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Kybernetisierung des Alltags am Beispiel der Theaterinstallation Syntegrity
  • Kevin Rittberger
Published/Copyright: November 24, 2017
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Abstract

Im vorliegenden Text versucht der Autor, die Kybernetisierung des Alltags innerhalb der Theaterinstallation Syntegrity zu beschreiben. Anhand der ästhetischen Umsetzung einer Kultur der Commons geht es darum zu untersuchen, wie die performative Vorwegnahme eines künftigen Alltags mit den Begriffen Präfiguration und Vorahmung beschrieben werden kann. Die zentralen Konzepte der Selbstorganisation und Selbstverwaltung bilden die diskursive Grundlage einer gemeinsamen Arbeit am Skript, das (nur) inmitten der technologisch-materiellen Umgebung des Labors entstehen kann. WissenschaftlerInnen, AktivistInnen, KünstlerInnen, AutorInnen und PerformerInnen können so bereits bestehende Forschungsprojekte nutzen, um künftigen Alltag mittels performativer Vorahmung als grundlegend andere Praxis erscheinen zu lassen.

1 Einleitung

Im Rahmen der Entwicklung der Planungsgrundlagen für die Wohnbaugenossenschaft Warmbächli in Bern, dem Umbau eines Gebäudes der ehemaligen städtischen Kehrichtverbrennungsanlage zu einem nachbarschaftlichen Commons für 200-300 Bewohner, haben die GenossenschafterInnen und zukünftigen NachbarInnen bereits im Jahr 2015 Geschichten des Zusammenlebens erfunden, welche für die PlanerInnen und ArchitektInnen nun maßgeblich bei der Umsetzung des partizipativen Bauprojektes sein werden. Diese Präfigurationen, die mehr Prosaskizzen sind als der Akribie des Science-Fiction-Genres zu genügen, werden für die Ausgestaltung der Räumlichkeiten auch in dem Maße entscheidend sein, dass die künftigen BewohnerInnen ihre alltäglichen Wege im Commons im Geiste schon mal probeweise abschreiten, die bevorzugte, gemeinsame Wohnform im Vergleich zur vormals individuellen damit antizipiert wird und die nachhaltige, gemeinsame Nutzung der Wohnform Commons damit erste Konturen gewinnt. Die Grundfrage ist, wie sich die Vorstellungen von gemeinsamem Wohnen, Leben und Wirtschaften unter einem Dach architektonisch umsetzen lassen. Tobias Willimann (2017) aus der Baukommission der Wohnungsbaugenossenschaft Warmbächli formuliert die Ziele in einer Email an mich wie folgt: „Wir versuchen eine Ausgangslage zu entwickeln, welche Möglichkeitsräume öffnet für die Bewohnenden unseres Hauses. Physisch: gemeinschaftlich genutzte Räume ohne vorher definierte Funktion. Atmosphärisch: eine Stimmung schaffen, in welcher alle sich ermächtigt fühlen, Bedürfnisse und Ideen zu Initiativen werden zu lassen. Das ist sicher schon mal ein großer Unterschied zum Wohnalltag der meisten Menschen heute in Bern. Ich denke (hoffe) auch, dass das Wissen das Gebäude als Kollektiv zu besitzen und die daraus entstehende Sicherheit nicht vertrieben zu werden, Ressourcen freispielen können, welche an anderen Orten eingesetzt werden können.“

Die Geschichten der Commoners antizipieren zukünftigen Alltag. Gemeinsam mit Design-ForscherInnen, InformatikerInnen, MedienwissenschaftlerInnen und -künstlerInnen, WissenschaftshistorikerInnen, SchauspielerInnen und assoziierten AktivistInnen und AutorInnen galt es nun innerhalb der Räume des Critical Media Labs (CML) in Basel[1] die Theaterinstallation Syntegrity zu entwerfen, die sich u. a. mit dem Thema der Kybernetisierung des Alltags befasste. Auszüge der Geschichten der Warmbächli-GenossenschafterInnen konnten unmittelbar in ein gemeinsam zu erarbeitendes Skript einfließen, das sich in den Räumlichkeiten des Labs mit sämtlichen Beteiligten unmittelbar materialisieren sollte. Als künstlerischer Leiter, Regisseur und Autor konnte ich Syntegrity als Teil II der Lecture- und Performance-Reihe Community in Progress, die 2015/16 stattfand, gemeinsam mit dem Theater Basel und in Kollaboration mit dem CML produzieren. Teile der Theaterinstallation, welchen das besondere Augenmerk der folgenden Untersuchung gilt, möchte ich im Folgenden als theatrale Vorahmung eines zukünftigen, kybernetisierten Alltags beschreiben, der seine diskursiven und raumzeitlichen Koordinaten nicht nur unmittelbar aus den Quellen der GenossenschafterInnen beziehen, sondern hauptsächlich mit den Ergebnissen eines Workshops über Kybernetik und Selbstorganisation sowie der damit verbundenen Probenarbeit verknüpfen konnte. Was genau kann unter einer Kybernetisierung des Alltags verstanden werden? Und wie kann diese Kybernetisierung mit der Praxis der Commoners, die als nachhaltige Praxis des Commoning innerhalb der Wohnform Commons noch weiter ausgeführt werden wird, einhergehen, sie unterstützen und sich mit ihr verschränken? Und nicht zuletzt: Bieten nicht gerade die performativen Künste die Möglichkeit, einen zukünftigen, kybernetisierten Alltag vorzuahmen?

Syntegrity widmete sich diesen Fragen in Theorie und Praxis, und die Möglichkeit der Zusammenarbeit mit einem Labor, das sich v. a. durch Schnittstellen zwischen Medienkunst, Medienarchäologie, Design und Technologie auszeichnet, bot der Lecture- und Performancereihe einzigartige Räumlichkeiten. So bestand Syntegrity aus fünf Forschungsinseln oder Sets innerhalb der Basler Hochschule für Gestaltung und Kunst, die auch das CML beherbergt. Die ZuschauerInnen konnten die geframten Inseln nach und nach begehen, bzw. diese wurden nach und nach angekündigt und vorgeführt. Das CML war das reale Forschungslabor, das der Theaterinstallation nun als Bühne, als Lab der Zukunft diente, um alte und neue Modelle der Selbstorganisation (bzw. Selbstverwaltung) zu reflektieren und an zukünftigen und vergangenen, kontrafaktischen Szenarien auszurichten. Bereits existierende Forschungsprojekte konnten durch die AutorInnen der Theaterinstallation performativ nutzbar gemacht werden. Die performativen Künste boten so die Möglichkeit, antizipierte Szenarien gemeinsam durchzuspielen bzw. darstellerische Skizzen kybernetisierten Alltags in zukünftigen Commons zu liefern, die im Weiteren mit den Begriffen der Präfiguration und Vorahmung beschrieben werden sollen.

