Performing Diaries
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Adam Czirak
Abstract
Der Aufsatz öffnet den Blick auf die globale Landkarte der Performancekunst und zeichnet Korrespondenzen zwischen Künstlerinnen und Künstlern, die in unterschiedlichen diktatorischen oder ideologisch unterdrückenden Regimen des 20. Jahrhunderts die Medialität der Performance in der Logik einer notorischen Repetition gedacht und als tagtägliches Geschäft praktiziert haben, um ihre soziale Gegenwart zu einer alternativen Zeit- und Seinsdimension auszuweiten. Mit Hilfe ihrer Persistenz auf das Wiederholen des Vergänglichen haben Song Dong aus Peking, Ana Mendieta aus Kuba und Endre Tót aus Ungarn nicht nur ungewöhnliche Tagebuchformate entworfen, sondern durch die langjährigen Reminiszenzen einer künstlerischen Beschäftigung (in Schrift, in ephemerem Bild und in Zahl) ihren Alltag auch radikal verändert.
Anders als im Fall von Performances, die im Sinne des alt hergebrachten Topos (vgl. Lehmann 1999) ihre ephemere Gegenwärtigkeit zelebrieren bzw. in der akademischen Kritik erst aufgrund ihres Verschwindens diskursive Relevanz gewinnen,[1] eröffnen einige neoavantgardistische Kunstprojekte einen Horizont a-temporaler Gegenwärtigkeit. Geprägt von einer eigenen zeitlichen Dynamik jenseits der Dichotomie von Präsenz und Vergangenem können sich Live-Art-Aktionen von ihrer Verankerung in einem momentanen, vergänglichen ‚Jetzt‘ ablösen, akzentuieren sie doch ihre zeit-räumlichen Resonanzwirkungen und bringen zur Anschauung, dass sie, um es mit André Lepecki zu pointieren, ‚weiter geschehen‘ und ‚in der Gegenwart verharren‘ (vgl. Lepecki 2008, S. 180-191). Richtet man den Fokus auf die globale Landkarte der Performancekunst, so entfalten sich augenfällige Korrespondenzen zwischen Künstlerinnen und Künstlern, die in unterschiedlichen diktatorischen oder ideologisch unterdrückenden Regimen des 20. Jahrhunderts die Medialität der Performance in der Logik einer notorischen Repetition gedacht und praktiziert haben, als tagtägliches Geschäft also, das die soziale Gegenwart zu einer alternativen Zeit- und Seinsdimension auszuweiten erlaubte. Mit Hilfe ihrer Persistenz auf das Wiederholen des Vergänglichen haben sie das Alltägliche in multiple Vibrationsräume transformiert, die „sich in unterschiedlicher Weise in Richtung Vergangenheit und Zukunft“ (ebd., S. 189)[2] erstreckten bzw. ein epistemisches Feld von raffinierten Arten und Weisen der Selbstartikulation unter politischer Repression etablierten.
Die Aktionen, denen im Folgenden eine vergleichende Analyse gewidmet wird, beziehen ihren theatralen Reiz aus der obsessiven Repetition von Alltagshandlungen, die von den KünstlerInnen über mehrere Jahre hinweg kontinuierlich, in zwei Fällen sogar tagtäglich ausgeführt wurden, um die Bedingungen ihrer alltäglichen Existenz zu pointieren und zugleich zu reflektieren. Song Dong aus Peking, Ana Mendieta aus Kuba und Endre Tót aus Ungarn waren allerdings nicht darum bemüht, ihre soziale Wirklichkeit zu diskursivieren oder abzubilden, stattdessen entwarfen sie ungewöhnliche Tagebuchformate, in denen sie die Spannungen und affektiven Dispositionen ihres gewöhnlichen Lebens widerhallen ließen, d. h. die Grenzen ihrer künstlerischen und gesellschaftlichen Freiheit aufzuzeigen und zu überschreiten suchten. Mittels einer subtilen Rhetorik des Setzens und Entschwindenlassens operierten sie stets in Grenzbereichen der Lesbarkeit und führten notorisch Alltagshandlungen aus, die durch ihre widerständigen, zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit changierenden Qualitäten in die symbolische Ordnung weder ein-noch von ihr ausgeschlossen werden konnten und somit zu einer Wissenspraktik avancierten, die die staatliche Überwachung bzw. die dominanten Interpretationsraster der westlichen Performancetheorie teilweise unterwanderte.
Mit ihren Performances suchten alle drei Kunstschaffenden nach Antworten auf die Frage, wie die gesellschaftliche Realität zum Gegenstand einer Performance gemacht werden kann, wenn die ideologischen Restriktionen der Zeit es erschweren, Spuren zu hinterlassen oder die Stimme zu erheben. Welche Figurationen und Defigurationen der Selbstartikulation bzw. welche Taktiken der Subjektivierung und Desubjektivierung bleiben dem Individuum in jenen gesellschaftlichen Milieus, in denen die Selbstrepräsentation (verstanden sowohl als Darstellung wie auch als Vertretung des Selbst) weitgehend reguliert und eingeschränkt wird? Und wie können die prekären Verhältnisse des Alltags auf eine Weise reflektiert werden, dass die zensorische Toleranz noch nicht provoziert, aber die Aktion dennoch in eine ästhetische Dimension gerückt bzw. einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann? Die folgenden Fallbeispiele offenbaren künstlerische Bestrebungen, die den Lebensalltag in medialen Registern nachleben lassen, die angesichts ihrer semantischen Undurchdringlichkeit oder ihrer radikalen Flüchtigkeit für die westliche Performancekunst als eher ungewöhnlich erscheinen: in Schrift, in ephemerem Bild und in Zahl. Mehr noch: Die künstlerische Pointe einer Verlagerung der Performances in ‚Schrift‘, ‚Bild‘ und ‚Zahl‘ bestand bei den jeweiligen KünstlerInnen darin, ausschließlich vorübergehende Fixierungen hervorzubringen, die auf permanente Repetition und regelmäßiges Verschwinden-Lassen angelegt waren.
