Rezensierte Publikation:
Tjønneland, Eivind 2022. „Abnorme“ kvinner. Henrik Ibsen og Dekadensen. Oslo: Vidarforlaget.
Eine gutgekleidete Frau, der bürgerliche Salon im Hintergrund, in der Hand die nach vorn gerichtete Pistole – schon das Umschlagsbild, das Betty Nansen in der Rolle der Hedda Gabler zeigt, führt das Thema des Buches überzeugend ein: die Frauenfiguren in den Dramen Henrik Ibsens, die nach wie vor schillernd, faszinierend und rätselhaft sind. Die Untersuchung widmet sich dabei nicht der literaturwissenschaftlichen Analyse der Dramentexte selbst, sondern vielmehr der Rezeption der Frauenfiguren Ende des 19. Jahrhunderts. Aufgezeigt werden soll, wie diese geprägt wurde durch den Ideenhorizont der eigenen Zeit, in diesem Fall der Debatte um die Dekadenz und, damit verbunden, auch um die Rolle und Bedeutung von Literatur im gesellschaftlichen Diskurs. Der Autor konzentriert sich im Wesentlichen auf einen Zeitraum von 1886–1896, in dem die Diskussion um Dekadenz, Degeneration und das Abnorme die Literaturkritik der führenden Zeitungen Norwegens prägte, was sich wesentlich an den Frauenfiguren Ibsens entzündete und wiederum auf die Wahrnehmung derselben zurückschlug.
Besonderes an der vorliegenden Untersuchung ist dabei, dass der Autor keine feststehenden Konzepte an das historische Material heranträgt, sondern versucht, aus diesem selbst heraus zu konstruieren, mit welchen Ideen und Assoziationen der Dekadenz-Begriff verknüpft wurde, wie sich die Vorstellungen von Dekadenz herausbildeten und welche Bezüge sie im Kontext einer internationalen Ideengeschichte aufwiesen. Ziel sei es, „den Dekadenzbegriff durch die Worte und Vorstellungen zu untersuchen, die in der Öffentlichkeit damit assoziiert sind mit besonderem Hinblick auf Ibsens Frauenfiguren.“ (S. 236, meine Übersetzung) Eine Grundthese des Buches ist, dass die Debatte um Ibsens Frauenfiguren ohne den Dekadenzbegriff nicht zu verstehen ist. Es geht dem Autor also nicht in erster Linie um die Rekonstruktion einer literaturhistorischen Strömung, sondern vielmehr um eine Skizze des „Assoziationsnetzes“, das Ibsens Texte umgab, das sich in bestimmten Konstellationen verdichtete und in dem die Dramen wirkten. Auch die Untersuchung selbst lässt sich in ihrer Vorgehensweise als assoziativ und vernetzend beschreiben: Sie bewegt sich sehr eng und chronologisch an ihrem Material, im Wesentlichen einzelnen Zeitungsartikeln, entlang. Dieses wird einerseits auf die Fragestellung hin analysiert, andererseits werden immer wieder Bezüge zu anderen zeitgenössischen Ideenimpulsen und Debatten hin aufgemacht, so dass eine Vorstellung des ideengeschichtlichen Horizonts herausgearbeitet wird, in dem die Rezeption von Ibsens Frauenfiguren stattfand.