Innerhalb zweier Inseln spielte die Ästhetik des Alltäglichen eine besondere Rolle. Eine davon – Designed Immediacy – widmete sich der alltäglichen Situierung von technologiebasiertem Wissen und versuchte, das immersive Abtauchen in responsive Lebenswelten erfahrbar zu machen. The Common Rules, eine weitere Insel, baute auf der vorigen auf und rückte die eingangs erwähnten Geschichten des Nachbarschaftsprojekts Warmbächli ins Blickfeld, wobei die Vorahmung nun dahin zielte, künftigen Alltagspraktiken des Commoning mithilfe eines erdachten Szenarios des fortgeschrittenen Klimawandels im Netzwerk der Nachbarschaftsprojekte konkret erfahrbar zu machen. Hierfür konnte außerdem das Forschungsprojekt „Times of Waste“ brauchbar gemacht werden, welches die nachvollziehbare Wiederverwendung von Alltagsmüll untersuchte (Track Trash). Das gegenwärtig Alltägliche als allzu selbstverständlich erscheinende Abfolge von individuellen Alltagsroutinen rückte in die Ferne. Alltag erschien damit fremdartig, entrückt und veränderbar. Alltag und Alltäglichkeit wurden so als etwas vollkommen Konstruiertes, willentlich Gemachtes kenntlich. Zentrale Fragestellungen, denen ich im Folgenden nachgehen möchte, waren: Wie wird der Alltag im zukünftigen Commons ausgesehen haben? Wie wird sich Selbstorganisation durch die Commoners selbst (besser) organisieren lassen? Wie lässt sich das Miteinander im Commons (bzw. in einer Kultur der Commons) performativ darstellen?

2 Commoning

Selbstorganisation wird im vorliegenden Text als Praxis des Commoning, d. h. als die prägende Praxis innerhalb der Commons vorgestellt. Es handelt sich um Prozesse, die zur gemeinsamen Verwaltung der Ressourcen notwendig sind, d. h. v. a. um Regelfindung, Regeln und Umgang mit Regelverstößen. Diese grundlegenden Prozesse sind notwendig, damit Ressourcen zu Commons werden und auch Commons bleiben können. Die Praxis des Commoning widersteht der Produktion und Distribution von Waren. Die gemeinsame Nutzung der Ressource(n), die unter den Nutzern abgesprochen ist und nur durch sie selbst reglementiert wird, um zu gewährleisten, dass ein Commons erhalten bleiben und nachhaltig genutzt werden kann, setzt infrastrukturelle Bedingungen (wie Eigentumsverhältnisse), strukturelle Voraussetzungen (die Möglichkeit aller, gleichberechtigt teilzunehmen und teilzuhaben) sowie Alltagspraktiken voraus. Commons, das können rivale Allgemeingüter sein wie Gewässer, Wälder oder Land (die historischen Allmenden), aber auch ein Wohnhaus, eine Fabrik, eine Zeitung, ein Club oder ein FabLab, dessen Erwerb, Instandhaltung und Nutzung gemeinsam bewerkstelligt wird.[2] Weniger Bruch und mehr Prozess, lässt sich Commoning aber nicht proklamieren, sondern besser in der tatsächlichen Praxis der Selbstverwaltung des einzelnen Commons und in der Gesamtheit selbstorganisierter Handlungen zwischen mehreren, vernetzten Commons beschreiben. Durch die (Rechts-)Form des genossenschaftlichen Eigentums, einer Form der freiwilligen Kollektivierung, verliert der Begriff des Eigentums zum Beispiel die ihm seit dem Beginn der Moderne anhaftende, anthropologische Bedeutung, die Crawford MacPherson (1973) auch als Besitzindividualismus bezeichnet hat (vgl. S. 1). Kollektive wie Warmbächli etwa nutzen die Rechtsform der Genossenschaft. Mit Massimo de Angelis (2014) sind die Commons „nicht nur ein ‚dritter Weg‘ jenseits der Unzulänglichkeiten von Markt und Staat; sie sind auch ein Vehikel, mit dessen Hilfe der Anspruch auf Aneignung der eigenen Lebens- und Reproduktionsbedingungen vorangetrieben werden kann“ (S. 229). Makroökonomisch wird Commoning seit einigen Jahren auch als Strategie der Armutsvermeidung, der Durchsetzung einer postkapitalistischen, solidarischen Ökonomie sowie einer globalen Ernährungssouveränität diskutiert (vgl. Hoering 2010; AgrarAttac 2013).

Alltägliche Praktiken des Commoning, wie jene, die durch GenossenschafterInnen des Haus- und Nachbarschaftsprojekts Warmbächli in den eingangs erwähnten Skizzen des Zusammenlebens antizipiert werden, aber auch die des Vereins Neustart Schweiz, dessen Theorie und Praxis der Genossenschafter und Science-Fiction-Autor P. M. (2015) schon seit Jahrzehnten beschreibt, lassen sich indes mit der von Henri Lefebvre (1977) geforderten Transformation des Alltags zusammendenken. Lefebvre gelangt nach einer Kritik der politischen Ökonomie zur entscheidenden Frage, wie „das städtische Leben die weitgehend verschwundenen Fähigkeiten der Stadt zur Integration und zur Partizipation“ (2016, S. 147) wiedererlangen und verstärken kann. Der Alltag bildet dabei jene raumzeitlichen Koordinaten ab, die durch eine kollektive Aneignung immer neu abgesteckt werden können. Im Alltag entscheidet sich, ob sich eine kollektive Aneignung ins Werk setzen lässt oder weiterhin der kapitalistischen Logik unterworfen bleibt. Lefebvres Annahme, dass das Alltägliche im kapitalistischen (neoliberalen) Verwertungszusammenhang niemals vollständig eingenommen werden kann und sich die berühmte Formel Recht auf Stadt gerade im Alltag erweisen muss, diente auch den AutorInnen der Theaterinstallation Syntegrity als Grundlage, die Potenzialität eines anderen, reicheren Alltagslebens und Lebensstils durch die Behauptung einer regelrechten Vernetzung und Verbreitung einer Kultur der Selbstverwaltung, einer Kultur der Commons zu entwickeln. Hier nun trat die Kybernetik, verstanden als die Organisation von Selbstorganisation, auf den Plan, induziert durch Organisationstheorien und -modelle, Technologien, Computer und Algorithmen. Für eine Kultur der Commons, so nahmen wir an, könnte eine Kybernetisierung des Alltags hilfreich erscheinen, soweit sich damit selbstorganisierte Prozesse im Sinne der nachhaltigen Nutzung aller NachbarInnen effizienter gestalten ließen. Die Kybernetisierung des Alltags dachten wir als komplementär zur Praxis des Commoning, als Technologie der Selbstorganisation, die für die Vernetzung der Commons intern und untereinander unabdingbar werden könne.

