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Einleitung: Kunst und Alltag

  • Julius Heinicke , Joy Kristin Kalu and Matthias Warstat
Published/Copyright: November 24, 2017
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Die Gegenwart kommt als solche nur zur Geltung, wenn sie von anderen, abwesenden Zeiten beherrscht wird – das klingt zunächst nach einer reichlich unplausiblen These. Und doch scheint es oft, als werde nur demjenigen Sichtbarkeit eingeräumt, bzw. überhaupt eine Existenzberechtigung zugestanden, dessen Herkunft gesichert ist, und als verdiene nur dasjenige Anerkennung, dem ein anerkannter Platz in der Geschichte zukommt, so dass die Gegenwart unter der Herrschaft der Ordnungsmuster der Geschichte und ihrer Wissenschaft stünde. Dann wieder scheint jedwede Existenzberechtigung, als Minimalwert, nicht von einer Realisierung oder einer erbrachten, nachweisbaren Leistung, und sei es nur einem gegenwärtigen Nutzen, abzuhängen, sondern einzig von der Kraft, mit der eine Option auf eine zukünftige Relevanz plausibel gemacht wird, von einer zunehmenden Bedeutung, von einem Versprechen auf zukünftigen Gewinn, dem jetzt alles unterzuordnen ist, so dass das, was in der Gegenwart zählt, vom Glauben an die Berechenbarkeit der Zukunft abhinge.

Die vorliegende Paragrana-Ausgabe widmet sich ästhetischen Manifestationen des Alltäglichen in einem spezifischen Sinne: Gemeint sind nicht alle Arten von Versinnlichungen des Alltags, sondern insbesondere solche Praktiken und Routinen, die zu Kunst und Alltag gleichermaßen ausgeprägte Verbindungen aufweisen. Im Mittelpunkt stehen Inszenierungen und Evokationen von Alltäglichkeit, die sich im Rahmen der Künste vollziehen oder die mit Hilfe künstlerischer Techniken und Strategien hervorgebracht werden. Ausschlaggebend für die Wahl dieses Heftthemas waren Eindrücke aus einem gemeinsamen, vom European Research Council geförderten Forschungsprojekt des HerausgeberInnenteams, das sich unter dem Titel „The Aesthetics of Applied Theatre“ mit Ästhetiken des angewandten Theaters beschäftigt hat. Zahlreiche Spielarten dieses Theaters, das im Englischen unter Begriffen wie Applied Theatre, Devised Theatre oder Social Theatre firmiert, zielen auf Simulationen von Alltäglichkeit als eine Art ‚Probe für den Ernstfall‘ oder bemühen sich in vergleichsweise offensiven Interventionen um eine Sichtbarmachung, Gestaltung, Optimierung oder gar Kontrolle des Alltags bestimmter ‚Zielgruppen‘. Theatrale Anwendungen dieser Art finden häufig nicht in Form von Aufführungen vor einem öffentlichen Publikum statt, sondern begeben sich (ganz direkt oder durch vermittelnde Fiktionalisierungen) in die alltägliche Umgebung derjenigen, an die sie sich richten.

Es wäre falsch zu behaupten, dass diese Art von Theater (etwa Gefängnistheater, Psychodrama, Theater in der Schule, Unternehmenstheater etc.) in vollständiger Distanz zu den Künsten operiert. Vielmehr ist für die Akteure ein – zumindest negativer, häufig aber auch interessierter und affirmativer – Bezug auf Verfahren des Kunsttheaters durchaus charakteristisch. Umgekehrt ist im Kunsttheater der letzten Jahre eine deutliche Hinwendung zum Alltag einzelner sozialer Gruppen zu beobachten. Expliziter und entschiedener als früher fühlt sich die Institution Theater heute (auch, aber beileibe nicht nur in Gestalt ihrer theaterpädagogischen Abteilungen) sozialen Agenden verpflichtet. Auch in den Förderungsstrukturen vollzieht sich eine Verschiebung von klassischer Kunstförderung hin zu Förderformaten, die funktional auf gesellschaftliche Wirksamkeit ausgerichtet sind.