Wiederholen Künstler ihre alltagsbezogenen Performances über Jahre hinweg, so problematisieren sie de facto die eigene Lebenswirklichkeit und lassen gleichsam ihre Aktionen zum wesentlichen Bestandteil ihres sozialen Alltags werden. Wenn die Fortführung eines künstlerischen Projekts jeden Morgen auf der Tagesordnung steht, dann ist man aufgrund des ‚Weitermachens‘ von alternativen Gestaltungsweisen des Alltags zurückgehalten. Solche Verwebungen von Performance und Alltag werde ich nun zum Anlass eines Crossmappings nehmen: Die Anglistin Elisabeth Bronfen, die das intermediale Lektüreverfahren des Crossmappings entwickelt hat, plädiert für eine vergleichende Analyse von ästhetischen Formalisierungen, in denen bestimmte künstlerische Anliegen „zu verschiedenen historischen Zeiten und in verschiedenen Medien“ (2009, S. 8) manifest geworden sind. In ihrer umfangreichen Monografie Crossmappings entfaltet Bronfen eine netzwerkartig zusammengefügte Kunstgeschichte fortwährender Bezugnahmen, ohne sich dabei einer rigiden Wirkungsgeschichte zu verpflichten, ja „verbürgte[] Einflüsse“ (ebd.) nachzuweisen. Bronfens Ansatz ist eine wahrhaftige Intervention in die Tradition kulturhistorischer Narrative: „Ein Crossmapping […] schafft einen kritischen Denkraum, der wie die Kunst selbst im kulturellen Imaginären interveniert“ (ebd.). Nicht also das Kartografieren nachweisbarer oder kausaler Einflussnahmen steht bei Bronfen auf der Agenda, vielmehr aber die Lektürefreiheit, die die Verwandtschaft künstlerischer Zugriffe jenseits einer „ödipalen“ Zeugungsgeschichte von „who begat who“ (Manning 2004, S. 53)[3] erkundet. Ich verlasse die Schranken abendländischer Blickregime und bringe transnationale künstlerische Ambitionen miteinander in Dialog, die ausgerechnet im Zwischenbereich von kapitalistischen vs. kommunistischen, imperialistischen vs. anti-kolonialistischen Alltagsnarrativen entstanden sind, und von den Konflikten des Kalten Kriegs auf je unterschiedliche Weise betroffen waren. Es mag an der historischen Konstellation und an den künstlerischen Produktionsbedingungen Chinas, Kubas/Mexikos und Ungarns liegen, dass ich nicht – wie Bronfen – Gemälde, literarische Werke oder Filme miteinander verlinke, sondern Performances, die gerade von der Erkenntnis zeugen, das Alltagsleben weder zu fixieren noch in Sinnstrukturen bündeln zu können.
1 Das nie Lesbare schreiben (Song Dong: Water Diaries, 1995 bis heute)
Wir schreiben das Jahr 1966. Mao Zedong kündet in China die Große Proletarische Kulturrevolution an, die zehn Jahre lang, bis zu seinem Tod, andauern und einen tragischen Einschnitt in die Tradition des Landes herbeiführen wird. Maos Forderungen zur Umorientierung der Gesellschaft gehen vor allem einher mit der Zerstörung vier ‚alter‘ Werte, d. h. mit der Auslöschung ‚alter Gedanken‘, ‚alter Gewohnheiten‘, ‚alter Bräuche‘ und der ‚alten Kultur‘, sodass im Zuge der Kulturrevolution auch Gelehrte, Intellektuelle und Professoren diskreditiert bzw. aus ihren Positionen entlassen und aufs Land geschickt werden. Ungefähr zu dieser Zeit spitzen sich zudem die Konsequenzen von Maos früherer Schreibreform von 1956 zu: Die damalige Vereinfachung und Standardisierung von Schriftzeichen und die Abschaffung der Lehre alter Schreibstile führen dazu, dass seit den 1960er Jahren bestimmte Schriften – wie etwa die Poesie der Song-Zeit – unleserlich und unzugänglich werden (vgl. Neubacher 2011, S. 19-21).