Selbstorganisation ist indes von Regulierungsweisen des Selbst zu unterscheiden, die Isabell Lorey mit dem Begriff der „biopolitischen Gouvernementalität“ ausgewiesen hat (2012, S. 39). Gouvernementalität bezeichnet – den Ausführungen Michel Foucaults folgend – die „strukturelle Verstrickung zwischen der Regierung eines Staates und den Techniken der Selbstregierung in modernen, okzidentalen Gesellschaften“. Diese Verstrickung könne „als der politische wie auch ökonomische Paradigmenwechsel hin zur okzidentalen Moderne verstanden werden“ (ebd.). Während Individualisierung hier als die liberale Regierung des Körpers und des Selbst verstanden wird, welche die „Bande zu den anderen“ (S. 42) löse, so sucht die Praxis des Commoning diese eben in den Zwischenräumen von Markt und Staat wiederherzustellen. Innerhalb des/der Commons besteht die Möglichkeit, „dass die geleistete Arbeit, die Organisation und die sozialen Beziehungsmuster sich nicht einem äußeren Druck unterwerfen, sondern ihre Reproduktion autonom organisieren, indem sie den von den Commoners definierten Kriterien von Gleichheit und Gerechtigkeit folgen. Ob diese Chance genutzt werden kann, hängt von den unvorhersehbaren Machtverhältnissen innerhalb der Commons ab, von der Stärke der Vernetzung zwischen den Commons und von Kräften außerhalb der Commons, wie dem Kapital. Commons eröffnen also einen Möglichkeitsraum im Kampf gegen das Kapital“ (De Angelis 2014, S. 230). Individualisierung und Selbstregierung erscheinen im Zuge der Privatisierung ehemals sozialstaatlicher Leistungen als verschärfte Gegensätze zur Praxis des Commoning, einer selbstorganisierten Form der Sorgegemeinschaft und Solidarität, die vor eben dem Hintergrund einer Neoliberalisierung von Gesellschaften oftmals als letzte Alternative erscheint. Gleich dem nationalen Wohlfahrtsstaat sind allerdings auch Commons nicht vor (lokalen) Ausschlüssen gefeit und können auch den vollkommenen Abbau von staatlichem Gesundheits- und Bildungswesen nicht ersetzen.

Commons als Möglichkeitsräume eines unentfremdeten Alltags, welcher auf Kooperation und Solidarität beruht, lassen sich neben den utopischen Sozialarchitekturen Charles Fouriers auch auf Karl Marx’ (1844) frühe Entfremdungskritik zurückführen. Auch Marx hatte die Voraussetzungen für eine Revolutionierung des kapitalistischen Alltags an die Eigentumsfrage geknüpft: „Die positive Aufhebung des Privateigentums, als die Aneignung des menschlichen Lebens, ist daher die positive Aufhebung aller Entfremdung, also die Rückkehr des Menschen aus Religion, Familie, Staat etc. in sein menschliches, d. h. gesellschaftliches Dasein“ (S. 537). Auch Lefebvre benutzt Aneignung als Gegenbegriff zum Begriff der Entfremdung, jedoch geht es ihm bereits um die Suche nach Spielräumen für Autonomie und Kreativität, trotz der Zwänge der Lohnarbeit. In Kritik des Alltagslebens und später in Recht auf Stadt wird ferner der Begriff der Arbeit durch den des Werks ersetzt, um auf einer gesellschaftlichen Ebene „die Tätigkeit einer Gruppe, die ihre Rolle und ihr gesellschaftliches Schicksal in die Hand und in Pflege nimmt, mit anderen Worten Selbstverwaltung“ (1972, S. 276) zu bezeichnen. Lefebvre beschreibt damit noch nicht den Prozess der Anverwandlung von Protestenergien der sozialen Bewegungen sowie der Künstlerkritik der 1960er Jahre durch neoliberale Unternehmensphilosophien und -praktiken, wie dies etwa Luc Boltanski und Ève Chiapello (2003) in ihrer soziologischen Studie geleistet haben. Mit Lorey (2012) gehe ich jedoch davon aus, dass der Zuspitzung der Formen von Selbstregierung und Selbstverantwortung im Neoliberalismus die „immanente Potenzialität der ermächtigenden, widerständigen Umkehrung“ (S. 140) permanent entgegensteht. Solange die Privatisierung öffentlicher Güter oder Allgemeingüter weiter anhält und damit Investoren Einfluss erhalten, die demokratisch nicht legitimiert sind, verliert Lefebvres Ruf nach einem Recht auf Stadt nicht an Aktualität. Soziale Bewegungen wie Occupy, Blockupy, die Gezi-Bewegung, 15M u. a., die sich an zentralen Plätzen manifestierten, haben Lefebvres Forderungen aufgegriffen und aktualisiert. Möglichkeiten von selbstorganisierten, alltäglichen Praktiken des Commoning – gegenseitige Hilfe leisten, sich mit anderen verbinden, zusammen handeln, Selbstverwaltung in die Praxis umsetzen, das Modell einer Kommunen-Gesellschaft verwirklichen usf. –, entstehen damit auch inmitten von Prozessen der Prekarisierung, die nicht nur als im „kapitalistisch verwertbaren Sinne produktiv“ (Lorey 2012, S. 132) gelten müssen. Waren Lefebvres Aneignungsprozesse noch stark an die angenommene Homogenität einer proletarischen Arbeiterklasse im Fordismus geknüpft, so legen urbane Praktiken der Selbstorganisation und Selbstverwaltung heute Wert auf eine nicht-homogene, postmigrantische und transnationale Zusammensetzung. Um Ausbeutungs- und Herrschaftsprozesse entlang verschiedener Linien zu beschreiben, ist dann weniger vom (männlich-weißen) Arbeiter, als von Subalternen die Rede. Die „Potenzialität von Exodus und Konstituierung“, als welche auch die Sorgegemeinschaften einzelner und assoziierter Commons gelten können, widersteht damit „Vorstellungen der Gemeinschaft oder kollektiver Identitätsbildung“ (ebd., S. 133).[3]

