Alltag als Partner: Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa
-
Kai van Eikels
Abstract
Der japanische Autor und Regisseur Takuya Murakawa bittet in Everett Ghost Lines Bekannte und Unbekannte brieflich, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit in ein Theater zu kommen, um dort jeweils eine Handlung zu vollziehen, die sein Skript für einen Part vorsieht. Die Vorstellung beginnt in jedem Fall wie geplant. Die Angefragten tauchen auf und performen – oder nicht. Murakawa erprobt auf diese Weise, wie man mit den relativ unverbindlichen Beziehungen, die den alltäglichen Umgang in einer liberalen Gesellschaft prägen, eine kollektive künstlerische Arbeit verwirklichen kann. Sein Ansatz zeigt eine Alternative sowohl zur souveränen Macht, die Theater im Akt des Besetzens aufruft, als auch zum sozio-ökonomischen Management des Networking, das persönliche Affekte instrumentalisiert, um ‚freie‘ Kooperationen verpflichtend zu machen.
1 Ziviles Besetzen (lauwarm und schal)
Takuya Murakawa besteht auf der Unersetzbarkeit von Performern, deren Erscheinen zu ihrem Auftritt fraglich ist. Der japanische Autor und Regisseur lädt in Everett Ghost Lines Menschen ein, bei einer seiner Aufführungen mitzuspielen, indem er sie brieflich bittet, an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit in ein Theater zu kommen, um dort jeweils eine Handlung zu vollziehen, die sein Skript für diesen Part vorsieht. Eine erste Version startet mit Freunden und Bekannten; bei der vierten und letzten Version lässt er die Briefe an fremde Menschen auf der Straße verteilen. Über die Anfrage hinaus unternimmt er keine Anstrengungen, die Betreffenden von dem Projekt zu überzeugen, sie zur Teilnahme zu überreden, sicherzustellen, dass sie kommen und auftreten werden. Er spart also gerade diejenige Arbeit aus, von der man meinen sollte, sie sei elementar, um künstlerische Vorhaben zu verwirklichen, die nicht im Alleingang zu meistern sind, sondern die Mitwirkung Vieler erfordern.
Theater steht im Ruf, so eine genuin kollektive Kunstform zu sein. Im antiken Athen entwickelte sich die Auswahl der Schauspieler, die im Tragödien-Agon auftraten, zu einer politischen Angelegenheit; die Institutionen der Polis mischten sich in die Entscheidungen der Dichter. In den Londoner Theaterhäusern der Shakespearezeit waren Anrechte auf Rollen häufig mit der ökonomischen Position der Schauspieler im Unternehmen verknüpft, und für die meisten Gruppen weltweit dürfte eine enge Verflechtung des Künstlerischen, des Ökonomischen und des Persönlichen bzw. Sozialen bis heute Normalität sein. Bei den aus öffentlicher Hand finanzierten Bühnen der europäischen Städte, wo das Polisbezogene des attischen Theaters an den Wänden des modernen Nationalstaates ein Echo hat, erinnert der Begriff „Besetzung“ daran, inwiefern das Auswählen von Spielenden auch ein politischer Akt ist: Besetzen zitiert in das, was die Rechtsform eines Vertrages annehmen oder wahren wird, etwas von Souveränität. Im Besetzen blitzt kurz ein Ernennen auf, dessen administrative Autorität sich für die Beteiligten dann rasch verflüchtigt, weil der Name des Amtes, in das der oder die Ernannte berufen wurde, der einer fiktionalen Person ist. Sobald die, die besetzt wurden, sich daranmachen, die Rollen zu spielen, verschwindet das Amtliche in der Lebendigkeit der Fiktion.
Was, wenn das Besetzen ein ziviler Akt wird? Wenn die Instanz, die Rollen besetzt, ihre Nähe zur Position eines politischen Souveräns oder oiko-nomischen Hausherren aufgibt, um von irgendwoher aus der Mitte des alltäglichen Zusammenlebens Spielpersonal für eine Aufführung zu holen? Zwar verfertigt Murakawa Skripte und arrangiert Inszenierungen, kooperiert auch mit der Bühne eines Kunstzentrums und einer Festival-Leitung. Doch ähnlich wie Brecht die Bezeichnung „Dramatiker“ durch „Stückschreiber“ ersetzte, um das Abfassen von Theatertexten vom sozialen Status des Autors in der bürgerlichen Gesellschaft zu lösen – vom Prestige des exemplarischen Subjekts, das Kunst hervorbringt, und von der Autorität des Urhebers, dem die Institution dient, um seine Subjektivität objektiv durchzusetzen –, so behält Murakawa nur die Tätigkeiten bei: Er schreibt, er inszeniert, ohne als Bevollmächtigter eines Werkes aufzutreten, dem eine Kunstinstitution privilegierten Zugang zur Öffentlichkeit bahnt, auf dass er anordne, wer welchen Part zu übernehmen habe.
Im kommerziellen oder staatlich-kommunal finanzierten Theaterbetrieb kompromittiert die Realität vielfältiger Abhängigkeiten die Souveränität der aus Autorschaft, Intendanz und Regie gebildeten Besetzungsmacht: Man muss mit den SchauspielerInnen arbeiten, die zum Ensemble gehören, deren Stellung am Haus und Einbindung in andere Produktionen berücksichtigen, beim Engagieren von Gästen auf die Gruppendynamik achten, und von Zeit zu Zeit mag es Mühe kosten, einen Star anzuwerben, der dann doch absagt. Kompromittiert besteht Souveränität indes umso nachdrücklicher auf der Hoheit des Wählens. Beim Casting, das bereits auf demokratische Gefährdungen der Herrschaft reagiert, tritt die Institution in der Figur des Wählenden öffentlich in Erscheinung, zieht das Gesicht ihres Türhüters auf, der skeptisch lächelnd, wie sich selbst als höherer Macht unterstellt, über Eignung befindet.[1] Der Kurator, der prinzipiell aushäusig arbeitet, unentwegt unterwegs ist, kommt den souveränen Machtformationen entgegen, indem er die eigene Person institutionalisiert und dieses Selbst-Unternehmen flexibel mit Einrichtungen verschaltet (was es einem Theater bspw. ermöglicht, durch ein kuratiertes Festival temporäre Gefüge mit Museen, Galerien, Kinos usw. zu bilden). Theater hält dabei fest an der Tradition des besonderen, einstmals heiligen Ortes, auch dann noch, wenn Inszenierungen auf Plätze und in Fußgängerzonen hinausstreben. Die Besetzung erfolgt regelmäßig von einem markierten, administrativ befestigten Drinnen her, wie steinern oder imaginär dessen Gehäuse jeweils auch sei.
Zivil hieße dagegen, irgendwo draußen, abseits des Institutionellen, nach MitspielerInnen zu suchen. Mit dem eigenen Körper, dem eines Bevölkerungspartikels unter Millionen anderen. Und, bei Murakawa, mit den eigenen Worten: Worten aus der Hand desjenigen, der auch für das Skript verantwortlich zeichnet. Wie formuliert man einen Brief an jemanden, der zu einer mindestens ungewöhnlichen, durch nichts als diese Sendung abgemachten Partizipation bewegen soll? Ist es für das Aufsetzen dieses Textes von Vorteil, ein Autor – der Autor – zu sein? Und was wäre dessen Modell? Das Bewerbungsschreiben – invertiert, da die Veranstaltung sich bei ihrem Personal bewirbt und anschreibt, statt auszuschreiben? Die Supplik, der Bittbrief, der den Adressaten in die Position des Souveräns rückt und um etwas ersucht, das mangels Rechtsgrundlage im Gewährungsfall einer Gnade gleichkäme? Die leicht festliche Einladung, deren Ton sich zwischen höflicher Form und Mitteilung von Herzlichkeit aus der Distanz direkt bis ziemlich dicht an eine intime Berührung vortasten kann? Oder die casual notice, deren locker freundschaftlicher Ton dem Facebook-Sinn von friend vertraut und darauf spekuliert, die Unterstellung von Vertrautheit durch Vernetztheit werde selbstbewahrheitend wirken? Das Briefgeheimnis hält die Antworten auf diese Fragen im Privaten zurück. So oder so – ob und mit welchem Verhalten die Angeschriebenen reagieren, hängt davon ab, wie es in wenigen Zeilen gelingt, ein Du und ein Ich zu konstruieren und ins Verhältnis zu setzen. Mit Referenzen auf soziale Realitäten, aber ohne amplifizierendes Wir.