Dies betrifft insbesondere die Freie Szene, die durch ihre Abhängigkeit von Projektfördermitteln von den thematischen Ausrichtungen der Förderkriterien direkt betroffen ist. Doch auch in den Stadt-, Landes- und Staatstheatern findet sich eine zunehmende Hinwendung zu Themen des Alltags – teils im Zuge des sozialen und politischen Engagements einzelner Häuser oder RegisseurInnen, teils dadurch, dass die freie Förderung im Rahmen von Programmen, die Freie Szene und durchgehend geförderte Spielstätten zusammenbringen sollen, ihren Wirkungsgrad und somit ihre thematische Einflussnahme vergrößert hat. Diese Entwicklung gilt ebenso für den Bereich der bildenden Kunst, in dem immer mehr Förderinstrumente auf partizipative Projekte abzielen, die in die Alltagswelt bestimmter Zielgruppen eingreifen sollen. Im Ergebnis weisen viele ästhetische Phänomene aus dem zeitgenössischen Theater, der Performance und der relationalen Kunst eine ambivalente Nähe und Ähnlichkeit zum angewandten Theater und zur sozialen Kunst auf.

In vielen Beiträgen dieses Heftes wird deshalb nicht strikt zwischen Kunst und Nicht-Kunst oder zwischen ästhetischen und sozialen Praktiken unterschieden. Auch die in kritischen Diskursen nach wie vor verbreitete Gegenüberstellung von ‚autonomer Kunst‘ (bzw. ‚freier Kunst‘) und ‚angewandter Kunst‘ wird eher zurückgestellt, zumal sie sich in der Reflexion konkreter Projekte meist nur schwer aufrechterhalten lässt. Dabei unterscheidet sich die neue Vielfalt der Relationalität von Kunst und Alltag markant von früheren Versuchen einer künstlerischen Transformation des Alltags, wie sie etwa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Zeichen von Avantgarde und Lebensreform unternommen wurden. Die damaligen Visionen eines ‚neuen Menschen‘ und eines anderen, besseren Lebens waren häufig derart idealistisch und/oder revolutionär auf eine Art ‚großen Sprung‘, eine fundamentale Erneuerung ausgerichtet, dass die Kunst den Alltag bisweilen eher negierte oder aufzuheben trachtete, als kleinteilig in ihn zu intervenieren. Die Kunst schien den Alltag mehr zu überstrahlen, als dass sie ihn – wie heute angestrebt – minutiös zu durchdringen versuchte. Indem sich z. B. das Theater auf der Seite der richtungweisenden Vision oder der zu gewinnenden Utopie situierte, blieb es dem Alltag, den es verändern wollte, doch äußerlich.

Heutzutage scheint im Verhältnis von Kunst und Alltag eine neue Unübersichtlichkeit vorherrschend: Neben simulierenden oder inszenatorischen Interventionen in die Alltagswelt von KlientInnen, PatientInnen, Betroffenen etc. finden sich viele Performance- und Theaterprojekte, die sich ihrerseits Rahmungen des Alltäglichen zu eigen machen, indem sie sich wie das angewandte Theater in private und öffentliche Räume begeben, oder aber indem sie – bisweilen als ‚immersiv‘ bezeichnete – Umgebungen schaffen, in denen die Zuschauenden zu Partizipierenden werden und schon aufgrund der langen Dauer von Aufführungen beginnen, innerhalb der Inszenierung einen Alltag zu leben und mitzugestalten. Der vorliegende Band betrachtet einige dieser diversen Spielarten zwischen Kunst und Alltag aus unterschiedlichen Blickwinkeln, die in vier Sektionen gegliedert sind: „Ästhetik – Anwendung“, „Un/Möglichkeit des Alltags“, „Sozialität der Kunst“ und „Formation/Deformation“.

Berlin, im August 2017

Published Online: 2017-11-24
Published in Print: 2017-11-27

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 7.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/para-2017-0031/html
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