3 Vorahmung

Eine Ästhetik des Alltäglichen als Kybernetisierung des Alltags ist vor dem Hintergrund der (gegenwärtigen) Neoliberalisierung und Prekarisierung nur als Vorwegnahme und performative Vorahmung vorstellbar, als Einüben von (auch technologievermittelten) Praktiken andersartiger, gemeinsamer, solidarischer Alltäglichkeit: „Der Mensch wird alltäglich sein oder nicht sein! Er wird alltäglich sein durch Überwindung der heutigen Alltäglichkeit. […] Solange das Alltagsleben nicht radikal anders geworden ist, wird die Welt nicht verändert worden sein“ (Lefebvre 1977, S. 31). Gerade die Kunst sollte Lefebvre zufolge „Strukturen der Verzauberung“ (2016, S. 189) entwickeln.

Die Darstellung eines künftigen Alltags im Commons kann sich nun bildhaft vollziehen, wie etwa filmische Science Fiction eine neue Welt vor den Augen der ZuschauerInnen entstehen lässt. Dies wäre eine Form der vorausdeutenden Darstellung oder Präfiguration, die auch das Theater unternehmen kann, selbst wenn ihm die illusionistischen Mittel (und der Produktionsaufwand) des Kinos fehlen. Darüber hinaus bezweckt jedoch die Vorahmung gerade das Zusammenspiel der Körper sämtlicher PerformerInnen im Raum, in unserem Fall innerhalb der Sets, und nicht zuletzt auch die Wechselwirkungen zwischen Technologie und Körpern.

Der Begriff der Vorahmung wurde indes verschiedentlich verwendet. Jan Assmann etwa beschreibt Vorahmung als eine Art Generalprobe im ägyptischen Totenkult: „Man spielt in der Nacht schon einmal durch, was dann am Morgen öffentlich vollzogen und für immer Bestand haben soll“ (2001, S. 358). Georg Friedrich Jünger beschreibt sie als nicht-darstellende Spielform im Zusammenhang mit dem kindlichen Puppenspiel: „Das Kind ahmt nicht nur nach, sondern auch vor. Es tut in der Gegenwart etwas spielend, was in der Zukunft nicht als Spiel getan wird. […] Das Kind spielt mit der Puppe; es spielt nicht die Puppe“ (1959, S. 41). Ekkehard Schall wiederum zitiert einen Übergang vom nachahmenden zum vorahmenden Spiel mit Hilfe von Bertolt Brechts Aristoteles-Notizen: „[…] an instructive example for the way in which the transformation of artistic forms advances (caused by functional changes within society). the characteristic of imitative representation remains intact, but loses its determining character entirely. because if you call it imitative […] then imitation [Nachahmung] comes after reality, but after imitation, nothing else. In imitation, the process of translation reaches its definitive conclusion. to do justice to modern performance, you would have to call it ‚pre-mitative‘ [Vorahmung]“ (2012, S. 74; Kleinschreibung im Orig.).

Mimetische Kunst, wiederum den Ausführungen Dietmar Kampers (1991) zur Vorahmung folgend, enthält sich der Verdoppelung oder Simulation von Realität und ist als prägende Praktik gekennzeichnet (vgl. S. 86). Ergänzt um Gunther Gebauers und Christoph Wulfs Ausführungen zum Mythos und zum Ritual (vgl. 1998, S. 391), geht es der Vorahmung darum, die Zielsetzungen einer Gruppe von Menschen (positiv) zu beeinflussen.

Performative Vorahmung kann dergestalt mit Präfiguration einhergehen oder auf sie aufbauen, als Andeutung von etwas, was es (so) noch nicht gegeben hat, als sich anbahnende Kulturtechnik, als Versuch, gemeinsam auf das Kommende einzuwirken, als damit einhergehende, körperliche Ausdrucksweisen und Gesten, die in dieser Art und Weise des Zusammenspiels stattfinden könnten, um eine andere Art des Zusammenlebens zu initiieren und zu manifestieren. Vorahmung bedeutet dann, etwas gemeinsam zur Darstellung zu bringen, sich auf andere Lebens-, Wirtschaft- und Vergesellschaftungsformen zu beziehen, als wären diese bereits Realität. In den Prozess der Vorahmung überzugehen bedarf anderer Methoden und Übungssysteme, gesteigerter Aufmerksamkeit und Achtsamkeit in Hinblick auf das Gemeinsame.

Eine Kybernetisierung des Alltags in einer Kultur der Commons ließ sich mittels Präfiguration und Vorahmung nur im Labor (CML) und unter Mitwirkung sämtlicher Beteiligter performativ vollziehen und materialisieren. An der realen Forschungsinsel etwa ließ sich Commoning prototypisch als erfundene, flächendeckende Kultur der Commons erfahrbar machen – eben (nur) unter der Voraussetzung, dass sämtliche Beteiligte als AutorInnen, PerformerInnen, mitwirkende AkteurInnen und ZuschauerInnen präsent waren und der zukünftige Alltag nicht (nur) bildhaft repräsentiert wurde. Die performative Vorahmung zeigte sich damit in der Ausprägung des Zusammen-Werdens selbst.