Ziviles Besetzen entführt das Autor-Subjekt zurück in die Zeit, bevor es ein Professional player im Kulturbetrieb wurde und naiv, aus einem spontanen Impuls der Anerkennung, der Bewunderung, der Liebe heraus jemandem, der Kunst macht, einen Brief geschrieben hat – als Fanpost getarnt, aber wo nicht mit dem expliziten Vorschlag, so doch in der Hoffnung, es möge sich daraus das Eingeständnis einer Nähe im Schaffen, das ästhetische Äquivalent einer Freundschaft und so quasi von selbst auch Zusammenarbeit ergeben. Diese Botschaft damals erwiderte exakt das, was durch die Werke des Angeschriebenen überbracht worden war: So wie ich anonym im Publikum des Theaterstücks, Konzertes oder Films gesessen, zuhause das Buch gelesen, unter Hunderten Museumsgästen die Bilder, Skulpturen, Objekte betrachtet hatte, so, als dieser Unbekannte, meldete ich mich. Und erhielt keine Antwort und ein oder zwei Mal doch eine freundlich unverbindliche. Später klärte Mitarbeit bei der Organisation von Veranstaltungen mich darüber auf, wie viel finanzielles und soziales Kapital es braucht, um Menschen welchen Prominenzlevels zu engagieren – oft mehr, als wir zusammen aufbrachten. Doch selbst dort, wo mir ein dickerer Fisch ins Netz ging, antwortete die Zusage niemals dem Begehren, das in jungen Jahren die Rufe aus der Fremde derjenigen motiviert hatte, die nichts zu bieten haben außer ihrem von der Kunst geweckten Wunsch danach, den Platz des impliziten Rezipienten einzunehmen und die weiche, zärtliche Hand zu ergreifen, die da für einen bereitliegt. Der Deal, der klappt, erleichtert und stärkt das Selbstbewusstsein; glücklich macht er nicht, und sein erfolgreicher Abschluss bringt im besten Fall faire Bewertung zum Ausdruck (‚es stimmt nicht nur die Gage, wir schätzen einander auch‘), aber keine Gleichheit, kein Einander-Erkennen im Gleichen.
Indem er mit den Briefen diese jugendliche Praxis für mich ins Erwachsene zieht und mit ihrer Weitergabe vielleicht auch Kinderwunsch-Medien wie Flaschenpost und Kettenbrief aufruft, konstruiert Murakawa für sich die Identität eines Un-Kurators. Ohne institutionelle Repräsentanz, die den Vertrag bereithält, appelliert er an sehr Allgemeines wie Höflichkeit, Hilfsbereitschaft, Interesse an Kunst, Faszination für ‚das Theater‘ (wahre oder falsche Vorstellungen davon, wie es sein könnte, einmal selbst auf der Bühne zu stehen) – und an sehr Persönliches, an die Reaktionen genau dieses Menschen auf genau diese Sätze, auf ein Innerstes, das sich ohne Episoden des Verhandelns aus der Reserve locken lässt, sich öffnet und aussetzt wie ein Lippenpaar nachts im Park. Der Regisseur Murakawa wartet nicht ab, bis die freundlich unverbindliche Erwiderung eintrifft oder ihr Ausbleiben für ausgemacht gelten muss. Seine künstlerische Strategie des Aufführens sagt zu diesem Unverbindlichen im Vorhinein Ja. Die Vorstellung beginnt in jedem Fall wie geplant. Die Angefragten tauchen entweder auf und performen – oder nicht. Als Element des Bühnenbildes bekommt das Publikum das Skript projiziert. Erscheinen die Eingeladenen, verlöscht die Projektion mit der ihnen gegebenen Handlungsanweisung zehn Sekunden nach ihrem Auftreten; erscheinen sie nicht, bleibt die Projektion so lange stehen, wie der Auftritt gedauert hätte. Beim Nichterscheinen gibt es also die Option, sich vorzustellen, was passiert wäre, und das Nichtpassieren in seiner Besonderheit zu verfolgen. Everett Ghost Lines Version 1 brachte an die 30 Leute auf die Bühne. Bei der von mir besuchten Aufführung von Everett Ghost Lines Version 4, veranstaltet im Juli 2014 im Rahmen des Festivals Kyoto Experiment im Kyoto Art Center, blieben die meisten Parts unbesetzt. Der Cast an diesem heißen Sommertag, an dem im Gion-Viertel das alljährliche Schreinfest stattfand, beschränkte sich auf eine Ansagerin zu Beginn; eine weitere junge Frau, die unsicheren Blickes auf jemanden wartete, der ihr die Haare schneiden sollte; und einen Jungen, der ungefähr die Hälfte der gut einstündigen Aufführung neben einer mit Klebeband wie bei Mord- oder Unfallopfern markierten Menschensilhouette still bäuchlings auf dem Boden lag. Hätte ein Partizipierender seinen Einladungsbrief mitgebracht und ein anderer ihn vorgelesen, wie die Anweisungen für 17:31 Uhr bis 17:36 Uhr es vorsahen, hätten wir im Publikum ein wenig über Murakawas Schreibstrategie erfahren; beides blieb jedoch bloße Möglichkeit, über die allein der projizierte Text informierte. Techniker stellten Mikrofone auf, doch durch keins davon erzählte wer vom Tod eines nahestehenden Menschen oder vom Meer. Sechs zischend geöffnete Bierflaschen standen auf dem Bühnenboden ungetrunken herum. Als der Projektor das Wort „終了/End“ an die Bühnenrückwand warf, war die Flüssigkeit vermutlich lauwarm und schal.

Takuya Murakawa: Everett Ghost Lines Version 4. Kyoto Art Center (2014)
2 Performance-Text: Alltägliche Unverbindlichkeit und ästhetische Integrität
Kunstmetaphysik setzt darauf, dass die Verbindung der Teile im Werkganzen stärker ist als soziale Verbindlichkeiten. Von der objektiven Härte der Form her, ihrem Insistieren auf Zusammenhängen mit sich selbst gegen das stets schon halb Zerflossene, im Zerfließen Sinneskitzelnde des Lebens, soll der ästhetischen Erfahrung die Kraft innewohnen, das Subjekt aus den Verankerungen der gesellschaftlichen Existenz herauszureißen. Und indem es einen jeden Erfahrenden zum Spiel seiner Vermögen befreit, kann das Ereignis, die zeitliche Darreichung der Form, die Befreiten zugleich zu einer virtuellen Gemeinschaft einen – einer Gemeinschaft, in der sie besser aufgehoben sind als in den gesellschaftlichen Beziehungen. So argumentiert, im Anschluss u. a. an Schillers Kant-Auslegung und Adorno, Jacques Rancière (2008) mit seinem Konzept einer politischen Ästhetik (vgl. zu einer kritischen Auseinandersetzung auch van Eikels 2015). Das Soziale erscheint dabei als etwas Festgefügtes, ein System von Zwängen, von Befangenheiten in selbstverständlichen Wertungen, die ökonomisch ausbeutbare Überzeugungen von der Ungleichheit der Menschen in Verhaltenswirklichkeit übersetzen, wobei eine staatliche „Policey“ mit der wechselseitigen Überwachung und Selbstnormalisierung der BürgerInnen kooperiert. Dass die Kunstinstitutionen an dieser Dynamik sich stützender, verstärkender Zwänge teilhaben und Menschenansammlungen erst diszipliniert werden mussten, bis daraus das bürgerliche Publikum entstand, das sich auch ohne Theaterpolizei im Saal zur Ruhe und Ordnung ruft, zählt zur Objektivität der Form als deren parergon: Wie der Rahmen das Gemälde gegen die Umgebung freihält, die das ästhetische Phänomen jederzeit zu verschlingen, es zum Element einer Raumausstattung zu erniedrigen droht, so benötigt Schauspiel nicht bloß eine Bühnenmarkierung, sondern vor allem ein Set regulärer Körpertechniken, die Zuschauen als ästhetische Erfahrung vom Zuschauen als Unterhaltung abheben und gewährleisten, dass die gefällten Urteile ästhetische, keine empirischen sein werden (zum Rahmen als parergon in Kants Kritik der Urteilskraft und den Komplikationen, die mit der Notwendigkeit einer Rahmung des ästhetischen Objektes entstehen, vgl. Derrida 2008, besonders S. 72-80).