Wir schreiben das Jahr 1966. Der Ausbruch der Kulturrevolution kollidiert mit der Geburt Song Dongs, eines der renommiertesten chinesischen Konzeptkünstler der Gegenwart. Er verbringt seine Kindheit sieben Jahre lang ohne seinen Vater, einen gebildeten Kalligrafie-Kenner, der als Konterrevolutionär beschuldigt und in ein Arbeitslager geschickt wird. Trotz der flächendeckenden Kulturfeindlichkeit im Land paart sich Songs anfängliche Begeisterung für das Malen schon sehr früh mit der heimlichen Aneignung der alten Kalligrafie, die sein zurückkehrender Vater ihm beibringt. Fehlt das Geld für Tusche und Papier, so schreiben sie notgedrungen mit Wasser auf Stein. Wenn man so will, kann Song die Zeichen dabei nur aus spurlosen Schreibbewegungen erlernen. Bemerkenswert scheint jedoch, wie intensiv die Schreibübungen aus der Kindheit bis heute in Songs performativen Kunstaktionen widerhallen, führt er sie doch in einer besonderen Form seit 1995 täglich aus: Seit über zwanzig Jahren schreibt er sein Tagebuch mit Wasser auf einen schwarzen Stein, benutzt dabei einen traditionellen Pinsel und bedient sich der kalligrafischen Schreibpraxis. Außerhalb des Berührungsmoments zwischen Stift und Stein sind seine Aufzeichnungen unsichtbar, nicht lesbar, sie verschwinden spurlos. Die prominente Kulturtechnik der Schrift, deren Sinn darin besteht, Mitteilungen über Raum und Zeit hinweg zu übertragen, erschöpft sich bei Song in einem räumlichen Ereignis, das sich den Regeln der Performativität (im Sinne Derridas), der Sichtbarkeit und anschließenden Wiederholbarkeit widersetzt und der Flüchtigkeit anheimgegeben ist. Song Dongs tägliche Performances könnte man – trotz der insgesamt vier fotografischen Aufnahmen, die Song Dong von seinem Wassertagebuch in Ausstellungen zirkulieren lässt – als eine fortwährende Absage an die Herstellung von Kunstobjekten, als Verunmöglichung jeglicher Fixierung verstehen; kurzum: Sie rufen die Frage wach, mit welch einem Tagebuch man es zu tun hat, dessen Schriftinhalt bestenfalls ausschließlich dem Autor zugänglich – und zwar weniger lesbar als erinnerbar – bleibt. Seine leerlaufenden Schreibgesten unterwandern permanent das Versprechen einer Mitteilung oder Erzählung und kokettieren unverkennbar mit jener (westlichen) Funktionalität der Schrift, die nach Jacques Derrida (1999) in der ‚Dissemination des Sinns‘ besteht. Die Verletzung einer von Derrida so berechtigt kritisierten Einheit von Subjekt und dessen Mitteilung könnte kaum beträchtlicher sein als Song Dongs Absage an die Lesbarkeit, insofern er die Zeichensetzung unsichtbar werden lässt und den Verlust eines sich mitteilenden Selbst in Szene setzt. Besteht die Desubjektivierung – im Sinne Agambens (2008, S. 36f.) – darin, dass sich ein ‚sprechendes‘ Selbst den Regeln der Sprache unterwirft, so entwickelt Song Dong eine Taktik der Subjektivierung, die der Verfügbarkeit entgeht, eine fixierbare Artikulationslogik außer Kraft setzt, aber sich täglich ereignet.
Vor dem Hintergrund der temporalen Ausdehnung dieser unsichtbaren Schreibpraxis ist es aufschlussreich zu untersuchen, wie viele historische Zeitschichten sich in der Ephemeralität der Wassertagebücher kreuzen. Obwohl das unleserliche Schreiben eine zukunftsbezogene Lektüre von Zeichen verunmöglicht, entstehen in Song Dongs flüchtigen Handbewegungen bemerkenswerte Kristallisationspunkte kulturhistorischer Resonanzen. Denn in seinen Wasserzeichen aktualisieren sich die heimlich ausgeführten Kalligrafieübungen der Kindheit genauso wie das Prinzip seiner ersten Performanceexperimente nach dem Studium – wie z. B. das unmögliche Stempeln auf die Wasseroberfläche. Dieses Prinzip zielt darauf, unter repressiven Produktionsbedingungen der Zensur zu entkommen, d. h. die Kunst dem Vergänglichen und nicht dem artefaktischen Schaffen zu widmen.[4] Heute noch, wenngleich die zensorische Rigidität nachgelassen hat, schreibt sich Songs dezidierte Entscheidung für die Live Art fort, ja sie spitzt sich in Form eines jahrzehntelangen Performancezyklus’ zu, in dem die kalligrafische Praxis von dem historischen ‚Staub‘ seiner verbotenen Weitergabe jeden Tag ‚gereinigt‘, ja mit Wasser wiederbelebt wird.
Man könnte von einem vielfältigen Resonanzraum im ‚Wassertagebuch‘ sprechen, der Songs Ängste bezüglich seiner künstlerischen Freiheit zugleich aktualisiert und reflektiert: „After a while this stone slowly became a part of me. That means I could say anything to it and be unscrupulous. This act became a part of life and it made me more relaxed“ (Huangfu 2001). Doch das Wassertagebuch ist für ihn nicht nur ein (unsichtbarer) Speicher des Selbst: Im tagtäglichen Schreiben auf den Stein hallen Zeitdimensionen und Wissensformen wider, die Songs Verzicht auf die Leserlichkeit in eine komplexe Epistemologie der chinesischen Autografie-Tradition einfügen. Bekanntlich diente die Praxis der Kalligrafie nicht der Mitteilung von Informationen, vielmehr haben Mönche in der Bildschrift seit Anbeginn einen Freiraum für Kreativität, Harmonie und Spiritualität entdeckt, d. h. der Sinn des Schreibens erschöpfte sich im Akt ihrer Handbewegung. Vor dem Hintergrund dieser Tradition grenzt auch Song seine kalligrafischen Performances deutlich von der alltäglichen Verwendung einer mitteilenden Schrift ab und mit dem Rückgriff auf die tausend Jahre alten Schreibinstrumente wie Stein und Wasser rekurriert er auf die daoistischen Philosophien, in deren Zentrum die Komplementarität von Leben und Tod, Yang und Yin(g) und somit die Symbolik von Stein und Wasser steht. Song Dongs Wassertagebuch ruft entsprechend mehrere kulturhistorische Bezugspunkte wach und überblendet die unsichtbar bleibenden Kalligrafieübungen aus der Kindheit mit der ursprünglichen Idee eines daoistischen, selbstreferenziellen Schreibens. Wenn er eine spurlose Zeichensetzung anstrebt, um die Zensur zu umgehen, kehrt er zur althergebrachten Idee der Kalligrafie zurück. Anders formuliert: Song Dong beharrt seit seiner Kindheit auf die verbotene Kalligrafiepraxis eines ästhetisierten, nicht-mitteilenden Schreibens, übertreibt und radikalisiert sie deutlich, um dem zensorischen Verbot der Gegenwart zu entkommen, ja dieses zu überlisten. Die Jetztzeit einer Performance dehnt sich bei Song in ein zeitloses Resonanzfeld hinaus, welches über politische und ideologische Perioden hinweg eine Eigenwirklichkeit, ja eine eigentümliche Sphäre entfaltet, in der die historisch gebändigten, fehlgeleiteten Energien von verbotenem Denken und ausgelöschter Kulturtechniken kumulieren.