Das fiktionale Szenario der Theaterinstallation Syntegrity, das die PerformerInnen und ZuschauerInnen in einem Lab der Zukunft situierte, verfuhr hierbei utopisch und dystopisch zugleich, um sich auf eine Welt zu beziehen, die es noch nie gegeben hat. Einmal folgte Syntegrity dem Thema, eine allgemeine Selbstverwaltung im Sinne Lefebvres als weit verbreitete Vernetzung von Commons durchzudenken und durchzuspielen, gerade auch in Hinblick auf die Annahme neuer alltäglicher Praktiken. Des Weiteren wurde das Szenario eines fortgeschrittenen Klimawandels skizziert, um die Notwendigkeit einer qua Regierungsbeschluss zu errichtenden Klimakapsel zu behaupten, welche die allgemeine Selbstverwaltung (von unten) zugleich unterminierte.[4] Mit der dystopischen Brechung des Szenarios entschieden wir uns, nach Diskussionen innerhalb des Workshops über die Einschätzung künftiger Entwicklungen, folglich dafür, die Entwicklung der Commons-Kultur nicht als Allheilmittel zu glorifizieren und die Utopie nicht auszupinseln. Zentraler Aspekt der Vorbereitung der Proben und der Einrichtung der Theaterinstallation war außerdem, in einem Workshop das kybernetische Modell Syntegrity von Stafford Beer (1994) zu diskutieren und Möglichkeiten einer Kybernetisierung des Alltags zunächst einmal von Seiten der Organisations- und Managementtheorie auszuloten. Hier ging es um die Dynamik und Effizienz von Gruppenprozessen, um kollektive Entscheidungsfindung anhand konkreter Beispiele. Zahlreiche WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen des CML, ebenso wie SchauspielerInnen, assoziierte AutorInnen und AktivistInnen nahmen teil und konfrontierten Theorien und Modelle mit alltäglichen Erfahrungen und privaten Problemstellungen. Hier wurde schließlich auch das Skript diskutiert und weiter vervollständigt. Außerdem konnten Präfigurationen einer alltäglichen, sozialen Praxis des Commoning nicht nur mit den Mitteln von Science Fiction und Science Facts beschrieben (oder präfiguriert) werden, sondern in den Sets, die das reale Labor der Theaterinstallation als Forschungsinseln zur Verfügung stellte, auch unmittelbar sinnlich-materiell und immersiv erprobt werden.

4 Syntegrity

Ich werde nun zunächst die gesamte Theaterinstallation Syntegrity als Nebeneinander verschiedener ästhetischer Formate skizzieren und meinen Hauptfokus bereits hier auf Designed Immediacy und The Common Rules richten, jene beiden Inseln, die in unmittelbarem Zusammenhang mit einer Ästhetik des Alltäglichen stehen.

Die Premiere von Syntegrity fand am 08.12.2016 statt. Zu drei Zeitfenstern wurden ca. 40 ZuschauerInnen mit einem Lastenfahrstuhl aus der Eingangshalle der HGK Basel (Abb. 1) ins Lab im dritten Obergeschoss (Abb. 2) befördert. Im Fahrstuhl kündigte ein Performer die Exkursion in das Lab an:

Abb. 1 Fahrstuhl zum Lab. Foto: Samuel Hanselmann
Abb. 1

Fahrstuhl zum Lab. Foto: Samuel Hanselmann

Abb. 2 Das Lab. Foto: Samuel Hanselmann
Abb. 2

Das Lab. Foto: Samuel Hanselmann

Meine Damen und Herren, Sie und ich wissen, dass es keine andere Möglichkeit gab, unser Klima zu schützen, als die Kapsel zu errichten. […] Und da die eine und der andere noch Sorge haben, wie das kooperativ-ökologische Verhalten in den inzwischen unzähligen, selbst verwalteten Nachbarschaftsmodulen, Clustern und Commons, mit den Regierungsbeschlüssen des Kapselbaus selbst übereinstimmt, – sprich, wenn wir alle die berechtigte Frage stellen: Wer organisiert die Selbst-Organisation? Und wie gehen wir als Individuen damit um? – so möchte ich Sie heute einladen, in unserem ‚Lab‘, das von Beginn an federführend war, gerade den Bereich der unmittelbar designten Lebensräume zu inspizieren. (Caviezel u. a., S. 2)

Nun konnten die ZuschauerInnen zunächst um die erste Station, das Set Designed Immediacy herumgehen, das als reale Forschungsinsel innerhalb des CML bereits vorher bestanden hatte. Die ZuschauerInnen sahen einen mit weißen Stoffbahnen abgehängten Kokon, in dessen Inneren die PerformerInnen ihre, via Biofeedback vermittelten, subjektiven Erfahrungen schilderten, die von der computergesteuerten Atmosphäre maßgeblich beeinflusst waren (Abb. 3). Es ging darum, die Kybernetisierung des Alltags auf einfache, immersive Art und Weise erfahrbar zu machen: Die durch Körpersignale gesteuerte Umgebung wurde den PerformerInnen zurückgespielt, sodass die körpereigenen Ursachen wiederum neue Effekte in Form körperlicher Reaktionen zeitigen konnten. So wurde z. B. der eigene Herzschlag in Form eines akustischen Signals zurückgespielt. Ein schnellerer Herzschlag erhöhte auch das Geräuschlevel, was dazu führen konnte, weiteren Stress zu verursachen und den Herzschlag weiter in die Höhe zu treiben usw. Die kybernetische Lesart legte nahe, Biofeedback als eine Verstärkung dessen zu verstehen, was ohnehin bereits vorhanden war. Außerhalb des Kokons sahen die ZuschauerInnen an einer Seite ein Kontrollpult mit einem Computer samt Kontrollbildschirm, dessen Inhalt auch an eine Stellwand projiziert wurde. Hier konnten u. a. Herz- und Atemfrequenz der PerformerInnen live abgelesen werden. Der an die Wand projizierte Bildschirminhalt zeigte außerdem mehrere Grafiken, die als Auswirkungen des Biofeedbacks der PerformerInnen auf die algorithmisierten Effekte Wind, Sound und Licht im inneren des Kokons erkannt werden konnten. Auch die dritte Insel – The Common Rules – konnte auf ein bereits bestehendes Raumelement innerhalb des CML zurückgreifen, eine etwa neun Quadratmeter große Holzkiste mit Schwingtüren zu beiden Seiten. Für die Theaterinstallation gingen nun die drei PerformerInnen, die eben noch die Grundelemente einer Zukunft der Quantified Selves (siehe unten) erfahren und reflektiert hatten, ins Innere der Box und ließen die Türen weit geöffnet, sodass die ZuschauerInnen, die den PerformerInnen von der vorigen Insel folgten, nun wie in einen kleinen Guckkasten schauen konnten (Abb. 4). Hier nun ging es um den Alltag, um Lebensweisen, Gewohnheiten und Hausregeln innerhalb eines großen Nachbarschaftsprojekts. Die Kontrolle der Regeln oblag einer Cyborg, die als „fleischgewordene“ App jederzeit über alle Daten der Commoner verfügen und unter anderem Vorschläge machen konnte, den gemeinsamen ökologischen Fußabdruck weiter zu reduzieren. In diese Szene flossen auch die eingangs erwähnten Erzählungen der zukünftigen Warmbächli-GenossenschafterInnen, die verdichtet und um weitere Alltagserscheinungen ergänzt worden waren.[5] Die vierte Insel trug den Titel Mainframe City 360/50. Der mit dem CML assoziierte Londoner Designer und Autor Nicolas Mortimer schrieb hierfür ein Drehbuch, das als kontrafaktische Dingerzählung bezeichnet werden kann.[6] Hier ging es nun um den britischen Kybernetiker und Organisationstheoretiker Stafford Beer, der u. a. mit einer Figur namens Statistic in Dialog trat. Hintergrund war die von der sozialistischen Regierung Salvador Allende im Chile der 1970er Jahre kollektivierte, zur Selbstverwaltung befähigte und mit Beers Hilfe kybernetisierte Industrie. Die fünfte und letzte Insel war die Lecture Performance Another future: Ontology in Action des Philosophen und Wissenschaftshistorikers Andrew Pickering, der sein wissenschaftskritisches Forschungsfeld unter dem Aspekt Performativität vs. Repräsentation erklärte. Pickering, der Beers Werk in The Cybernetic Brain (2010) dargelegt hatte, referierte vor allem Ansätze der Selbstorganisation in Wissenschaft, Kunst und Politik von den 1960er Jahren bis heute, um kybernetisches Management u. a. mit Tiefenökologie und Taoismus zu verknüpfen.