Wie verhält sich diese Wertschätzung von Kunst zu all dem, was in der bürgerlichen Gesellschaft, die sie hervorbrachte, bereits vom Verbindlichen abrückte und heute, in einer vielleicht spät-, vielleicht längst postbürgerlichen Epoche, die Leben der Menschen im Modus des wahrscheinlich Konsequenzlosen, daher eher Unverbindlichen nebeneinander herlaufen lässt? Mag ästhetisch bestimmte Kunst etwas zu schaffen haben mit jener Freiheit, die nicht der Realisierung eines hehren Ideals entspringt (und gegen bestehende Realität durchgesetzt werden muss), sondern der Vernachlässigung von Obligationen, dem Beseitigen des Allgemeingeltenden, selbst des gewissenhaft verinnerlichten, in den konkreten Transaktionen alltäglichen Lebens? Von Hundert, die versprechen zu kommen, kommt die große Mehrheit am Ende nicht. Nachteilige Folgen hat das für eine Handvoll von ihnen, während die meisten ohne merklichen Schaden sich in die Zeitigung weiterer Zusagen, weiterer Säumnisse entziehen, einige nicht einmal auffallen mit ihrer Abwesenheit, da auch die Empfänger der Versprechen sie inzwischen vergessen haben. Wer einmal versucht hat, mit einer Anzahl Freiwilliger in der Schule, an der Uni, im Gemeindezentrum ein Kunstprojekt zu realisieren, kennt die Freiheit in ihrer alltäglichen Erscheinungsweise der Unzuverlässigkeit als Feind kollektiver künstlerischer Arbeit – wie sie nebenan auch die politische Arbeit zermürbt, da das runde Dutzend Tatendurstiger aus der Gruppe, die Protestaktionen für den Klimagipfel vorbereitet, binnen ein paar Wochen auf drei Einsame zusammenschrumpft. Ohne Institutionen, die durch Geld, Recht und Konventionsmacht Menschen als Personen binden, mutet das kollektive Erarbeiten von erga, von künstlerischen Werken oder politischen Taten, absurd schwierig an. Und noch die prekären selbstorganisierten Aktivitäten, die oft im Sand verlaufen, finden an den Rändern institutioneller Komplexe statt und fänden woanders womöglich nicht einmal eine Initiativstabilität.
Dabei setzen die Institutionen ihr eigenes Bestehen an den Anfang und ans Ende, indem sie die Position eines jeden Mitarbeitenden als ersetzbar definieren. Vorrangig ihrer spezifischen administrativen Situierung haben Institutionen die Aufgabe, Dauer zu behaupten gegen eine dem menschlichen Wirken tendenziell feindselige, Vergessen und Sichverlieren befördernde Zeit; sie sind Bollwerke gegen die Zerstreuung, gegen die Entropie und deren Entsprechungen im menschlichen Verhalten. Institutionelle Logik geht, wie Hegel in seiner Philosophie der Geschichte (Hegel 1986) darlegt, davon aus, dass einmaliges Handeln im Zufälligen seiner Auswirkungen noch nichts für die Evolution einer Ordnung leistet. Erst die Wiederholung der Handlung im Zeichen des Notwendigen lässt sie geschichtsmächtig werden (vgl. S. 379ff.). Diese Wiederholung trennt aber das Handeln von der Person des Handelnden ab. Der Vollzug der Handlung fällt in die Befugnis eines Amtes; die Macht zum Handeln wird von den persönlichen Beziehungen abstrahiert, mit dem Amt fest verknüpft, dessen Inhaber zugesprochen und auf ihn beschränkt. Theater ist in diesem Sinne institutionell prädisponiert, denn die schauspielerische Verkörperung eines Charakters steht dem Wahrnehmen eines Amtes strukturell nahe (weshalb das Theater traditionell die Metaphern für die offizielle, sich institutionell-historisch verstehende Politik liefert). Wie das Wesen des dramatischen Handelns abhängt von der Rolle als Schnittstelle zwischen dem fiktionalen Gestell einer Figur und einer Realität, die über die Zeit eine Reihe von DarstellerInnen körperlich einnehmen, so gründet ein bis heute dominantes Verständnis des politischen Handelns in der Vorstellung eines doppelten Körpers: Der sterbliche Körper eines Menschen besetzt und belebt temporär die für eine provisorische Ewigkeit eingerichtete Stelle in der institutionellen Architektur. Diese Ersetzbarkeit gilt für autokratische Systeme ebenso wie für Demokratien; aber während das Intervall zwischen dem Tod eines Autokraten und dem Amtsantritt seines Nachfolgers stets eine Krise zu bringen droht, deren Wahrheit die Ordnung als solche erschüttert, da das unerlässliche Ersetzen einen Riss in der beanspruchten Ewigkeit aufklaffen lässt, kann man wie Claude Lefort (1981) das Demokratische darin erkennen, dass es die Ersetzung des Herrschers offen begrüßt, den Wechsel etwa anlässlich von Wahlen als ein freudiges Ereignis feiert, weil dieser Moment den Ort der Macht in seiner konstitutiven Leere vorzeigt.
Takuya Murakawas Entscheidung für das Belieben und die Beliebigkeit, aber gegen die Ersetzbarkeit in Everett Ghost Lines gibt Anlass, über den impliziten Institutionalismus ästhetischer Werte und Konzepte nachzudenken. Das Festhalten an unverbindlichen Einladungen schlägt mit der institutionalisierenden Wiederholung des Persönlichen im Rechtlichen zugleich die Option der Umbesetzung aus. Würde jemand, der sich auf den Brief hin nicht gemeldet hat, aber dennoch zum genannten Termin auftaucht, mit den Worten „Wir hatten nicht mehr mit Ihnen gerechnet und haben daher jemand anderen gebeten“ empfangen, käme das einem Verrat an der persönlichen Integrität des Künstlers gleich – und damit sofort auch an der künstlerischen Integrität des Konzeptes, denn der Verzicht auf die Institution als Selbstverstärker und -objektivierer des Künstler-Subjekts entfernt eine Scheidewand zwischen ethischen und ästhetischen Kriterien: Was immer der Künstler im Verhältnis zu den Partizipierenden falsch machte, wäre auch der Arbeit anzukreiden. Die Forderung an die Adressaten, einem Schreiben aus der losen Bekanntschaft oder der völligen Fremde ohne formelle Garantien so weit zu vertrauen, dass sie sich unvorbereitet einem Publikum exponieren, sowie die Verantwortung, die er ihnen damit ungebeten aufdrückt, braucht ein ungemindertes Vertrauen aufseiten des Absenders. Die Angst, am Ende werde gar niemand kommen, gilt es auszuhalten. Oder kläglich einzugestehen, dass man das nicht geschafft und zum Schluss hin getrickst hat.
Künstlerisch glücklich kann das Verfahren überhaupt nur sein, weil Murakawas Text für die Ausfallenden einspringt. Was wie eine Ermächtigung des Autors im Schatten eines performativen Arrangements aussieht (und dies in gewisser Weise auch ist), kündigt zugleich das im 18. Jahrhundert geschlossene Bündnis zwischen Theater-Institution und Literatur auf, das dazu führte, den unterhaltsamen Zeitvertreib des Schaugewerbes ästhetisch zu läutern und dem erfolgreich Geläuterten die Würde wahrer Kunst zu verleihen. Im Literatur-Theater kooperiert der Dramentext mit der Logik des Institutionellen. Der Aufführungsbetrieb erhält mit dem literarischen Werk ein Zeitbeständiges. Shakespeare konnte seinen Polonius noch darüber spotten lassen, dass er, der kürzlich als Julius Cäsar von Hamlet in der Rolle des Brutus ermordet worden war (eben jener Cäsar, den Hegel zur Erläuterung der Institutionalisierung heranzieht), nun quicklebendig in einem anderen Stück auf denselben Brettern neben ihm steht (III.2, V. 94f.). Solange der Dramentext nicht den Status eines eigenen Werkes hatte, das Aufführungen lediglich aktualisierten, schien die Bühne selbst der Ort zu sein, an dem Körper verschwanden und geisterhaft wiederkehrten. Mit der literarischen Ästhetisierung des Theaters stellt der Text hingegen ein Schema bereit, das die Institution auf ihren Umgang mit der Zeit zu applizieren vermag. Das Verhältnis zwischen Ewigkeit und flüchtiger Gegenwart, das ein Werk der Literatur stiftet, dient an den Schauspielhäusern dazu, Arbeit so zu organisieren, dass alle Ausführenden, die zur Verlebendigung des geschriebenen Wortes beitragen, ihre Körper der Institution vermachen. Literatur-Theater arbeitet mit ästhetisch Angestellten – mit Menschen, deren Ersetzbarkeit im Zentrum einer Übereinkunft von institutionalistischer Vernunft (als Anwältin des souveränen Staates) und Ästhetik (als Sachwalterin des Kunstwerkes und seiner Integrität) steht.
