Rezensierte Publikation:
Drechsler, Stefan 2021. Illuminated Manuscript Production in Medieval Iceland. Literary and Artistic Activities of the Monastery at Helgafell in the Fourteenth Century. Turnhout: Brepols.
Im Zentrum von Stefan Drechslers Untersuchung steht die Gruppe der sog. Helgafell-Handschriften, deren Entstehung in Verbindung mit dem gleichnamigen Kloster auf der Halbinsel Snæfellsnes gebracht wird. Der Autor schließt sich im Wesentlichen der bisherigen Einschätzung an, die betreffenden Handschriften seien vornehmlich auf die Tätigkeit zweier Hauptschreiber, mehrerer weiterer Schreiber und Illuminatoren zurückzuführen. Bereits in der Einleitung erklärt Drechsler, im Gegensatz zur bisherigen Ansicht gehe er nicht davon aus, dass die Schreiber kontinuierlich in Helgafell gearbeitet hätten. Vielmehr sei nur einer der beiden Hauptschreiber dort ansässig gewesen, während der andere zwar in Verbindung mit dem Kloster und anderen Schreibern stand, aber eher in der näheren Umgebung, vielleicht auf dem Hof Skarð, seine Tätigkeit ausgeübt habe. Darüber hinaus nimmt er eine weitere „Werkstatt“ zur Buchproduktion an, die ebenfalls in dieser Region bestanden haben müsse (S. 25, 33). Als Illuminatoren sollen hauptsächlich drei Personen gewirkt haben, vier darüber hinaus in geringerem Umfang. Auch einige dieser seien außerhalb des Klosters ausgebildet worden und hätten nur zeitweise zur Ausführung der Buchmalereien im Skriptorium von Helgafell gearbeitet (S. 31).
Die Arbeitsumgebung in Helgafell sieht Drechsler als besonders kreativ und weniger abgeschlossen oder sogar isoliert an als die in vielen Skriptorien auf dem Kontinent. Die für die Buchmalerei Verantwortlichen verfügten seiner Meinung nach über solide Kenntnisse der Texte, die sie illuminierten. Zudem hätten ihnen in Helgafell viele Zeichenbücher und Vorlagen unterschiedlicher Herkunft zur Verfügung gestanden. Einflüsse auf die Buchmalerei der Helgafell-Gruppe sieht Drechsler insbesondere aus drei Richtungen: Westnorwegen, East-Anglia und Nordfrankreich (S. 31f).
Bevor Drechsler sich in Kapitel 4 genauer mit diesen Verbindungen und Einflüssen beschäftigt, gibt er in Kapitel 1 einen kurzen Überblick über die isländische Handschriftenkultur und behandelt in Kapitel 2 die Geschichte des Klosters Helgafell und dessen Rolle in der Buchproduktion v. a. im 14. Jahrhundert. Kapitel 3, das umfangreichste des Buches, enthält eine eingehende Beschreibung der sechzehn Handschriften der Helgafell-Gruppe, sowohl was deren Aufbau und Inhalt, aber eben auch deren bildliche Ausgestaltung anbelangt. Viele dieser Handschriften enthalten Gesetzestexte (u. a. die Jónsbók) oder Texte religiösen Inhalts (Bischofssagas, Heiligensagas, Stjórn). So gehören zu dieser Gruppe auch die Stjórn-Handschrift AM 226 fol, die Skarðsbók Jónsbókar (AM 350 fol) und der für die Überlieferung von Apostelsagas wichtige Codex Scardensis (SÁM 1).
Positiv ins Auge fallen die zahlreichen, zum Teil farbigen Bilder, die in diesem Kapitel enthalten sind. Sie vermitteln einen guten Eindruck der Illuminationen und sind essentiell, um den Erklärungen Drechslers zu Beziehungen der einzelnen Zeugnisse zueinander, zu Parallelen, Unterschieden und Entwicklungen in der künstlerischen Ausgestaltung folgen zu können. Beigegeben sind dem Text in diesem und anderen Kapiteln außerdem zahlreiche Tabellen, in denen z. B. Informationen zu den Handschriften (nicht nur der Helgafell-Gruppe) zusammengestellt sind; neben Angaben zu Umfang, Inhalt und Datierung werden darin auch die vermuteten Schreiber und Illuminatoren der einzelnen Teile der Handschriften genannt. Stefan Drechsler tut so sein Möglichstes, um dem Leser eine übersichtliche Präsentation seines Themas zu liefern. Dass es dennoch herausfordernd sein kann, den Argumentationslinien und Schlüssen des Autors zu folgen, liegt daher weniger an der Art der Darstellung als an der Vielzahl der zu berücksichtigenden Handschriften und der beteiligten Schreiber und Illuminatoren, die für den weniger in die Materie eingearbeiteten Leser ein nicht immer leicht nachzuverfolgendes Beziehungsgeflecht ausbilden.