Abb. 3 Designed Immediacy (mit Inga Eickemeier). Foto: Samuel Hanselmann
Abb. 3

Designed Immediacy (mit Inga Eickemeier). Foto: Samuel Hanselmann

Abb. 4 The Common Rules. Foto: Samuel Hanselmann
Abb. 4

The Common Rules. Foto: Samuel Hanselmann

5 Designed Immediacy

Die drei PerformerInnen hatten sich bereits einige Wochen vor Probenbeginn bereit erklärt, den ForscherInnen und DesignerInnen des CML als Versuchspersonen zu dienen und hinterher Fragen beantwortet, die transkribiert wurden und nicht nur zu Forschungszwecken, sondern nun auch für das Skript verwendet werden konnten:

Es ist mir ja klar, dass hier Daten meines Körpers abgenommen werden und nicht gegen mich verwendet … Diesen Vertrag haben wir ja geschlossen. Und jetzt dieses Mittelding aus einerseits übertechnisiert und Technik zum Verschwinden bringen. Es funktioniert nicht, also ich meine … Ich sehe ja die Technik und ich bin einverstanden. Und der Apparat wird immer unmerklicher und spurloser, während mein Körper ohnehin ein Leben lang Daten generiert, das tut er ja. Und nun spricht mein Körper mit dem System und bekommt eine Antwort, also lasse ich die beiden sprechen, nicht wahr? Und mische mich da nun gar nicht groß ein. Da ist ja auch kein Mensch, der jetzt die Macht hat. Das macht … die Atmosphäre natürlich auch aus. […] Dahinter ist die Apparatur, die man aber nicht begreifen kann, und das finde ich nicht angenehm. Wie soll ich das jemandem erklären, der es nicht kennt? Mithilfe meines Pulsschlages, meines Atems, also mithilfe der Apparatur Daten transferieren, und daraus abzulesen, wie man am effizientesten wohnen kann vielleicht oder effizient im Sinne von ökologisch am wertvollsten. So etwas vielleicht. Weiß ich nicht genau. Bin seltsam auf mich selbst zurückgeworfen. Die Autoreflexion wird geschärft. […] Kann ich das System überhaupt austricksen? Vielleicht mache ich genau das, was es will? Bin ich König oder … sozusagen die Kaninchenratte? Vielleicht müssen wir uns kennenlernen, wir beide, ja, darum geht es wahrscheinlich, dass wir eins sind oder werden. Ist wahrscheinlich wirklich Quatsch, eine Gegenenergie, die gibt es nicht. (Caviezel u. a. 2015, S. 4f.).

Nachdem die transkribierten Antworten vorlagen, wurden im Workshop technologische Entwicklungen wie Internet of Things, Ubiquitous Computing sowie Biofeedback erörtert und hinsichtlich einer möglichen Verwendung im künftigen Alltag der Commoners diskutiert. Was bedeutet es, körpereigene Signale als Biofeedback einzusetzen, um die selbstgesteckten Ziele des Commons (besser) zu erreichen? Wie steht es um mein Wärme- und Kälteempfinden? Wie trägt die unmittelbare Atmosphäre zu meinem Wohlbefinden bei? Welche körpereigenen Informationen gälte es in ein System einzuspeisen, dessen Rechenoperationen Effekte auf den menschlichen Sinnesapparat zurückspielen würden? Wie könnte ein dergestalt kybernetisierter Alltag den eigenen Kreislauf, körpereigene Bedürfnisse usw. unterstützen, ohne beispielsweise via Biofeedback zurückgespielte Stresssymptome als Ursachen für weiteren Stress erscheinen zu lassen? Wer würde die Algorithmen programmieren, wer die Kontrolleure kontrollieren?