Murakawa setzt die Teile seines Skripts, die er bestimmten Performern zueignet, als Lückenbüßer für deren Fernbleiben ein. Das kehrt den Status des Textes im Verhältnis zur Institution um: Statt kraft seiner literarischen Dignität, zu der eine unannullierbare Differenz gegenüber jeder aktuellen Gegenwart zählt, mit der institutionellen Macht gemeinsame Sache zu machen, hilft das Geschriebene hier aus, um die Schlappe, die ein rein zivil organisiertes Theaterprojekt absehbar erleidet, in Grenzen zu halten. Erst in diesem Aushelfen entfaltet es vielleicht – abhängig von der Geneigtheit derjenigen, die als ZuschauerInnen gekommen sind und nun wenig zu sehen bekommen – die Kraft, Phantasie zu stimulieren. Die Fiktion, die über dem Verstreichen vulgärer, von an- und abwesenden Körpern gemessener Zeit bei der Aufführung von Everett Ghost Lines immer wieder zu einem Aufflackern des Literarischen führt, ist in eine Enttäuschung eingelassen. Jede Skript-Zeile, die ich lese, weil eine zu lange Stille, ein zu deutlich ungenutztes Requisit mir signalisiert, dass hier einmal mehr wer fehlt, hat etwas von einem Entschuldigungsschreiben. Der Autor, der mich aus dieser Schrift anblickt, wirkt weit entfernt von jenem Künstler-Souverän, der den politischen Herrscher herausfordert und dies kann, weil er in der Auseinandersetzung mit dem Material seinerseits einen Machtkampf für sich entscheiden konnte. Das Schreiben bekennt in Murakawas Theater seinen sehr begrenzten Einfluss auf die Menschen; es ist auf eine zeitgenössische Weise literarisch, auf die Literalität von Schriftzeichen zurückgeworfen, denen keine Gesetzeskraft, keine Rechtsabteilung Autorität über Mitmenschen verschafft. Indem der Text an der Performance mitarbeitet, den sicheren Abstand der Verdopplung, des Soufflierens aufgibt, um zwischendurch von der Rückwand aus über die Bühne zu hüpfen wie ein Mädchen für alles, sagt er so viel wie: „Das macht nichts – ich erledige das eben.“ Entschuldigung, nicht Vergebung (die voraussetzt, dass der Vergebende sich zu einer Quasi-Souveränität erhebt): Zuspruch einer behelfsmäßigen Berichtigung der Welt, die das, was an der Abwesenheit Verfehlung gewesen wäre, so hindreht, dass es mit ein wenig gutem Willen für annehmbar durchgeht. Und jedenfalls durchgeht.
Die politische Information, die Murakawas Vorgehen uns gibt, betrifft den Gebrauch der relativ unverbindlichen Beziehungen für das, was wir zu tun versuchen. Klagen über die Unzuverlässigkeit der anderen gehören zu jenem „Die Welt wird immer schlechter“-Gesang, den anstimmt, wer in der Großstadt die Ausweglosigkeit einer Dorfgemeinschaft vermisst (zumeist ohne in das Dorf zurückziehen zu wollen). Tatsächlich stellt das Unverbindliche sowohl eine Errungenschaft als auch einen Kollateralschaden bürgerlicher Emanzipation dar. Je weiter die Abschaffung der Standesgesellschaft gedieh, desto vorbehaltloser entließ das Gesellschaftliche Menschen ins Belieben von Assoziation und Kombination. Mithilfe der Entfremdung, die der moderne Nationalstaat mit seiner bürokratischen Pervasivität, das industrielle Produzieren und die Ballung der Bevölkerung in den Städten erwirkten, trieb Gesellschaftsleben die Entpflichtung von Kommunikation auf die Spitze – und diese Spitze war wiederholt ein Punkt, da diejenigen Kollektivdynamiken, die sich den Freiheiten des relativ Unverbindlichen verdankten, dem staatlichen Souverän, der ihn tragenden bürgerlichen Klasse und ihren Unternehmen gefährlich zu werden begannen. Souveränes Regieren arbeitet bevorzugt mit Organisationen zusammen, die dessen Institutionalität spiegeln, deren Mitglieder zu einem übergeordneten Ganzen klare und starke, am besten juridisch kodifizierte Bindungen unterhalten. In der Perspektive des Souveräns besteht Gesellschaft aus Behörden, Firmen und Familien. Die politischen Bewegungen, die in den Metropolen entstanden, gingen dagegen aus den Konstellationen eines Nebeneinanders hervor, das gerade in dem Maße organisatorisches Potenzial offenbarte, wie die Identifikation mit dem Übergeordneten schwand. So formulierten Marx und Engels (1972, S. 493) im Kommunistischen Manifest ihren berühmten Satz, die Arbeiter hätten „nichts zu verlieren als ihre Ketten“. Sie können sich solidarisieren, insoweit sie sich vom Bild des Staates und Unternehmens als großer Familie nicht mehr täuschen lassen und sich bewusst werden, dass der Ansatz für kollektives Handeln die körperliche Kontiguität am Arbeitsplatz ist: das Nebeneinanderstehen am Fließband, die Zufallsbegegnungen in den Pausen beim Essen und Rauchen. Das dezidiert Unorganische, mechanisch Willkürliche der industriellen Produktion, die Menschen ohne Beziehung zum Ganzen in den Fertigungsprozess ein- und darin umsetzt, schafft als Nebeneffekt der Vereinzelung eine lose Assoziation. Revolutionäre Massenbewegung muss deren Gelegentliches für ihren Aufbau, ihren Unterhalt, ihre Orientierung und kollektive Selbstverständigung verwenden lernen – und eine kommunistische Partei, die das beherzigte, wäre die Plattform zur Erörterung und Distribution dieses Verwendungswissens, nicht die Wiederkehr des Fabrikherren als politscher Funktionär.
Zwar hat diese Einsicht im 21. Jahrhundert kaum an Aktualität verloren. Mit der postfordistischen Reorganisation des industriellen Produzierens und dem Prosperieren eines „postindustriellen“ Sektors von Dienstleistungen seit den 1980er Jahren gewinnen soziale Interaktionen jedoch direkt ökonomische Relevanz. Die konkrete, je besondere Gelegenheit mutiert zum Beispiel für das allgemeinverbindliche Modell der Chance. Das Praxiswissen der bürgerlichen Klasse, wie man gesellschaftlichen Umgang zur vorteilhaften Beförderung ökonomischer Projekte nutzt, wird generell benötigt, wo das Aushandeln von Zuständigkeiten, Positionen und Leistungsanteilen in flexiblem Teamwork von oben verordnete Strukturen beerbt oder vertritt. Kundenbindung gelingt in Service-Berufen umso erfolgreicher, je weniger die Differenz der kommerziellen Beziehung zur Kollegialität, Freundschaft oder familiären Herzlichkeit auffällt. Das Ungezwungene im Miteinander der Massengesellschaft erhält eine ökonomische Dringlichkeit implantiert: Wer es sich mit TeampartnerInnen persönlich verdirbt (oder das Management der Beziehungen zu ihnen auch bloß vertrödelt), riskiert den Ertrag der eigenen Arbeit und damit das berufliche Überleben. Wer gegenüber Wildfremden keine spontane Empathie aufbringen, kein Gefühl des Gemeinsamen evozieren kann, wird es selbst mit hohen Sachkompetenzen schwer haben, sich in der Konkurrenz an den Affektmärkten zu behaupten. Es gilt exakt die richtige Balance zwischen Abstand und Nähe zu halten, eine aristotelische mesotes, die jedoch keine politische Richtigkeit markiert, sondern die Erfolgsspur einer sozio-ökonomischen Alltagsdiplomatie.
Diese Ökonomisierung des Sozialen (und Sozialisierung des Ökonomischen) okkupiert die Freiheit einer Massengesellschaft, deren funktionale Ausdifferenzierung für das Individuum heißt, dass von kaum etwas, das man tut, absehbar ist, was für Konsequenzen es haben wird und ob überhaupt nachvollziehbare. Entfremdung bringt Liberalisierung, und die entfremdete Liberalität des Sich-um-die-möglichen-Konsequenzen-seines-Handelns-wenig-kümmern-Müssens dürfte – auch wenn es stets schwerfiel, das zuzugeben – zu den attraktivsten Aspekten dessen zählen, was kapitalistische Dynamik aus ihren bürgerlichen Ausgangsbedingungen machte. Wie Benjamin (1991) erkannte, lässt der Kapitalismus eine messianische Anspannung der Zeit vermissen. Er verheißt keine Entsühnung, legt es vielmehr auf endlos erneuerte Verschuldung an; aber währenddessen, während eine Tilgungsfrist nach der anderen ereignislos verstreicht, erleichtern seine Externalisierungen von Schuld in Schulden das Zusammenleben mit anderen Menschen, und kein Angebot einer Rückkehr zu festeren, verbindlicheren Gemeinschaftsformen konnte bislang die Massen vom Genießen ihrer Entfremdungsgewinne abbringen.[2] Der soziale Kapitalismus, der sich seit den 1990er Jahren etabliert, zieht diese Gewinne ein, definiert die relative Unverbindlichkeit der Beziehungen um in Potenzial, das nicht wahrzunehmen der Fahrlässigkeit gleichkommt. Wie Alain Ehrenberg in Das erschöpfte Selbst (2004) darlegt, treibt die Kapitalisierung der Beziehungen einen neuen Typ von Schuld hervor: das Gefühl, am Versprechen des unternehmerischen Selbst zu freveln, hinter den eigenen Möglichkeiten zurückzubleiben, wenn man die Nichtnotwendigkeit dieses oder jenes Agierens gegenüber Mitmenschen bloß als Freiheit genießt, statt den Mangel an Zwang mit Eigeninitiative zu kompensieren. Adornos Mahnung, es gebe kein richtiges Leben im falschen, erfährt nunmehr Zustimmung vonseiten des Falschen; sie ergeht von den als Depression internalisierten Selbstwettbewerbs-Verhältnissen an jedes Gewissen: Du lässt dich in der Entfremdung gehen, es geht dir darin zu gut!