Bemerkenswert ist indes, wie Songs Performances gegenwärtig in einem transnationalen Zusammenhang über die Ländergrenzen hinweg Echos erzeugen, insofern der Künstler westliche Galeriebesucher dazu einlädt, sich seine Schreibpraxis zu eigen zu machen und ‚das nie Lesbare‘ fortzuschreiben.[5] Durch sein Bemühen, ostasiatische Kunst weniger in ihrer Alterität und ihrem Werkcharakter auszustellen, als vielmehr als Erfahrungserlebnis weiterleben zu lassen, eröffnet Song Zwischenräume jenseits kultureller Territorien, in denen er seine künstlerische Absicht jenseits der Dichotomien von ‚Ost‘ und ‚West‘ nachwirken lässt.
Songs tagtägliches Spurenlegen über die Sicht- und Lesbarkeit hinweg ist kein singuläres Anliegen in der Geschichte der Kunst.[6] Um Verwebungen von Performance und Alltag, die eine wichtige autografische Tradition des memoire zugleich aufgreifen und überlisten, weiter zu kartografieren, soll es im Folgenden um die kubanische Künstlerin Ana Mendieta und ihre flüchtigen Körperspuren gehen, die sie zwischen 1973 und 1985 immer wieder hinterlassen hat.
2 Die Arbeit am Rest (Ana Mendieta: Silueta Series, 1973-1980)
Vor dem Horizont einer Epoche, in der Performancekünstlerinnen vermehrt mit Präsenzeffekten zu arbeiten beginnen und eine emphatische Betonung ihrer körperlichen Anwesenheit anstreben (vgl. Dolan 2003, S. 57-69) – sei es durch Selbstverletzung, Nacktheit oder direkte Interaktionen mit den Zuschauenden bei Marina Abramović, Carolee Schneeman oder Yoko Ono –, setzt die bis dato an der Peripherie des einschlägigen Kanons verortete Ana Mendieta von 1973 bis zu ihrem tragischen Tod 1980 in mehreren Hundert Aktionen die Arbeit am Rest ihres Verschwindens in Szene: Stets in Naturlandschaften und in der Regel vor den Augen einiger BetrachterInnen hinterlässt sie zunächst ihre lebensgroßen Körperabdrücke. Sei es im Wasser, in der Erde, auf einer Blumenwiese, im Sand, in Asche oder im Schnee, Mendieta konfiguriert vorübergehende Spuren, die sich aufgrund von meteorologischen und umweltlichen Veränderungsprozessen in absehbarer Zeit wieder der Sichtbarkeit werden entzogen haben. Ihre mit Siluetas betitelten Aktionen offenbaren schattenhafte Selbstportraits, ja horizontale Silhouetten, die von einer besonderen Fragilität leben und umgehend der Auslöschung anheimgeben, was sie zeigen.
Eine Performancefotografie der 1976 an der südmexikanischen Meeresküste realisierten Aktion (vgl. Abb. 1) versinnbildlicht die Annahme der Performancetheoretikerin Jane Blocker exemplarisch, „Mendieta carried the disappearance of the art object to its most extreme“ (1999, S. 17). Mendietas künstlerisches Programm konkretisiert sich hier in einer ausgeschachteten, im Sand hinterlassenen Silhouette, die eine anthropomorph anmutende Gestalt darstellt, aber mit jedem Wellenschlag mehr und mehr zum Schwinden gebracht wird. Im Bild ist eine Körperspur festgehalten, die wenige Minuten nach der fotografischen Fixierung ausgelöscht sein wird. Man könnte sagen, dass Mendieta ihren Körperabdruck mit dem Motiv eines Grabs überblendet und dass die Figurationen von Bildwerdung und Mortifizierung sowohl in die bildsemantische wie auch in die mediale Ebene der Fotografie eingeschrieben sind. Die plastische Szenerie der Körperspur, die die Abwesenheit des Körpers als notwendig voraussetzt, korrespondiert also mit den medialen Produktionsbedingungen der fotografischen Arretierung und erkundet die Epistemologie des vergänglichen Moments in einem doppelten Relationsfeld des stillgestellten Augenblicks und dessen unauslöschbarer dialektischer Beziehung zu einem Davor und einem Danach. Der fotografische Akt ist zwar in der Lage, das flüchtige Moment der Performance zu tradieren; die BetrachterIn des Bildes sieht sich dennoch mit einer Spektralität konfrontiert, die sich im Performancedokument fortschreibt, verstetigen doch die Exponate von Mendietas 17 Jahre dauerndem Projekt nichts anderes als die Momente eines metaphorischen, zwischen einem Noch-Nicht und Nicht-Mehr vibrierenden Verschwindens.