Das Gegenwartsphänomen, das beschreibt, wie das eigene, individuelle Wohlbefinden oder die Leistung im Alltag mithilfe von persönlichen Daten (z. B. via Biofeedback) gesteigert werden kann, nennt sich Quantified Self oder Self Tracking. Darin steckt die gesamte Ambiguität der neoliberalen Selbstregierung oder biopolitischen Gouvernementalität, die ich weiter oben skizziert habe. Für die Commoners der Zukunft sollte es deshalb darum gehen, die Kybernetisierung des Alltags als Designed Immediacy zu reflektieren und als performative Medienkritik zu affirmieren. Folgender spekulativer Gedanke war für die Erfahrung der Immersion, (hier) dem Abtauchen in eine durch den eigenen Organismus via Biofeedback (mit)gestalteten Atmosphäre entscheidend: Gesetzt Commoning bezeichnete nicht nur die Selbstverwaltung und nachhaltige Pflege der gemeinsamen Ressourcen, sondern in Zukunft auch die allgemeinen Richtlinien einer selbst gegebenen Verfassung der Commons (als Kultur der Commons), die sich nur technologieinduziert erfüllen ließen, dann würde Quantified Selves zur kollektiven Praxis der Commoners geworden sein. Doch wie könnte die Datenerfassung und -verwertung mit dem individuellen Freiheitsempfinden in Einklang gebracht werden? Die Möglichkeit einer drastischen Reduzierung des kollektiven ökologischen Fußabdrucks im Commons, dem Modell nach etwa das der sogenannten 1000-Watt-Gesellschaft – so diskutierten wir während des Workshops u. a. mit AktivistInnen des Vereins Neustart Schweiz – könnte dann mittels Datenerfassung der einzelnen GenossenschafterInnen auch besser zu bewerkstelligen sein. Technologien wie Biofeedback erzeugen hierbei primär keine bildbasierten, künstlichen Welten mehr, sondern verändern unseren gewohnten Lebensraum, in dem sie zunehmend verschwinden. In Alltagsgegenständen und -umgebungen verbergen sich inzwischen intelligente und responsive Technologien, die unser Umwelterleben zwar nachhaltig, aber oft kaum merklich verändern. Responsive Umgebungen und Atmosphären werden auch für künftige Nachbarschaftsprojekte immer interessanter werden und sich komplementär zu konventionellen, alltäglichen Kulturtechniken entwickeln, so schlussfolgerten wir. In die Aufhebung des entfremdeten Alltags (Lefebvre) würde sich zugleich die Erfahrung der technologievermittelten Immersion schleichen.

Diese Form der alltäglichen Immersion galt es nun innerhalb der Insel Designed Immediacy zu reflektieren und performativ produktiv zu machen, indem die PerformerInnen bei der Aufführung selbst in Biofeedback-Kreisläufen begriffen waren und die Umgebung folglich veränderten. Ihre somatischen Signale, Herzschlag, Bewegungsintensität und Atemfrequenz wirkten nun auf die Steuerung der medialen Elemente des Raums ein, Licht, Luftbewegung und Sound. Die Texte, die gesprochen wurden, gaben einen Eindruck der ersten, unmittelbaren Berührung mit der immersiven Atmosphäre wieder. Einzelne ZuschauerInnen schoben während der Aufführungen die Stoffbahnen des Kokons beiseite, um die PerformerInnen sehen zu können, deren Stimmen man auch über Lautsprecher hören konnte. Es befanden sich zwei Performerinnen im Inneren, von denen eine über einen Brust- und Bauchgürtel sowie einen Fingerhut an die Biofeedback-Apparatur angeschlossen war. Diese bewegte sich im Raum, um die immersive Erfahrung eines Biofeedback-Loops zu machen, während die andere das Skript ablas, das größtenteils aus den O-Tönen der Versuchspersonen bestand, die nur leicht umgestellt oder verändert worden waren. Außerhalb des Kokons saßen während der Aufführungen auch die realen ForscherInnen sowie der Programmierer am Rechner, der auf die Biofeedback-Kreisläufe unmittelbar einwirken konnte, wenn etwas außer Kontrolle geriet. Designed Immediacy war also während der Theaterinstallation dergestalt auch immer noch als Forschungsprojekt präsent. In den Worten der auch während der Performance anwesenden Medienwissenschaftlerin Christiane Heibach (2016) war der zu untersuchende „immersive Charakter […] einerseits Resultat von Designprozessen, andererseits emergiert er aber auch ad hoc aus der Mensch-Raum-Technologie-Beziehung. Daher lassen sich unseres Erachtens daraus Rückschlüsse auf die Gestaltung und Wirkung zukünftiger, technisch vernetzter Alltagsumgebungen ziehen. Damit einher wiederum geht eine Re-Definition des Begriffs der Immersion, der sich nun auch auf die Konstituierung realer Räume und deren Erleben zu beziehen hat und der damit zu einem entscheidenden kritischen Schlüsselbegriff für die Bedingungen technologischer Realitätsformierung werden könnte“.

6 The Common Rules

Eine alternativökonomische Einheit wie ein Commons als Form des Oikos, des kollektiven Haushaltens, reiht sich in eine Tradition alternativer Stadtmodelle ein und findet auch Anklang an gegenwärtige Kämpfe der Recht-auf-Stadt-Bewegung (vgl. Boeing 2015). Stadt-in-der-Stadt-Modelle gehen auf frühsozialistische Utopien zurück, unter anderem die eines Charles Fourier, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vergeblich versuchte, Geldgeber für seinen Entwurf einer Phalanstère zu finden. Wunderschlössern gleich sollte diese Wohn-, Lebens- und Arbeitsräume für etwa 1.800 Bewohner bieten. Auch im 20. Jahrhundert ging es darum, dem Modell der staatlichen Zwangskollektivierung Orte der Selbstverwaltung entgegenzusetzen. Lefebvre (1968) formulierte das Recht auf Stadt als „das Recht auf Freiheit, auf Individualisierung in der Vergesellschaftung, auf das Wohngebiet und das Wohnen. Das Recht auf das Werk (auf mitwirkende Tätigkeit) und das Recht auf Aneignung (klar zu unterscheiden vom Recht auf Eigentum) bringen sich in dieses Recht auf Stadt mit ein“ (S. 189). The Common Rules (Abb. 4) sollte diese Form der kollektiven Aneignung urbanen Lebens unter den Prämissen Degrowth und Ökoeffektivität nun innerhalb einer Szene fassen, die den Alltag der Commoners zum Gegenstand machte. Die responsiven Technologien, deren Grundbausteine in der vorigen Insel beschrieben und eingesetzt wurden, fügten sich nun zu einer größeren Erzählung zusammen. Wie ließe sich der Alltag der Commoners, die ihre persönlichen Daten jederzeit zur Verfügung stellten, darstellen oder besser: vorahmen? Wie könnte man sich die Vernetzung selbstverwalteter Einheiten in größerem Maßstab vorstellen, in der alltäglichen Wahrnehmung der GenossenschafterInnen? Und wie würde sich Ernährungssouveränität im Alltag abbilden? Wie ließen sich nicht nur Produktion und Konsumption durch solidarisches Wirtschaften flächendeckend anders gestalten (Supply Chain), sondern auch Abfälle und verschwendete Materialien in eine unendliche Zirkulation einbeziehen (Removal Chain)? Der Dialog zwischen Commoners und Cyborg versprachlichte nun die Schwierigkeiten eines kybernetisierten Alltags, indem die um künstliche Intelligenz und Rechenkapazitäten erweiterte Cyborg die MitbewohnerInnen des Commons jederzeit darüber aufklärte, welches Konsumverhalten z. B. im Sinne des Kollektivs nützlich und nachhaltig war und welches nicht. Die Reaktionen der Commoners auf die informierenden und reglementierenden Aussagen der Cyborg fielen dabei nicht immer positiv auf. Sarkasmus und Ironie wurden als Abwehrhaltung gegenüber einem kybernetisierten Alltag kenntlich sowie die Schwierigkeiten des alltäglichen Nebeneinanders von menschlichen und künstlichen Intelligenzen. Hierbei konnte auch das Forschungsprojekt Times of Waste u. a. der Anthropologin Flavia Caviezel und der Kunst- und Medientheoretikerin Yvonne Volkart in den Dialog einbezogen werden. Das Tracking von Abfallprodukten zur Wiederverwertung und zugunsten größerer Transparenz wurde hier als weiteres Beispiel einer Kybernetisierung des Alltags offensichtlich. In der Figur der Cyborg nun waren Hardware und Software, welche in Designed Immediacy noch in Form eines außerhalb des Kokons sichtbaren Kontrollrechners ausgewiesen waren, internalisiert. Die Szene, die sich später im gebauten Set innerhalb des CML abspielte, gestaltete sich wie folgt: Zwei PerformerInnen vertraten die Commoners und spielten mit der Cyborg auf einem i-Pad zunächst ein Kartenspiel, während alltägliche Dinge wie Temperaturregelung im Privatraum, Sitzgewohnheiten und Nahrungsaufnahme im Gemeinschaftsraum, gegenseitige Hilfe im Krankheitsfall, die Situation in den anderen, assoziierten Commons u. a. zur Sprache gebracht wurden. Die Cyborg hatte hier die Funktion einer Kommentatorin, die nicht nur den beiden Commoners, sondern auch dem Publikum Informationen zukommen lassen und Fragen an die Selbstverwaltung im Alltag stellen konnte.