In der bürgerlichen Gesellschaft ist das Ökonomische immer schon dem Sozialen eingetragen. Die umfassende Ökonomisierung liberaler Sozialität und Soziabilität im späten 20. Jahrhundert scheint jedoch davon befördert, dass mit dem Industriekapitalismus ein General Intellect in die Welt kam – ein dezentrales, im Prinzip allseits zugängliches, da in den Kommunikationen alltäglichen Lebens selbst mit verbreitetes Repertoire von Kenntnissen, wie man etwas bewirkt, wie man produktive Zusammenhänge organisiert, wie man sie effektiver und effizienter gestaltet. Die Post-Operaisten haben den von Marx im Maschinenfragment verwendeten Begriff des General Intellect aufgegriffen, um herauszustellen, wie nah sich im Postfordismus das Ökonomische und das Politische sind: Dieselben organizational skills, die Erwerbstätigkeit im sozialen Kapitalismus verlangt, können der politischen Arbeit in Grassroots-Bewegungen zugutekommen. Sie können es, eben weil das, was darin als performance Anerkennung findet, politische Tugenden, die bürgerliches Leben in soziale Kompetenzen transformiert hat, auf ihre ökonomischen Erträge hin auswertet (vgl. u. a. Virno 2005). Und in der Tat entdecken politische Mobilisierungen des 21. Jahrhunderts das relativ Unverbindliche genau dort neu, wo eine ökonomische Intelligenz es bereits gescannt hat. In ihrer Verflechtung von On- und Offline-Kommunikation bilden soziale Netzwerke weitläufige Infrastrukturen aus weak ties, die dafür sorgen, dass Informationen zwischen einem Dutzend, ein paar Hundert und dann schnell Millionen Menschen zirkulieren (vgl. Granovetter 1973; van Eikels 2007). Die geringe Verbindlichkeit eines Kommunizierens, das in vielen Fällen nur aus Liken, Teilen, Weiterleiten oder Verknüpfung durch Taggen besteht, katalysiert die Dynamik. Entsprechend können Initiativen, die sich dieser Infrastrukturen bedienen, klein und unscheinbar bleiben oder binnen kurzer Zeit massiv anschwellen. Niemand vermag das Ausmaß, die Durschlagkraft und Ausdauer vorherzusagen, weil die Beteiligten einander überwiegend weder durch fixe institutionelle Strukturen noch durch kulturell gefestigte Gemeinschaftspraktiken verbunden sind, sondern spontan mitmachen, von Tag zu Tag entscheiden weiterzumachen, auszusteigen oder zwischenzeitlich auszusetzen.
Was der hoch engagierte Aktivismus einiger Weniger leistet, trägt zu den Aktionen der Bewegungen Wichtiges bei; aber für deren populäre Reichweite ist es ebenso wichtig, dass diese AktivistInnen keine Vorbilder sind, im Vergleich zu denen die Übrigen sich als minderwertig empfinden müssen. Die Niederschlagung etwa der Occupy-Besetzungen durch staatliche Exekutivmächte hat die Schwächen dieses „small-a anarchism“ (vgl. Graeber 2013) offenbart und den Vorwurf des realitätsfernen Idealismus genährt, den neben schmunzelnden Gegnern auch Vertreter einer leninistischen Linken erheben. Eine linke Partei (im Sinne einer politischen Institution mit definierten Strukturen, zentraler Leitung und vereinheitlichter Repräsentation), die der Allianz von Regierungen und Konzernen ernsthaft den Kampf ansagte, darf jedoch in den wohlhabenden und mehr oder weniger liberalen Ländern gegenwärtig schwerlich mit der Unterstützung durch eine Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Lokale Initiativen, die ohne aufwändige Institutionalisierung auskommen, haben hingegen jedes Mal die Chance, sich bis in Dimensionen hineinzusteigern, die mindestens lokale Mehrheiten erzeugen und aus der Eigendynamik solcher Majoritätseffekte heraus Veränderungen zeitigen können (zur lokalen Mehrheit vgl. van Eikels 2013, S. 212-221). Das relativ Unverbindliche ist die Wirklichkeit eines Politischen, das die Differenz zwischen Regierbarkeit und Organisierbarkeit in einer Epoche wiederentdeckt, deren revolutionärste Einsicht lauten könnte, dass die Verwahrlosungen, die der Kapitalismus in seinem bürgerlichen Milieu angerichtet hat, das Beste sind, was er uns hinterlässt.
Dies gilt für Japan sogar in erhöhtem Maße. In einem Kommentar zu Everett Ghost Lines schreibt Murakawa (2016) über die Situation nach dem Erdbeben und Tsunami in der Tohoku-Region 2011. Viele Menschen, die vergeblich versuchten, Verwandte oder Freunde zu erreichen, nachdem neben anderen Teilen der Infrastruktur auch das Telefonnetz zusammengebrochen war, mussten in banger Ungewissheit ausharren, ob sie diese lebend und gesund wiedersehen würden. Die Katastrophe machte etwas schockierend bewusst, das als Verdrängtes im täglichen Umgang mitläuft: Wenn ich mich von jemandem verabschiede, weiß ich nie, ob ich ihn wiedersehen werde. Wenn ich mich verabrede, kann ich nie sicher sein, ob der Erwartete kommt. Der Tod ist im Alltäglichen keine dramatische Zäsur, sondern der Fluchtpunkt einer Unzuverlässigkeit, einer unvermeidlichen Untreue des Menschen als Lebewesen in Vielzahl. Wer unter Trümmern begraben liegt oder von einer Welle hinaus ins Meer gerissen wird, treibt die Nachlässigkeit, die uns Termine vergessen, Bahnen verpassen, Dinge nicht abholen lässt, ins Extrem. Wie umgehen mit dieser Unsicherheit, nachdem Umstände sie einmal ins Merkliche gerückt haben? Die Regierungspolitik der Liberaldemokratischen Partei (LDP), nach dem Fukushima-Desaster zurück an die Macht gewählt (wohl in Reaktion auf das schlechte Krisenmanagement der Sozialdemokraten), antwortete mit aggressivem Nationalismus. Anstatt sich um praktische Gefahrenreduzierung zu kümmern und etwa auf Atomkraft zu verzichten, beschwor Premierminister Abe mit einem Gesetz, das den japanischen Selbstverteidigungskräften wieder das Recht auf Angriffskriege einräumt, die Fiktion eines starken und dadurch sicheren Japan. Wie vielerorts auf der Welt gelang es der Rechten, die Angst der Menschen für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Murakawa liefert mit Everett Ghost Lines kein explizit politisches Statement; dennoch leistet der Versuch, mittels schwacher, prekärer Beziehungen das Kollektivereignis einer Aufführung zu organisieren, einen Beitrag dazu, ein anderes Verhältnis zur Unsicherheit etablieren zu helfen. Wo sie sich von ihrer eigenen Vorliebe für das Souveräne emanzipiert, kann Kunst etwas dafür tun, dass die Menschen einander in der Perspektive eines relativ unverbindlichen Zusammenlebens kennenlernen und ein Zutrauen daraus erwächst – dass Erfahrungen mit der wesentlichen Unzuverlässigkeit des anderen, welche durch die Massengesellschaft potenziert wird, nicht jedes Mal im hilflosen Reflex enden, einer Obrigkeit die Kontrolle über das Zusammen anzutragen. Politische Bewegung fängt immer wieder mit den paar Leuten an, die unwahrscheinlicher Weise gekommen sind. Und sie geht nur weiter, wo Konzepte in der Welt sind, was diese paar Leute machen könnten. Theater etwa, fürs erste.