Die Einleitung führt zunächst in die Begriffsfelder ein und zeichnet den zeitlichen Rahmen der Debatte um die dekadenten Frauenfiguren Ibsens nach, die mit Rosmersholm begann, mit Hedda Gabler ihren Höhepunkt erreicht und in den 90er Jahren wieder abebbte. Deutlich wird hier, dass die Zuschreibungen des „Dekadenten“ und „Abnormen“ zunächst Abwehrmechanismen waren, mit denen die Literaturkritik ein Interesse der neueren Literatur an ungewöhnlichen Seelenzuständen und Psychologie pauschal abwertete, statt sich um Verständnis zu bemühen. Es zeigt sich, wie eng die Literaturkritik mit den Diskursen ihrer Zeit verflochten war, in denen sie um die eigene Deutungshoheit kämpfte. Das erste Kapitel widmet sich der Debatte um dekadente Frauenfiguren. Hier bildet der Artikel „Om kvindesagen“ von Laura Marholm, der 1890 in Samtiden veröffentlicht wurde, zuvor bereits auf Deutsch in der Zeitschrift Freie Bühne, den Ausgangspunkt. Dieser veränderte, so der Autor, die Diskussion um Ibsens Frauenfiguren, indem Marholm Typisierungen von Frauenfiguren vornahm und Aspekte der weiblichen Emanzipation, in Anschluss an Strindberg, mit dem Begriff der „Entartung“ in Verbindung brachte. Dies wird im weiteren Verlauf des Kapitels vom Autor verknüpft mit den Diskursen um Primitivismus, Atavismus und Individualisierung. In Kapitel 3 wird diese Nachzeichnung des Diskurses auf die Rezeption von Hedda Gabler bezogen. Die Zeitungsartikel, die das Stück besprachen, bilden das Ausgangsmaterial, welches durch Bezüge zur Diskussion um die Femme fatale und die Boheme ergänzt wird. Kapitel 4 zeichnet wiederum eher größere Zeitkontexte nach, so die Diskussion um einen Artikel von Gustave Le Bon, 1891 in Samtiden veröffentlicht, der darin die Ausbildung von Frauen als mit ihrer Natur unvereinbar erklärte, was wiederum zu Abnormität führe. Kritische Reaktionen darauf gab es von Seiten der Frauenbewegung, untersucht werden von Tjønneland die Beiträge von Ragna Nielsen und Anna Bugge Wicksell. Weiterhin geht der Autor auf die Rezeption von Friedrich Nietzsche in Norwegen ein, die nach einem Artikel von Arne Garborg in Samtiden 1890 begann. Tjønneland sieht Hilde Wangel in Byggmester Solness als inspiriert von Nietzsches Ideen, die Untersuchung der Rezeption von Hilde Wangel schlieβt sich in Kapitel 5 an. Diese fiel, so der Autor, schon etwas gemäßigter aus als jene zu Hedda, weil, so Tjønneland, das neue Interesse am Seelenleben in den zwei Jahren seit dem Erscheinen von Hedda Gabler bereits Raum gewonnen hatte. Der internationale Erfolg des Stücks Hedda Gabler löste allerdings wiederum eine Debatte aus, die in Kapitel 6 behandelt wird, ausgehend von einem Pamphlet von N. Hertzberg Er Ibsens Kvinne-Typer norske?, in dem er Ibsens Frauenfiguren als „unnorwegisch“ bezeichnete. Tjønneland veknüpft seine Analyse hier mit der Debatte um Fiktionalisierungen und den Bezügen zwischen Text und gesellschaftlicher Realität. So zeigt er auf, dass die Boheme in der Realität weitgehend aufgelöst war, ihr Ideengut aber als Impuls und als diffamierender Begriff in der Literaturkritik weiterlebte. In Kapitel 7 wird die Debatte in Norwegen weiter in den Blick genommen, nun erneut angestoβen von Christen Collin, der einen idealistischen Literaturbegriff vertrat und die Schilderung des „Abnormen“ in der Literatur ablehnte, die vielmehr bestimmte Werte vertreten und fördern sollte. Diese Diskussion prägte wiederum die Rezeption der Figur Rita in Lille Eyolf, die in Kapitel 8 dargestellt wird. Deutlich wird hier aber, dass die Polarisierung um Ibsens Frauenfiguren in der Presse abgeebbt war. Den Abschluss bildet in Kapitel 9 die Untersuchung eines Aufrufs im Dezember 1896, in dem 25 Schulvorsteher, Pfarrer, Professoren und Unternehmer der Literaturkritik selbst vorwarfen, dekadent zu sein und sich von den Schriftstellern beeinflussen zu lassen, was Tjønneland in seiner Darstellung mit einem Exkurs zur Sittlichkeitsdebatte verknüpft. Insgesamt hatten der Begriff und die Debatte um die Dekadenz Ibsens sowie die moralische Kritik an seinen Stücken aber an Kraft verloren, wie sich anhand der Rezeption von John Gabriel Borkman abschlieβend zeigt. In einem Epilog, reflektiert Tjønneland dann noch einmal seine Ergebnisse und stellt deren Relevanz für die Forschungsdebatte dar. Deutlich wird somit eine Bewegung des Buches, die die zeitgenössische Debatte chronologisch verfolgt, um sie dann jeweils auf die Rezeption der Frauenfiguren von Ibsen und sein Schaffen zu beziehen. Sichtbar wird dabei, wie sehr der jeweilige Ideenhorizont einer Zeit die Rezeption von Texten und Figuren prägt, was mit Sicherheit auch für die aktuelle akademische Diskussion um Ibsens Texte gilt.