Die Recherchen zu Syntegrity hatten mit der Grundfrage begonnen, wie das alltägliche Zusammenleben in selbstverwalteten, flächendeckend vernetzten Commons in Zukunft aussehen könnte. Hierfür hatte ich einige InitiatorInnen von Nachbarschaftsprojekten wie Kalkbreite und Kraftwerk in Zürich, Lena in Basel und Warmbächli in Bern kontaktiert und befragt. Warmbächli legte seinen Grundstein bekanntlich auf dem Gelände einer ehemaligen Kehrrichtverbrennungsanlage. Die Präfiguration am Ende der Szene, mit der ich nun den Versuch der Beschreibung einer Kybernetisierung des Alltags anhand der Theaterinstallation Syntegrity beschließen möchte, wurde von der Cyborg auf einer realen, inzwischen stillgelegten Basler Mülldeponie verortet: „Dieser Chip, der meinen Geruchssinn ausmacht, stammt ursprünglich aus deinem Mobiltelefon. Removal Chain: Zuerst landete dein Mobiltelefon, das du voriges Jahr weggegeben hast, in der Müllkapsel Kölliken, wurde dann nach Ägypten verschifft, von dort aus in den Sudan gebracht […]. Ein Removal- Team konnte darauf wieder verwertbare Teile zu Geruchs-Chips umbauen, die vorigen Monat zum ersten Mal eingesetzt werden konnten“ (Caviezel u. a. 2015, S. 9). Die MitbewohnerInnen hatten die Cyborg aufgefordert, beim Essen nicht ungefragt mit Informationen über die Inhaltsstoffe der Mahlzeit belästigt zu werden. Daraufhin entfernte die Cyborg eine technische Komponente aus ihrer Nase, die sich als Geruchschip herausstellen sollte. So zeigte die Szene auf groteske Weise, wie die Kybernetisierung des Alltags für einen Moment unterbrochen werden konnte.

7 Schluss

In der Hauptsache waren Designed Immediacy und The Common Rules die beiden Stationen der Theaterinstallation Syntegrity, welche die performative Vorahmung eines kybernetisieren Alltags zum Ziel hatten. Dies gelang durch das Zusammenspiel aus SchauspielerInnen, WissenschaftlerInnen, ExpertInnen, AktivistInnen sowie weiteren Beteiligten, die sämtlich Teil der Performance wurden sowie ihren Beitrag zum Skript leisteten. Das reale Lab schuf dabei die materiellen Bedingungen, um die Präfiguration und Vorahmung zukünftigen Alltags überhaupt zu ermöglichen. Etwaige Schwierigkeiten der darstellenden Künste, auf der Bühne Science Fiction aufzuführen, konnten durch die räumlichen Voraussetzungen und die Transformation der realen Forschungsprojekte und -sets in die installative Ästhetik überwunden werden. Da es ohnehin nie um Illusionismus in der Darstellung einer Kultur der Commons ging, konnten die vorgefundenen Sets als Stationen bespielt werden, die viel Raum für die sich frei bewegenden ZuschauerInnen ließen. Im vorgefundenen Raum konnte die Vorwegnahme einer Kultur der Commons laborhaft erprobt werden.

Wenn die Präfiguration mehr das Sagbare und Anschauliche eines skizzierten, künftigen Alltagsszenarios meinte, indem etwa Informationen und technologisches Wissen in den Dialog einfließen konnten, sich die Anbahnung einer neuen Kulturtechnik im darstellenden Spiel andeutete und das Bild eines anderen Alltags entstehen konnte, so war die Vorahmung eben das Zusammenspiel der Körper sämtlicher PerformerInnen im Raum, das Erforschen, Einüben und Wiederholen anderer Alltagspraktiken, die gegenüber dem Verlernen alter Gesten, räumlicher Beziehungen und Kontaktaufnahmen für Mitwirkende wie ZuschauerInnen als prägend bezeichnet werden konnten. Die Assemblage und Verschränkung aus Mensch, Maschine/ Technologie und räumlicher Umgebung konnte damit den kybernetisierten Alltag einer Kultur der Commons performativ (und nur performativ) erscheinen lassen.

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Published Online: 2017-11-24
Published in Print: 2017-11-27

© 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/para-2017-0025/html
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