Takuya Murakawa: Everett Ghost Lines Version 4. Kyoto Art Center (2014)
3 Beschäftigung: Welchen Preis hat das Reale ohne Vertrag?
Der Körper des vertraglich engagierten professionellen Schauspielers verwaltet die Abwesenheit, die der Text des Dramas in sein Agiertwerden hineinbeordert, gewissermaßen mit. Schauspieltechniken basieren auf Verfahren, Text Text sein zu lassen, während man Dinge tut: Die Monolog- und Dialogpassagen werden gesprochen, je nach Schule mehr oder weniger verlebendigt, für die Fiktion einer Figur und ihres In-der-Welt-Seins angeeignet; aber auch strenger Naturalismus macht nicht vergessen, dass das geschrieben wurde, und durchs kreatürlichste Zappeln und Brüllen ruft sich eine Lesung in Erinnerung. Das Anweisende im Stücktext konvertiert auch nie gänzlich zu Vorschrift. Im Unterschied zur Instruction Art, wo selbst eklatante Abweichung vom Verlangten, ja die Weigerung, überhaupt merklich im Sinne der Direktive tätig zu werden, die Pertinenz der sprachlichen Aussage, ihr imperativisches pragma um kein Fingerbreit schmälert, entspricht schauspielerisches Ausführen von Handlungsanweisungen bis in den vollsten Gehorsam hinein bloß einem schwachen Double des fordernden, kommandierenden Wortes. Hier zeigt sich der Charakter des Spielens, dessen Pakt mit dem selbstständigen Schein die ernst gemeinte Anweisung in etwas knapp oberhalb eines Hinweises verwandelt: Man kann das höchstens berücksichtigen. Satzgemäßes Handeln in Dramenaufführungen hat stets etwas gleichsam Nachholendes, so als sei der Spielende mit seiner körperlichen Präsenz eigentlich schon über die Stelle hinweg und zusammen mit anderem falle ihm ein, dass er ja auf- oder abtreten, sich in den Sessel werfen, das Taschentuch aufheben, einen Degen in den Bühnenpartner stoßen soll. In dem Maße, wie die Tätigkeit, mit der SchauspielerInnen den Bestimmungen ihres Arbeitsvertrages nachkommen, ein Repräsentieren ist (da Repräsentation das relevante Leistungsmerkmal darstellt), können sie ihre Anwesenheit während der Aufführung nicht zur Erfüllung des Skriptes verwenden. Es gibt hier eine hintergründige Beziehung zwischen dem Text des juristischen Dokuments und dem, was mit dem Text des Dramas passiert: Wenn die Spielenden den Vertrag mit dem Theater erfüllen sollen, darf das Stück, als literarisches Werk oder Skript, nicht davon unabhängig bindend sein, darf dessen Sprache keine unmittelbare, institutionell ungefilterte Macht über ihre Körper haben.
Ein vertraglich gebundener Schauspieler wäre weder imstande, die Sätze in Murakawas Text als Anweisungen zu erfüllen, noch dazu, sie unerfüllt, durch seine Abwesenheit unausgefüllt zu lassen. Nehmen wir an, so ein Schauspieler stürzte auf dem Weg zum Auftritt die Treppe hinunter und läge dort ohnmächtig. Oder er sabotierte mutwillig, aus Wut auf die Regie, die Premiere. Sein Fernbleiben zeigte die Bühne keineswegs leer. Zum einen deshalb nicht, weil die Vorstellung (die Kooperation zwischen der Show und dem, was die Mitglieder des Publikums sich vorstellen können) ihn stets schon in der Nähe, in das institutionell organisierte Theaterspektakel verwickelt weiß. Wo immer er weilt, ist nicht draußen, in seinem zivilen Leben, einem vom Theater losgelösten Alltag; es handelt sich um eine Randzone der Aufführung, die Spekulationen darüber, wo der Abwesende stecken mag, imaginär in den Raum ausdehnen wie bei Waiting for Godot in die Zeit. Zum anderen deshalb nicht, weil die Bühnenpräsenz von Schauspielern unser Verständnis dessen, was Theater ausmacht, ebenso mitbestimmt wie die künstlerischen Techniken, die sich entlang dieses Verständnisses entwickelt haben. Die vielen feinen Einschränkungen, Teilungen, Faltungen, Schichtungen der Anwesenheit beim schauspielerischen Agieren sind eben dadurch möglich, dass es sowieso zu viel Präsenz gibt auf dem Theater. Der besondere Ort der theatralen Phänomenalität stößt den Körper, der dort in Erscheinung tritt, kraft einer unentwegten Emphase weiter nach vorn, über das Zugegensein hinaus ins Vorschnelle, Vorlaute, Vorwitzige. Die Kunst des Aufführens besteht darin, dies Überangebot von körperlicher Präsenz zu bändigen, ihm negativ, mittels Weg- und Zurücknahme eine Form zu verpassen. Sowohl Regiearbeit als auch die Arbeit des Schauspielers an sich selbst ähnelt der eines Bildhauers, der in einen unförmigen Block solange Kerben treibt, bis die Masse Gestalt annimmt. Nur dass mit dem menschlichen Material das mühselig Entfernte jederzeit neu aufzuquellen und die Form hinwegzuschwemmen droht.
Murakawas Personalmanagement schafft es, Präsenz am Ort des Theaters in etwas Kostbares zu verwandeln. Der Auftritt eines lebenden Körpers ist bei diesem Setting eine Überraschung. Die Erwartung stellt sich rasch auf Schrift, Requisiten und Licht ein. Es bleibt Live Art, schon darum, weil wir warten. Aber der leibhaftigen Anwesenheit, von der die Live Art lebt, bereitet hier das Unwahrscheinliche einen Dank, der eine Umwertung des Wertes von Darstellerkörpern bezeugt. Diejenigen, die in Everett Ghost Lines performen, kommen aus einem Leben, dessen Alltäglichkeit eine relative Unverbindlichkeit sozialer Beziehungen charakterisiert – und verlieren diesen Charakter nicht, wenn sie die Bühne betreten. Ihr Auftritt straft das relativ Unverbindliche einer modernen Massengesellschaft weder Lügen, noch hebt die Eingliederung ihrer Körper in das Gefüge eines Werkes das Beiläufige ihres Erscheinens auf. Auch dass sie gekommen sind – im Unterschied zu denen, die fernbleiben –, beweist nichts, besorgt keinem Urteil über „unsere Zeit“ sein Pauschalargument. Sie mögen ihre Gründe haben für das Kommen wie die anderen für das Fernbleiben. Sie hatten, kann man mutmaßen, nichts Besseres vor, denn hätte ihre Eitelkeit über Wichtigeres, das sie Mitmenschen leisten sollten, gesiegt? Wenn ich das Erscheinen dieser Freiwilligen begrüße, mich in imaginärer Solidarität mit dem Autor freue, dass immerhin ein paar der Eingeladenen die Kurve hierher kriegen, unterstellt etwas in mir bereits, sie würden im Falle ernsthafter Dinge, die ihre Anwesenheit woanders erfordern, Murakawas Ansinnen ausgeschlagen haben. Das Spiel ist ethisch akzeptabel, insofern es keine Kraft hat, in den Ernst des Lebens zwingend oder auch nur anderen Dringlichkeiten ebenbürtig zu intervenieren. Damit Arbeit diese Kraft haben darf, muss sie sich in Notwendigkeit, zumindest deren Illusion, hüllen. Diese Körper aber arbeiten nicht; ohne vertragliches oder vertragsähnliches Verhältnis gilt mir das, was sie für die Aufführung tun, als Hilfe, als Gefallen, nicht als Arbeit. Deshalb bin ich ihnen dankbar, geht mein Dankeschön für ihr Hiersein jedem Wahrnehmen, Ermessen und Bewerten dessen, was sie auf der Bühne machen, voraus.
Mit dem Vertrag scheint zugleich die Verkörperung zu entfallen – jenes Verhältnis des Phänomenalen, des Wahrnehm-, Erfahr- und Reflektierbaren zu seinem ontologischen Status, das der Anwesenheit einen Ertrag gutzuschreiben und sie so als Werktätigkeit anzusehen gestattet. Diese Körper verkörpern nicht das Reale. Sie schlüpfen aus einem Alltag herein, doch das Alltägliche übersetzt sich mit dem Erscheinen nicht schon in einen Mehrwert, den es der Aufführung als ästhetischen Gewinn zu verbuchen und in ihren Sinn zu investieren gelingt. Das Leben, das die Partizipierenden Teilen des Textes schenken, ist im Kostbaren ihres Kommens ökonomisch eher einbehalten als zur Investition disponiert; es gleicht einem Schatz, etwas edel matt Schimmerndem, das man ausstellen kann, dessen besonderer Wert den Transaktionen, die Kunst um Welt bereichern, aber eigentümlich heterogen bleibt. Eben weil das, was die im Bühnenraum auftauchenden Körper mit der Aufführung verknüpft, loser ist als ein Engagement, missglückt es der Teil/Ganzes-Rhetorik, dem wuchtigsten Werkzeug der ästhetischen politischen Ökonomie, deren Anwesenheit in einer ihrer Tropen einzufangen: Nein, ich erkenne in ihnen keine Beispiele, keine Symbole, keine Allegorien der Welt da draußen, keine BürgerInnen, keine Angehörigen von Minderheiten, keine Abgeordneten der Menschheit, keine ExpertInnen eines Sichdurchwurstelns zwischen Hyperspezialisierung und den Gemeinplätzen der Präsentation. Ich erkenne nicht einmal Laien (das Arrangement eines einmaligen Auftritts ohne vorheriges Besprechen und Proben, ohne Anlass zur Improvisation hält ihren Wunsch, Theater zu spielen – sollte er bestehen – stumm). Die da, das sind die, die gekommen sind. Sie retten den Abend, ohne uns zu erlösen. Sie sind auch sicher nicht die Zukunft des Theaters, nur die leichte, freundliche Verblüffung seiner Gegenwart an diesem Julinachmittag in Kyoto.