Ana Mendieta: Ohne Titel (Silueta-Serie). Performancefotografie (1976), Oaxaca (Mexiko)
Einer unheimlichen Szenerie begegnet man auch in der Dokumentation ihrer unbetitelten Silueta aus Iowa (vgl. Abb. 2), insofern hier der Betrachterblick unvermittelt an einer Höhlung am Ufer haltmacht und auf einen dunklen, anthropomorphen Abdruck trifft, der zwischen etwas Bekanntem und schon Entfremdetem, zwischen der heißen Spur eines eben noch da gewesenen Körpers und einem gefährdeten, an seiner Verweiskraft mehr und mehr einbüßenden Rest changiert. Der Eindruck des Unheimlichen, der die Fotografie durchwaltet, lässt sich auf die einzigartige Phänomenologie dieser ephemeren Spur zurückführen, auf die Unentscheidbarkeit darüber, ob wir mit einer Metapher oder einer Metonymie des verschwundenen Körpers zu tun haben, eines Körpers also, dem kein Platz im binären System von Lebenden und Toten zuortbar scheint. Der flüchtige Abdruck evoziert ferner Assoziationen an einen schwebenden Engel, an die Figuration eines Gespensts, die die Grenze von An- und Abwesenheit sowie die Konturen einer verlässlichen Ontologie verwischt. Kurzum: Was wir in der fotografischen Dokumentation sehen und als Rest eines temporären ‚Selbstportraits‘ überliefert bekommen, spiegelt ein Stadium der Aktion wider, das dem Entschwinden ausgesetzt ist und daher nichts vom dramaturgischen Verlauf der Aktion verrät. Überleben Song Dongs Performances vorwiegend in Künstleraussagen und Nacherzählungen, so sind es die wenigen fotografischen und kinematografischen Aufzeichnungen von Ana Mendieta, die überdauern und an die Stelle ihrer Entzugsperformances treten. Zwar gleiten die Siluetas nicht ohne Überreste dahin, in den Fotodokumenten scheint eine Aufhebung der linearen Zeitlichkeit ähnlich intensiv durch wie in den kontinuierlich wiederholten Aktionen Song Dongs: Die Absenz des Körpers und die schwindende Verifizierbarkeit einer Indexikalität wohnen den hinterlassenen Mangelbildern sowohl in der Naturlandschaft wie auch im fotografischen Bild inne. Die gespenstischen Ikonografien akzentuieren das Verschwinden auf beiden Ebenen in seiner Prozessualität, indem sie als (Bild-)Reste von Resten immer ein ‚Kurz-Davor‘ des Entzugs darbieten.

Ana Mendieta: Ohne Titel (Silueta-Serie). Performancefotografie (undatiert)
Es mag am flüchtigen Charakter der Aktionen selbst liegen, dass Mendietas Alltag, der – mit Nietzsche (1999, S. 880) gesprochen – wie ‚ein Heer verblasster (Bild-) Metaphern‘ hinter sich gelassen wird, von den Interpretatoren in konkrete Schicksalsnarrative überführt wurde: Die mit 13 Jahren ins amerikanische Exil getriebene Frau of color habe, so die leitenden Deutungsmuster, feministische Politik betrieben oder ethnische Unterdrückung zur Geltung gebracht, mehr noch: Mendieta habe in ihren Performances die psychosomatischen Wunden ihrer Emigration aus Kuba in die USA ins Blickfeld gerückt bzw. sogar ihren (angeblichen) Suizid vorweggenommen. Solcherart normative und fixierende Klassifizierungen lassen die Arbeiten kaum zu Wort kommen und suchen das Widerständige von Mendietas Kunst und Körperwissen in jenen ästhetischen Kategorien aufzuheben, die ihr einen festen Platz im Kunstdiskurs bereitstellen (vgl. Blocker 1999, S. 2-4, 21-23).
Die angesprochenen Deutungsnarrative stehen außerdem im Widerspruch mit den wahrhaft offenen, mithin auch rätselhaft bleibenden Aussagen der Künstlerin selbst, die ihre künstlerische Praxis wie folgt beschreibt: „I realised that painting was not real enough for the images I wanted to evoke. By ‚real‘ I mean powerful and magical. I decided that if I wanted to embrace these magical properties, I had to work directly with nature, I had to reach the source of life, the earth“ (Mendieta, zit. n. Murak 2012, S. 9). Ungleich schwieriger ist es also, die Performances von Mendieta als kontinuierlich neu einsetzende Experimente des Im-Modus-des-Verschwinden-Bleibens und somit als Manifeste eines fortdauernden Entzugs anzuerkennen, die konsolidierte interpretatorische Klassifizierungen revidiert und aussetzt. Wie Mendieta in der beinahe tagtäglichen – mehr noch: zu ihrer Alltagsrealität avancierenden Praxis der – Spurensicherung und Spurenlöschung die vorschnellen Zuschreibungen unterwandert, findet in der 1980 ausgeführten Silueta Isla eine expressive Visualisierung (vgl. Abb. 3).

