Kunst so attraktiv: Sie verspricht Einsicht durch Eintauchen, Kompetenz und Durchdringung nicht durch das Aufbauen, sondern im Gegenteil das Eliminieren von Distanzen, sie verspricht die paradoxe Trennung und zugleich Verflüssigung von Medium und Welt. Damit ist zugleich das Potenzial von Immersion umrissen, die weder per se und situations- bzw. kontextunabhängig verteufelt noch verklärt werden darf, sondern deren implizite Politiken differenziert betrachtet werden müssen.
Literatur
Alston, A. (2013): Audience Participation and Neoliberal Value: Risk, Agency and Resonsibility in Immersive Theatre. In: Performance Research, 18:2, S. 128-138.10.1080/13528165.2013.807177Suche in Google Scholar
Alston, A. (2016): Beyond Immersive Theatre. Aesthetics, Politics and Productive Participation. London.10.1057/978-1-137-48044-6Suche in Google Scholar
Bieger, L. (2011): Ästhetik der Immersion: Wenn Räume Wollen. Immersives Erleben als Raumerleben. In: Lehnert, G. (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld, S. 75-95.10.1515/transcript.9783839414040.75Suche in Google Scholar
Dogramaci, B./Liptay, F. (2016): Introduction. In: Liptay, F./Dogramaci, B. (Hg.): Immersion in the Visual Arts and Media. Leiden, S. 1-17.10.1163/9789004308237Suche in Google Scholar
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Žižek, S. (2016): „Pokémon Go“ ist Ideologie! Das Trendgame dieses Sommers imitiert Mechanismen von Verurteilung und Missachtung. In: Zeit Online vom 12.09.2016, http://www.zeit.de/2016/34/augmented-reality-pokemon-go-slavoj-zizek (letzter Zugriff am 01.09.2017).Suche in Google Scholar
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Einleitung: Kunst und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Zwei Formen des Ästhetischen, zwei Formen des Alltagsbezugs
- I. Ästhetik – Anwendung
- Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Vom Reiz des Immersiven
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- SIGNAs ganz normaler Wahnsinn
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Performing Diaries
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Der Ausnahmezustand und die Metrik des Alltäglichen
- III. Sozialität der Kunst
- Sozialkünstlerisches Handeln zwischen Alltag und Performancekunst
- III. Sozialität der Kunst
- If you don’t organize yourselves, you will be organized
- III. Sozialität der Kunst
- Grenzgänger der Kunst: Die Sammlung als plurales Medium in der künstlerischen Praxis von Jonathan Meese
- IV. Formation/Deformation
- Parasitierende Ordnungen
- IV. Formation/Deformation
- Alltag als Partner: Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa
- IV. Formation/Deformation
- Kunst als Rückzug
- Autorinnen und Autoren
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Einleitung: Kunst und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Zwei Formen des Ästhetischen, zwei Formen des Alltagsbezugs
- I. Ästhetik – Anwendung
- Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Vom Reiz des Immersiven
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- SIGNAs ganz normaler Wahnsinn
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Performing Diaries
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Der Ausnahmezustand und die Metrik des Alltäglichen
- III. Sozialität der Kunst
- Sozialkünstlerisches Handeln zwischen Alltag und Performancekunst
- III. Sozialität der Kunst
- If you don’t organize yourselves, you will be organized
- III. Sozialität der Kunst
- Grenzgänger der Kunst: Die Sammlung als plurales Medium in der künstlerischen Praxis von Jonathan Meese
- IV. Formation/Deformation
- Parasitierende Ordnungen
- IV. Formation/Deformation
- Alltag als Partner: Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa
- IV. Formation/Deformation
- Kunst als Rückzug
- Autorinnen und Autoren