Aus der groβen Stärke der Untersuchung, sehr vielfältige Bezüge aufzuzeigen und miteinander zu verbinden, ergeben sich zugleich einige kritische Anmerkungen. So macht es der assoziative Stil nicht immer leicht, sich in der Untersuchung und der Debatte zu orientieren. Es erscheint problematisch, dass die Untersuchung dem zeitgenössischen Material und der eigenen vernetzenden Methode teilweise zu eng verpflichtet bleibt. So wäre es insbesondere in den Eingangskapiteln hilfreich gewesen, bestimmte Begrifflichkeiten, das methodische Vorgehen und den aktuellen Forschungskontext noch einmal eingehender und systematischer zu diskutieren. Aus meiner Sicht wird nicht wirklich deutlich, wie Begriffe wie Dekadenz, Degeneration und das Abnorme genau verbunden sind. In Bezug auf sein Material bemerkt der Autor oft, dass die Begriffe von den Autor*innen selbst gar nicht genannt werden, sich aber dennoch im Assoziationsfeld derselben bewegen. Einerseits erscheint dies plausibel und gewinnbringend, um ein bestimmtes „Klima“ der zeitgenössischen Debatte aufzuzeigen. An einigen Stellen wirken die Verknüpfungen aber auch subjektiv und sehr vage, es wird nicht immer ganz deutlich, warum bestimmte Bezüge aufgemacht werden und andere nicht, welche relevanten Verknüpfungen es gegebenenfalls noch gegeben hätte. Auch Bezüge zur aktuelleren Forschung werden in der Untersuchung zu schnell aufgegeben. Dies betrifft insbesondere die neuere literaturwissenschaftliche Forschung zu Ibsen, gerade zu Geschlechterkonstellationen, die kaum erwähnt wird. Ebenso wird auch Foucaults Bedeutung für die Thematik eingangs kurz dargestellt, als methodischer Referenzpunkt wird die Diskursanalyse aber letztlich nicht in die Untersuchung eingebunden. Aus Sicht des Autors eigne sie sich nur bedingt für die Untersuchung einer öffentlichen Debatte, da diese auch in den Vorlesungen Foucaults zum Abnormen keine Rolle spiele, was jedoch als Begründung nicht wirklich ausreicht. So stellt sich die Frage, ob ein noch differenzierterer Blick auf den theoretischen Rahmen und von aktuelleren Debatten aus auf das zeitgenössische Material nicht noch einmal tiefergehende und andere Zusammenhänge hätte erschlieβen können.
Trotz dieser kritischen Überlegungen, ergänzt diese wirklich sehr verdienstvolle und interessante Untersuchung die Forschung zu Ibsen in sehr wichtiger Weise. Sie schreibt, dies wird als Anspruch auch deutlich formuliert, gegen eine idealisierte Literaturgeschichte an, die oft im Nachhinein konstruiert wird. Demgegenüber versucht sie, die Dynamik und Lebendigkeit der zeitgenössischen Rezeption einzufangen, was ihr in hervorragender Weise gelingt. Deutlich wird dabei, dass die Auseinandersetzung mit Texten innerhalb der Literaturwissenschaft ergänzt werden kann durch die Assoziationen, die sich auβerhalb akademischer Zusammenhänge mit Figuren und Texten verknüpfen, mit einem öffentlichen Lesen, das sich in anderen Kontexten bewegt und andere Ideenfelder einspielt – so wie es die Literaturkritik um Ibsens Dramen zeigt. Damit lässt sich hier eine Brücke zu neueren Ansätzen der Literaturtheorie, so etwa den postkritischen Zugängen von Toril Moi und Rita Felski, schlagen. Interessant wäre es, diesen Ansatz noch auszuweiten und weitere gesellschaftliche Akteure, z.B. die Frauenbewegung und ihre Lektüren von Ibsen, genauer in den Blick zu nehmen. Dies würde den literaturwissenschaftlichen Blick auf die Texte um ihre öffentlichen Rezeptionen ergänzen und könnte Anlass zu spannenden, neuen Diskussionen geben.
© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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- Special Issue Articles
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- The Don Juan flâneur in Copenhagen. A reading of Søren Kierkegaard’s Forførerens Dagbog
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- Eine Runeninschrift im Kloster Eldena bei Greifswald
- The City as an Uncanny Stage
- Chronotopes of the Anthropocene: Time and Space in Charlotte Weitze’s Den afskyelige and in Christian Byskov’s Græsset
- Exploring Ways to Intensify Verbs in Swedish
- Akkusativ med infinitiv og akkusativ med presens partisipp i Ludvig Holbergs forfatterskap
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