Ana Mendieta: Isla (Insel, Silueta-Serie). Performancefotografie (1981)
Die am Stadtrand von Iowa gebildete Schlamm-Figur steht faktisch wie symbolisch für eine Insel und erhebt somit Anspruch auf ein Territorium jenseits nationaler und geografischer Territorien. In dieser flüchtigen Naturformation überblendet Mendieta geologische und politische Dimensionen der Existenz, insofern der im Wasser aufgerichtete Haufen für ein utopisches Areal auf unserer Erde einsteht und einen Ort jenseits des Atlasses nationalstaatlicher Markierungen und einer durch Ländergrenzen definierten Weltkarte einfordert. Ihr Eigenraum, der nicht mehr und nicht weniger Platz als das Volumen ihres Körpers abverlangt, ist zugleich ortsgebunden und heimatlos[7] und aus dieser Ambivalenz resultiert jene unheimliche Wirkung, die sich durch all die Aktionen bzw. Fotografien von Mendieta zieht: Jenseits geografischer Markierungen und klar bestimmbarer Körperbilder hinterlässt die Künstlerin fragile Spuren, die die Vorstellung einer trügerischen Ganzheit des Körpers unterlaufen und eine Emphase der leiblichen Anwesenheit oder Fixier-barkeit angreifen. Die Markierungen einer immerfort wiederholten, aber jeweils nur kurzlebigen Spurensicherung rücken Mendieta in einen Kreis von KünstlerInnen, die in ihrem Arbeitsalltag den Anspruch auf eine halb-präsentische Eigenwirklichkeit erhoben haben, und zwar zu einer Zeit, zu der vornehmlich die territorialen Ansprüche des Kalten Krieges und die Festschreibungen einer stets binär begriffenen, sich an der bipolaren Weltordnung orientierenden Identitätspolitik so diskursprägend waren.
3 Am Nullpunkt der Bedeutungen (Endre Tót: Zero-Aktionen)
Das dritte Beispiel leitet uns in das Symbolsystem der mathematischen Ziffer und gleichsam in den realsozialistischen Alltag des europäischen ‚Ostblocks‘. Denn die Frage, wie man das Problem einer aufrichtigen, aber zugleich der Zensur potenziell ausgesetzten Tagebuchführung umgeht, hat den ungarischen Aktionskünstler Endre Tót dazu verleitet, sich einem medialen Register zuzuwenden, das für die Realisierung von Performances zwar ebenfalls ungewöhnlich ist, die ideologisch bedingten Grenzen des Sagbaren jedoch auf eindrucksvolle Weise zu verhandeln erlaubt und in einem Vertrauen auf die Aussagekraft von Nullen besteht. Tóts Zero-Aktionen weisen eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit Song Dongs und Ana Mendietas repetitivem Verschwinden-Lassen von tagtäglichen Handlungen auf, insofern er seine künstlerischen Setzungen im buchstäblichen Sinne auf den Nullpunkt zurückführt. Nach seinem abgeschlossenen Malereistudium (1965) ist Tót mit der absurden Situation konfrontiert, dass er sich keine Leinwände und Farben leisten kann. Diesen finanziellen Missstand nimmt er zum Anlass seiner ersten, unsichtbaren Gemäldeserie: In My Unpainted Canvases bricht er eine Lanze für die Konzeptkunst, greift aber gleichzeitig auch akute wirtschaftliche Verhältnisse und kunsttheoretische Diskurse der Zeit auf. Zunächst also aus der Not, später aus dezidierter Überzeugung heraus ‚malt‘ er eine Reihe von 12 Tafeln, die außer den Bildrahmungen eigentlich gar nichts zu erkennen geben und aufgrund ihrer darstellerischen Offenheit den BetrachterInnenblick in eine Oszillation zwischen mehreren, nebeneinanderstehenden weißen Feldern versetzen, die genauso viel zeigen, wie die Intervalle zwischen den Rahmungen: nichts außer weißer Fläche. Lesbar sind Tóts ‚Bilder‘ als Verweigerungen pikturaler Kompositionen, ja sie zeugen von der Absicht, die ästhetische Setzung zu verschieben und die Rolle des sozialistischen Künstlers – verstanden als Prophet oder Visionär – kritisch zu hinterfragen. In diesem Sinn locken die ‚ungemalten Gemälde‘ von Tót den Blick der Rezipientin und des Rezipienten, die an Zukunftsutopien gewöhnt sind, in die Zonen der Unbestimmbarkeit.