Einem bürgerlichen Theater, das sich gut eingerichtet und fest eingesperrt hatte in der Kunstfertigkeit des Realismus, mithilfe von lebenden Körpern die Fiktion des Lebendigen zu erzeugen, konnte der Einbruch des Realen, des ‚Lebens selbst‘, wie die Erlösung winken. Godot kam endlich. Er kam in Gestalt von Menschen, die mit dem, was sie beruflich taten, in gewisser Weise auch Theater spielten; von ZuschauerInnen, die durch ihre Partizipation das Spektakel zu einer glücklich hybriden, ästhetisch-sozialen Begegnung umdefinierten; von leiblichen Vätern, von Kindern in verspiegelten Zimmern; von Leuten, die dazu überredet werden konnten, die handlungsunfähige, in Ironie gefangene Gemeinschaft aus Darstellungs-Crew und Publikum zu befreien, indem sie als ‚Mensch von der Straße‘ auf der Bühne die Fahne der Revolution schwenkten. Dieses Performance-Theater, das im deutschen Sprachraum aus der freien Szene an die großen Häuser gelangte (und, durch das jährliche Festival Tokyo bekannt gemacht, auch in Japan mittlerweile starken Einfluss ausübt) heißt „postdramatisch“ insofern zurecht, als es durch einen vergleichsweise preisgünstigen Deal mit der Realität die systematische Verschwendung beendete, in der Theater in der Spätphase seiner Geschichte als institutionalisierte Dramenaufführung bestand. Das Performance-Theater opferte den Rest Würde der Institution Theater; es lieferte sowohl deren materielle Infrastruktur als auch den symbolisch-imaginären Nimbus an die Evidenz eines wahrhaftig Gegenwärtigen aus, das sich im Fiktionalen einfand, mitten zwischen mehr oder weniger lapidaren Reminiszenzen ans Rollen-Spielen und Situationen-Erzeugen dem Zuschauen quasi in den Schoß plumpste. Nachdem die Ermüdung des Schauspiels an seiner ästhetisch-technischen Raffinesse den Preis von Aufführungen in die Höhe getrieben hatte, kam das Performance-Theater finanziell wie menschlich billig. Und während die Ankunft des Realen in den ohnedies brüchig gewordenen Architekturen der Repräsentation interessiert-irritiert aufgenommen, bisweilen stürmisch begrüßt wurde (und bspw. in Inszenierungen von Frank Castorf oder Nicolas Stemann SchauspielerInnen ‚Einbruch des Realen‘ bald so versiert spielten wie Komödianten ihr Double-Take), blieb dieses Billige der eigentliche Skandal. Das Reale hatte nicht den hohen Preis, den bürgerliches Ökonomieempfinden von einer Erlösung erwartet. Den Kontakt zu einer Charge Alltag zu vermitteln kostete so viel weniger als die Reproduktion alltäglichen Lebens im realistischen Fiktionsformat. Die Performance Art der 60er und 70er Jahre hatte schon demonstriert, wie ihre künstlerischen Strategien ohne Unterstützung durch große Kulturinstitutionen und deren Produktionsbudgets funktionierten, auch ohne institutionalisierte Ausbildung in bestimmten Techniken des Performens. Die KünstlerInnen taten Dinge, die jede und jeder tun konnte, griffen auf zufällig Gelerntes zurück, instrumentalisierten ihre Stärken und Schwächen, ihren Masochismus, ihre Lieb-, Freund- und Bekanntschaften. Lief der Übergriff der Performance auf das Theater also darauf hinaus, dass man den Apparat aus personell, technisch, finanziell üppig ausgestatteten (oder mit zu wenig Geld das Üppige simulierenden) Häusern wegrationalisieren – und vor allem den Schauspielberuf, den ästhetisch-ökonomischen Identitätskern des Repräsentationstheaters, abschaffen bzw. auf Film- und TV-Dienstleistungen beschränken – würde?
Im bürgerlichen Schauspiel war das Drama im Realismus zu einem Verfahren geworden, die körperliche Präsenz von DarstellerInnen mithilfe der Literatur zu entsorgen. Die Stücke Tschechows, an denen Stanislawski für seine Schauspielarbeit Maß nahm, führten das quasi nackt vor. Die Form einer schicksalhaften Einheit der Differenz von aion und chronos, Ewigkeit und Zeit, die Theater von der griechischen Tragödie eingeprägt erhielt, degenerierte in ihnen zum Malheur einer doppelten Ausweglosigkeit. Die Zeit konnte weder richtig vergehen, noch tat sich in ihrem Stocken eine höhere, überzeitlich gültige Wahrheit kund. Und so, wie in der von John Kenneth Galbraith (1998, S. 99-113) beschriebenen Affluent Society nicht deshalb gearbeitet wird, weil steigender Bedarf höhere Produktionsraten verlangt, sondern umgekehrt die Produktion wachsen muss, damit die Leute Arbeit haben, brauchte man in diesem Überflusstheater die schauspielerische Präsenz nicht, um mittels Handlungen eine Bewegung zu beleben, die irgendwohin führt (zu einem Ziel in der Zeit oder in einen Moment der Wahrheit, in dem Außerzeitliches aufblitzt); vielmehr diente die ganze Handlung dazu, Schauspieler zu beschäftigen, dem Übermaß an körperlicher Präsenz eine hinreichende Menge von Vorwänden zu ihrer Verausgabung zu liefern. Ein solches Theater führte sämtliche Dramen, egal, aus welcher Epoche stammend, welcher ästhetischen Programmatik zugedacht, mit demselben Verfahren auf, da Beschäftigung schauspielerisch ausgebildeten Personals seine raison d’être war. Die Avantgarden, die im noch jungen 20. Jahrhundert das Theater erneuern wollten, forderten deshalb die Ersetzung des Schauspielers durch etwas, das anders arbeitete, mehr wie eine Maschine, mehr wie ein Modul, wie ein Stoff oder Ding unter vielen. In einer Gesellschaft, deren progressive Stimmen drängten, die industrielle Matrix ihrer Wirtschaft auch fürs Kulturelle ernst zu nehmen, hielt der Schauspielberuf exemplarisch jenes Bürgerliche fest, das keynesianisches Staatsmanagement in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum Modell nahm, um die Industriegesellschaft solange in eine bürgerliche Gesellschaft zurückzuübersetzen, bis die Industrie in Länder ohne bürgerliche Traditionen ausgelagert werden konnte: Die Theater spiegelten das Einvernehmen zwischen Unternehmen und einem Staat, der dafür sorgt, dass seine BürgerInnen Arbeit haben. Sie beschäftigten ein Ensemble von SchauspielerInnen, ein Ballettensemble, ein Orchester; und sie produzierten die Art von Kunst, die diesen Beschäftigten etwas zu tun gab.
Die Krise dieses volkswirtschaftlichen Ansatzes traf das Theater ins Mark seiner Institutionalität. In Deutschland, wo Enttäuschung über die schleppende Nationenbildung um 1800 eine nationale bürgerliche Öffentlichkeit auf das Theaterpublikum projizierte und der Konnex von Staat und Theater im Folgenden sowohl politisch-imaginär als auch administrativ besonders eng war, schlug die Abkehr von den Leitlinien sozialer Marktwirtschaft in den 1990ern mit einer Heftigkeit aufs Theater durch, die bis heute nachbebt. Hochsubventionierte Häuser, die vor allem dazu da sind, Menschen in ästhetisch zweifelhaft gewordenen Berufen Anstellung zu geben, oszillierten zwischen ihrer altgewohnten Rolle als Stolz und der neuen als Schandfleck einer Republik, in der eine Hetzjagd auf Sozialschmarotzer tobte. Vorschlägen, die teuren Repertoire-Theater in Gastspielbetriebe umzuwandeln, konnten deren Verteidiger kaum mehr entgegensetzen als den Aufschrei über die Vernichtung von Arbeitsplätzen – verlegen ergänzt um den Hinweis auf eine „Qualität“, von der kein zeitgenössisches Ästhetik-Konzept hätte sagen können, was deren Relevanzkriterien sind. Argumente zum Erhalt des Schauspiels in seiner bislang gepflegten betrieblichen Form (und ebenso des Balletts, der Orchestermusik) ähneln solchen zum Erhalt des Bergbaus oder zur Rettung der Drogerie-Kette Schlecker. Denn was bewahrt werden soll, ist letztlich das Prinzip Beschäftigung. Der Staat steht mit seiner Autorität für ein vertraglich garantiertes, das Überleben, im optimalen Fall ein materiell auskömmliches Leben sicherndes Beschäftigungsverhältnis.