Im Zuge seines wachsenden Interesses an konzeptueller Kunst fängt er zu Beginn der 1970er Jahre an, in kleinen Heftchen tagtägliche Übungen auszuführen, die nichts anderes zum Ziel haben, als eine monotone Aneinanderreihung der Ziffer ‚0‘ zu leisten (vgl. Abb. 4). Ungeachtet einiger dazwischengeschobener Frage- oder Ausrufezeichen lassen die Zahlenketten keine referenziellen Differenzen erkennen. Entsprechend weist die gleichmäßige Zeichensetzung keine semantische Kodierung auf, keine Logik einer Geheimschrift und keinen Verweis auf eine Übersetzbarkeit. Wenn Tót 1972 und 1973 mit der wandernden Fluxshoe-Ausstellung durch den ‚Westen‘ zieht (vgl. Kemp-Welch 2013, S. 168-175), erklärt er die Anfertigung von Null-Serien zu seinem täglich auszuführenden künstlerischen Programm: „I will be typing at a writing table – in the gallery. Only zer0000s!“ (vgl. Abb. 5). Die Aktion nimmt unverkennbar Bezug auf die wenig effiziente, aber omnipräsente Bürokratie des Realsozialismus, indem Tót seinen Ausstellungsdienst nach einem strengen Zeitplan organisiert: Elf Monate lang, immer wenn die Ausstellung geöffnet ist, setzt er sich jeden Tag für exakt zwei Stunden an die Schreibmaschine und produziert unterschiedliche Anordnungen von Nullen, dann starrt er eine Stunde lang an die weiße Wand, um abschließend unzählige Dokumente abzustempeln. Unabhängig davon, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs er sich aufhält, ändert er nichts an seiner Tagesordnung, die von dem einzigen Darstellungsprinzip geleitet ist, jedes Zeichen jenseits der Null zu meiden und somit auf ein Symbol zu beharren, das – als ein Konstrukt sondergleichen – keinen Referenten außerhalb des Nichts hat. Was sich in Tóts Tagebücher und Briefe endlos einträgt, ist eine Ziffer, die zwar als Ausgangspunkt jeder mathematischen Berechnung und Messung notwendig ist, ihrerseits jedoch einen Mangel zum Ausdruck bringt.[8]

Endre Tót: EXERCISE (1973)

Endre Tót: I am glad if I can stamp zeros. Performancefotografie (1973)
Durch die 1970er Jahre hindurch bleiben die Null-Aktionen im Zentrum von Tóts Kunst und Alltag, sie verhelfen ihm sogar dazu, ein Verfahren zu entwickeln, das seine beschränkte Mobilität als ‚Ostblock-Künstler‘ vor einem internationalen Publikum gleichermaßen benennt und überwindet: die so genannte Zero-Post (vgl. Abb. 6). Er adressiert prominente Vertreter der Kunstwelt mit Briefen, die er erneut durch die Schreibmaschine zieht, um den Text an den inhaltlich entscheidenden Stellen mit Nullen zu überschreiben. Die Artikulation des Selbst changiert hier zwischen An- und Abwesenheit und wird von einem mathematischen Zeichen ohne Wert und Referenz systematisch in die Unlesbarkeit geführt bzw. sofort vom Schreibenden getrennt und an einen geografisch schwer erreichbaren Empfänger jenseits des Eisernen Vorhangs – seien es Gilbert and George, Ben Vautier, Dieter Roth oder Yoko Ono – geschickt.

Endre Tót: Letter to Dieter Roth (1983)
Was in allen Zero-Aktionen Tóts in Form von Tagebucheinträgen oder Briefen zum Ausdruck kommt, ist ein nicht semantisierbares Wissen: Er bringt jenseits von Mitteilungen die Mitteilbarkeit als solche zum unabschließbaren Vibrieren, indem er an der Grenze des Symbolischen schreibt. Tóts Beharren auf den Nullpunkt der Bedeutungen zeugt, wenn man so will, von einem melancholischen Gestus, von einer Mangelerfahrung, die er nicht einmal nach seiner Emigration ins damalige Westdeutschland überwinden kann: „I would say these were the joys of loneliness, the delight of solitude. Something one can experience in suppression, but in the greatest freedom as well“ (Tót, zit. n. Perneczky 1995, S. 32).
Vor dem Hintergrund dieser Feststellung würde es – wie schon bei Ana Mendieta – zu einer interpretatorischen Eindimensionalität führen, wenn man die historischen Verhältnisse eines diktatorischen Regimes und die damit verbundenen zensorischen Maßnahmen im Bereich der Kunst als primäre Triebkraft für Tóts konsequentes Ausweichen auf die Ziffer Null hervorheben würde. In seinen Artikulationen am Nullpunkt der symbolischen Sinnproduktion werden die Begrenzungen und Unzulänglichkeiten menschlicher Kommunikation im weitesten Sinne in ein somatisches Register überführt, aber weniger um die Determiniertheit und limitierte Dechiffrierbarkeit der symbolischen Ordnung zu demonstrieren, als um die Sprache auf andere Dimensionen hin zu öffnen: hin zu einem sinnlichen Resonanzfeld von Null-Serien, in dem über Dekaden hinweg tagtäglich etwas mitschwingt, was referenziell nicht zugänglich ist und auch unzugänglich bleiben muss.
4 Zusammenfassung
Warum, so könnte man fragen, räumen die drei angesprochenen PerformerInnen in ihrer künstlerischen Praxis, die über mehrere Lebensjahre hinweg beständig von einem einzigen Handlungmotiv geleitet und dadurch zur Hauptbeschäftigung ihres Alltags wird, so viel Zeit für Aktionen ein, die in der Peripherie von Sichtbarkeit verbleiben? Aus welcher Überlegung heraus legen sie in einer so hohen Regelmäßigkeit Spuren, die auf eine epistemologische Unerschließbarkeit angelegt sind? Bekanntlich stellt die Reflexion des Alltäglichen von Beginn an ein zentrales Thema der Performancekunst dar, doch bei den oben angesprochenen KünstlerInnen tritt die Kunst faktisch über längere Jahre an die Stelle ihres Alltags und vice versa. Denn zum einen sind Song Dong, Ana Mendieta und Endre Tót darum bemüht, sich auf intensive und obsessive Weise zu artikulieren und in unterschiedlichen medialen Symbolsystemen – Song Dong in der Schrift, Ana Mendieta in Bild, genauer: in reliefartigen, ephemeren Körperbildern, und Endre Tót in mathematischen Ziffern – Zeichen zu setzen, doch das Ergebnis ihrer Bestrebungen entzieht sich der Fixier- und Greifbarkeit. Was die drei Unternehmungen miteinander verbindet, ist eine Suche nach Eigenräumen, in denen zwar kulturelle Erfahrungen, ideologische Prägungen und Sozialisationswissen widerhallen, sich gleichwohl aber der Abbildung einer Alltagsrealität verschließen. In diesem Sinne beziehen sich die Performances in keinerlei Hinsicht auf konkrete Konstellationen der Alltagsrealität oder des Erlebten, vielmehr eröffnen sie Resonanzfelder, in denen die wie auch immer gearteten Schwierigkeiten der Stimmerhebung, der Selbstbehauptung und der Spurensicherung manifest und zeitweise gelegentlich aufgehoben werden. In ihrer Alterität zur rigorosen Zeit- und Arbeitsorganisation kapitalistischer oder sozialistischer Provenienz stiften die medialen Operationen der unlesbaren Schrift, der kurzlebigen Körperabdrücke und der Serialisierung der Null teils ephemere, teils opake Reflexionsflächen für den Widerhall von Unverständlichkeiten in einer politisch und wirtschaftlich zweitgeteilten Welt. Denn das, was in allen Arbeiten mitschwingt und sie zu zentralen Schnittstellen eines Crossmappings erhebt, sind die globalen Dynamiken des Kalten Kriegs, jene ideologischen Konflikte, ökonomischen Wettläufe und Eingrenzungsmaßnahmen, die sich auch in den Biografien bzw. Produktionsbedingungen der drei KünstlerInnen tagtäglich niedergeschlagen haben. Ihre Tagebucheinträge tendieren dazu, in einem Niemandsland befangen zu sein: Wenn Songs Wasserzeichen trocknen, Mendietas Interventionen in die Landschaft von der Natur wieder gelöscht werden und Tóts Zero-Post mit großer Wahrscheinlichkeit beim Adressaten nie ankommt, scheint entscheidend zu sein, dass es dennoch allen drei KünstlerInnen gelingt, ephemere Zeichen zu setzen, mit denen sie ihre soziale Wirklichkeit temporär, aber regelmäßig verlassen. Mögen die Beweggründe, die zu einer Distanzierung von der Realität und Identität eines Staates führen, variieren und mögen sie von zensorischen Kontrollen (Song Dong) über die rassistischen Repressionen einer ‚weißen‘ Stadt (Ana Mendieta) bis hin zur Überwachung des Briefverkehrs (Endre Tót) reichen, die angesprochenen Aktionen zielen auf die Abkehr von einer national bedingten und staatlich konditionierten Zugehörigkeit. Genau in der Hinsicht einer gewissen Heimatlosigkeit korrespondieren die drei PerformerInnen miteinander und – obwohl sie keinen expliziten Bezug aufeinander nehmen, sich in aller Wahrscheinlichkeit gar nicht gekannt haben – figurieren sie als KomplizInnen einer Bestrebung nach autonomen Zeit- und Vibrationsräumen der Subjektivierung und Desubjektivierung, der Artikulation und der gleichzeitigen Entzugsgefahr dieser Artikulation in einer zweitgeteilten Welt samt ihrer Dichotomien, Hierarchisierungen und hegemonialen Interessen.
Quer durch Zeit, Kontinente und Medien verlaufen kartografische Linien in der Tradition der Performancekunst, die sich in keine wirkungsgeschichtlichen Kausalketten fügen. Nimmt man diese Linien, die den Widerhall ähnlicher ästhetischer Absichten und repräsentationspolitischer Anliegen bezeugen, genauer in den Blick, so können Korrespondenzen künstlerischer Interessen miteinander verlinkt werden, die zu unterschiedlichen Zeiten und an verschiedenen Orten unabhängig von ‚paternalen Tradierungen‘ relevant geworden sind. Haben die drei besprochenen KünstlerInnen vornehmlich in Einsamkeit gearbeitet, können sie auf einer imaginären Landkarte der Performancekunst miteinander in Dialog treten, überschreitet doch dieses kartografische Verfahren die Schranken einer positivistischen Geschichtsschreibung. Sich einer Theater- bzw. Performancehistoriografie zu verpflichten, die weniger nach Linearitäten als vielmehr nach künstlerischen und politischen Korrespondenzen fragt, bedeutet mithin auf eine kritische Weise in kausale wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge zu intervenieren und Ähnlichkeiten von ästhetischen Formalisierungen aufzudecken, die bis dahin unbemerkt oder mit hergebrachten historiografischen Methoden nicht beweisbar waren. Wohlgemerkt, die politische Korrespondenz zwischen Song, Mendieta und Tót besteht in der Absicht, die repetitive und schwer veränderbare Alltagsrealität diktatorischer Unterdrückung bzw. sozialer Diskriminierung durch einen konsequenten Entzug aus den konsolidierten Rastern der Kommunikation zu verlassen und stattdessen das Alltagsleben den langjährigen Reminiszenzen einer künstlerischen Beschäftigung widmend zu verändern.
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© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- I. Ästhetik – Anwendung
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- I. Ästhetik – Anwendung
- Verstrickungen zwischen Alltag und Kunst: (Inter)kulturelles Potenzial oder Beschränkung ästhetischer Freiheit?
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Vom Reiz des Immersiven
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- SIGNAs ganz normaler Wahnsinn
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Performing Diaries
- II. Un/Möglichkeit des Alltags
- Der Ausnahmezustand und die Metrik des Alltäglichen
- III. Sozialität der Kunst
- Sozialkünstlerisches Handeln zwischen Alltag und Performancekunst
- III. Sozialität der Kunst
- If you don’t organize yourselves, you will be organized
- III. Sozialität der Kunst
- Grenzgänger der Kunst: Die Sammlung als plurales Medium in der künstlerischen Praxis von Jonathan Meese
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