Zur Kunst, die mit und von Beschäftigten gemacht wird, offerieren zeitgenössische Debatten als Alternative meist nur den Netzwerk-Kapitalismus, seine Projekt-Ökonomie und die notorische Verschränkung von Konkurrieren und Kooperieren zwischen lauter SelbstunternehmerInnen. Eine gegenwärtig öfter anzutreffende Haltung sagt: lieber mehr Staat und Institutionen wie Performance-Gewerkschaften als das![3] Bedeutet aber eine Entscheidung für die Beschäftigung und gegen das Projekt zwangsläufig die Rückkehr zum regelnd-versorgenden Staat? Und was bedeutet sie ästhetisch? Ein Bekenntnis zu den Qualifikationskriterien für Angestellte, deren Qualifikation dann auf Anwendung pocht? Spekulation darauf, die berufliche Sicherheit werde ein weiteres Mal ästhetisch gewagte, anspruchsvolle Experimente im Bereich des Populären stimulieren, wie Mark Fisher (2014) dies für die britische BBC-Kultur der 1970er und 80er suggeriert hat? Angesichts eines boomenden Kunstmarktes, der zwar immer mehr Performatives in die visual arts importiert, von dessen Geldsummen die performing arts aber kaum etwas abbekommen, weil sie keine verkauf- und sammelbaren Werke herstellen, sind Forderungen nach besseren Finanzierungsmodellen nur zu verständlich. Doch irrt, wer annimmt, ökonomische Probleme der Kunstproduktion ließen sich lösen, ohne jenen Wert des Wertes von Kunst zu affizieren, den Ästhetik verhandelt.
Deshalb wäre die Frage nach dem Theater heute auch so zu stellen: Gibt es gegenwärtige Ästhetiken der Beschäftigung? Und gibt es eine ökonomisch-ästhetische Wirklichkeit der Beschäftigung jenseits (diesseits) des staatlichen Paternalismus? Everett Ghost Lines – entstanden mit Festival-Geldern in einem Land, dessen staatliche und kommunale Kulturförderung insgesamt weit hinter derjenigen reicher europäischer Länder zurückbleibt – taugt mit seinem zivilen Pragmatismus nicht zuletzt dazu, eine Außensicht auf Diskussionen zu vermitteln, die in Deutschland und Nachbarländern stark im Bann des Dualismus ‚Staatssubvention oder Privatkapital‘ geführt werden. Murakawas Briefe stellten keine Bezahlung in Aussicht, sie schlossen keinen Vertrag.[4] Was infolgedessen geschah, hielt indes zum in der freien Szene verbreiteten Typ von Ausbeutung, der an die Stelle des abwesenden Vertrages eine mehr oder weniger sanfte, Freundschafts- und Bekanntschaftsaffekte nutzende Erpressung setzt, genauso Distanz wie zur institutionellen Anstellung. Das Ineinandergreifen von Text und Performance bei Everett Ghost Lines gibt, wenn man darin den ökonomisch-ästhetischen Vorschlag zu einer Aufführungspraxis sieht, eine schwach persönliche Beschäftigung zu bedenken. Die Umwertung von Autorschaft in einem Scripting, das zugleich mit dem Vertrag auch die ökonomisch potenten persönlichen Bindungen kompensiert, ergibt eine Situation künstlerischen Produzierens, in der jemand sein Schreiben einsetzt, um sozialen Abstand und Anstand zu wahren: Schreiben und Als-Regisseur-das-Schreiben-Zeigen verschafft gerade so viel Unabhängigkeit, dass man es sich leisten kann, den Alltag zum Partner zu machen, ohne sein loses Nebeneinander in die Beziehungsfalle eines gemeinsamen Projektes zu locken. Beschäftigung impliziert ästhetisch ein downscaling des Produktes – kein Pathos des Scheiterns und Fehlermachens, wie es seit Jahrzehnten obstinat aus Künstlermündern dröhnt, sondern die Bereitschaft, sich mit weniger als einem großen Wurf zufrieden zu geben, sofern dies die Partizipation derer, die die Arbeit realisieren, von staatlich administrierter Gewalt und privater Erpressung entlastet. Statt Werken, die Geschichte machen, bleiben vielleicht nur eine gute Idee (vgl. van Eikels 2016) und eine Anzahl Menschen, die so höflich behandelt wurden, dass sie ihre alltägliche Lässigkeit in die Kunst hinein mitnehmen durften. Das ist aber schon ein Schritt Richtung Zivilisation.
Literatur
Benjamin, W. (1991): Kapitalismus als Religion [Fragment]. In: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VI. Frankfurt/M., S. 100-102.Search in Google Scholar
Derrida, J. (2008): Die Wahrheit in der Malerei. Wien.Search in Google Scholar
Ehrenberg, A. (2004): Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M.Search in Google Scholar
Eikels, K. van (2007): Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten – Bewegungsmuster als soziale und politische Organisation? In: Brandstetter, G./Wulf, Ch. (Hg.): Tanz als Anthropologie. Paderborn, S. 33-63.Search in Google Scholar
Eikels, K. van (2013): Die Kunst des Kollektiven. Performance zwischen Theater, Politik und Sozio-Ökonomie. Paderborn.10.30965/9783846751404Search in Google Scholar
Eikels, K. van (2015): The Incapacitated Spectator. In: Umathum, S./Wihstutz, B. (Hg.): Disabled Theater. Zürich, S. 105-125.Search in Google Scholar
Eikels, K. van (2016): Eine gute Idee. Blogeintrag vom 26.02.2016. https://kunstdeskollektiven.wordpress.com/2016/01/26/eine-gute-idee/ (letzter Zugriff am 29.07.2017).Search in Google Scholar
Eikels, K. van/Buchmann, S. (2015): Im Körper von Kuratierten – „You should always have a product that’s not you“. In: Netzwerk Kunst + Arbeit (Hg.): Art works. Ästhetik des Postfordismus. Berlin, S. 165-203.Search in Google Scholar
Fisher, M. (2014): Ghosts Of My Life – Writing on Depression, Hauntology and Lost Futures. Winchester.Search in Google Scholar
Galbraith, J. K. (1998): The Affluent Society. New York.Search in Google Scholar
Graeber, D. (2013): The Democracy Project: A History, a Crisis, a Movement. New York.Search in Google Scholar
Granovetter, M. S. (1973): The Strength of Weak Ties. In: American Journal of Sociology 78 (6), S. 1360-1380.10.1086/225469Search in Google Scholar
Hegel, G. W. F. (1986): Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke in 20 Bänden, Bd. 12. Frankfurt/M.10.28937/978-3-7873-2537-5Search in Google Scholar
Lefort, C. (1981): L’invention démocratique. Les limites de la domination totalitaire. Paris.Search in Google Scholar
Marx, K./Engels, F. (1972): Manifest der kommunistischen Partei. In: dies.: Werke, Bd. 4. 6. Aufl. Berlin, S. 459-493.Search in Google Scholar
Murakawa, T. (2016): Fuzai ni tsuite [Über Abwesenheit]. In: Viewpoint. The Saison Foundation Newsletter Nr. 77 vom 26.12.2016, S. 9-12.Search in Google Scholar
Rancière, J. (2008): Das Unbehagen in der Ästhetik. Wien.Search in Google Scholar
Virno, P. (2005): Grammatik der Multitude. Untersuchungen zu gegenwärtigen Lebensformen. Berlin.Search in Google Scholar
© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Einleitung: Kunst und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Zwei Formen des Ästhetischen, zwei Formen des Alltagsbezugs
- I. Ästhetik – Anwendung
- Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Vom Reiz des Immersiven
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- SIGNAs ganz normaler Wahnsinn
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Performing Diaries
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Der Ausnahmezustand und die Metrik des Alltäglichen
- III. Sozialität der Kunst
- Sozialkünstlerisches Handeln zwischen Alltag und Performancekunst
- III. Sozialität der Kunst
- If you don’t organize yourselves, you will be organized
- III. Sozialität der Kunst
- Grenzgänger der Kunst: Die Sammlung als plurales Medium in der künstlerischen Praxis von Jonathan Meese
- IV. Formation/Deformation
- Parasitierende Ordnungen
- IV. Formation/Deformation
- Alltag als Partner: Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa
- IV. Formation/Deformation
- Kunst als Rückzug
- Autorinnen und Autoren
Articles in the same Issue
- Frontmatter
- Einleitung: Kunst und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Zwei Formen des Ästhetischen, zwei Formen des Alltagsbezugs
- I. Ästhetik – Anwendung
- Ästhetik der Anwendung: Thesen zur gegenwärtigen Relation von Theater und Alltag
- I. Ästhetik – Anwendung
- Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Vom Reiz des Immersiven
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- SIGNAs ganz normaler Wahnsinn
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Performing Diaries
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Der Ausnahmezustand und die Metrik des Alltäglichen
- III. Sozialität der Kunst
- Sozialkünstlerisches Handeln zwischen Alltag und Performancekunst
- III. Sozialität der Kunst
- If you don’t organize yourselves, you will be organized
- III. Sozialität der Kunst
- Grenzgänger der Kunst: Die Sammlung als plurales Medium in der künstlerischen Praxis von Jonathan Meese
- IV. Formation/Deformation
- Parasitierende Ordnungen
- IV. Formation/Deformation
- Alltag als Partner: Das relativ unverbindliche Theater von Takuya Murakawa
- IV. Formation/Deformation
- Kunst als Rückzug
- Autorinnen und Autoren