Geschmälert wird die Qualität des Kapitels ein wenig durch die beigegebenen Abschriften einzelner Passagen aus den Handschriften. Notwendig sind sie für Drechsler, um die Text-Bild-Beziehungen, die für nicht wenige Zeugnisse der Helgafell-Gruppe charakteristisch sind, vor Augen zu führen. In einige dieser Abschriften haben sich leider Fehler eingeschlichen, die auf ungenaues Lesen des norrönen Texts oder falsche Auflösung von Abkürzungen zurückzuführen sind, vgl. etwa: „þetta feandans dreingr skal eigi lifa leingr. vera þíg fyrir Guds skylld“ (S. 142, aus GKS 3269 b 4to, 7v). Auch wenn die Worte in der Handschrift schwer zu lesen sind, kann „þetta“ nicht richtig sein, da es als Neutrum grammatikalisch nicht zum Maskulinum „dreingr“ passt. Auch das „vera“ kann angezweifelt werden, möglicherweise steht dort „vara“. Die englische Übersetzung, insbesondere deren zweiter Teil, „[y]ou shall be in God’s hands“, erscheint als reichlich freie Wiedergabe. Anführen lassen sich auch z. B. folgende Passagen: „með hann uar þeir hermenn er vapnum matti vaffria. ok setti sinum herbuðir i galaath“ (S. 113, aus AM 226 fol, 93va), für das „með huert þat barn er vapnum matti vallda. ok setti sinar herbuðir i galaath“ zu lesen ist, oder „her heft upp ok segir fra helthana“ statt „her hefr upp ok segir fra helchana“, „i þvi heradi aa gydínga landi er heit sophim“ für „i þvi heradi aa gydínga landi er heitir sophim“ (S. 107, aus AM 226 fol, 79rb). Auch an dieser Stelle fällt eine fehlerhafte Übersetzung auf: „[hann] atti íj. konur i senn“ wird mit „[he] had two wives of his own“ wiedergegeben, bedeutet aber „er hatte zwei Frauen gleichzeitig“. Weitere Beispiele ließen sich nennen.
Kapitel 4 richtet den Blick, wie bereits erwähnt, auf die Einflüsse aus Frankreich, England und Norwegen auf die Buchmalerei der Helgafell-Gruppe. Auch hier sind dankenswerterweise viele Bilder aus ausländischen Handschriften beigegeben. Ob man sich (wie im vorhergehenden Kapitel) den Ausführungen zu Ähnlichkeiten und Vorbildern immer ganz anschließen kann, soll hier dahingestellt bleiben und unterliegt z. T. auch subjektiver Einschätzung. Interessant ist die direkte Gegenüberstellung von isländischer Buchmalerei und die anderer Länder in jedem Fall. Drechsler kommt hier zu dem Ergebnis, dass isländische Illuminatoren im 14. Jahrhundert zum Teil noch Ornamente und Darstellungsformen nutzten, die im Ausland bereits durch andere abgelöst worden waren. Maßgeblich zum buchmalerischen Austausch werden die bereits im 13. Jahrhundert etablierten Beziehungen des norwegischen Königshofs zum Ausland (Frankreich und England) beigetragen haben, nach Island bzw. konkret nach Helgafell vermittelt wurden Kenntnisse und Vorbilder wohl v. a. über Bergen.
Der zunehmende Wohlstand des Klosters Helgafell führte im 14. Jahrhundert zu vermehrter Buchproduktion. Dies wiederum setzt Drechsler in Verbindung damit, dass nicht nur im Kloster selbst, sondern auch in Skriptorien in der Nachbarschaft Handschriften hergestellt wurden, wohl in Skarð und einem weiteren Ort. Kapitel 5 dient der Untermauerung dieser These; dargestellt wird, wie die Handschriften, die zur Helgafell-Gruppe gehören, und diejenigen, die als „external“ qualifiziert werden, aus textueller, paläografischer und buchmalerischer Perspektive zueinander stehen. Punktuell sind Ungenauigkeiten zu bemerken, etwa im Umgang mit dem Begriff „Maríu saga“. Ungers in die Jahre gekommene, aber immer noch relevante Ausgabe des Marienlebens und der Mirakel „Mariu saga. Legender om jomfru Maria og hendes jertegn“ (Unger 1871) unterscheidet im Titel leider nicht zwischen beiden Textsorten und legt diese kollektive Bezeichnung nahe. Trotzdem sollte ersichtlich sein, dass die Edition nicht nur die Saga, sondern auch Mirakel enthält, die aus unterschiedlichen Handschriften und Sammlungen stammen. Der grundsätzlichen Aussage Drechslers lässt sich durchaus zustimmen, nämlich dass AM 240 VI fol, AM 240 VIII fol, AM 240 IX fol und Lbs frgm 4 vermutlich nicht mit AM 233 a fol in Verbindung stehen. Zu erklären, sie enthielten eine andere Version der Maríu saga (S. 224), ist jedoch unpräzise, denn im fragmentarischen Zustand, den alle diese Zeugnisse aufweisen, finden sich nur in AM 233 a fol und AM 240 IX fol überhaupt Teile der Saga und ansonsten verschiedene Mirakel, die sich gar nicht direkt vergleichen lassen. Ähnlich unpräzise ist die Aussage: „[A]ccording to Gonzalo de Berceo’s Miracles of the Virgin, which indeed was also translated and incorporated into the previously mentioned Maríu saga, Giraldus is a pilgrim who kills himself after being duped by the Devil into sleeping with a concubine.“ (S. 224) Da Mirakel in verschiedenen Sammlungen zusammengestellt worden sind, die von der Saga (von der es ebenfalls verschiedene Versionen gibt) unabhängig überliefert sein können, sollte eben nicht davon gesprochen werden, Mirakel seien in die Maríu saga aufgenommen worden. Wirklich unverständlich ist aber, weshalb hier Gonzalo de Berceos Mirakelsammlung überhaupt als Referenz für das Mirakel von Giraldus herangezogen wird. Die altisländischen Marienmirakel dürften mit den kastilischen von Gonzalo allenfalls die lateinische Vorlage gemeinsam haben. Zudem wird das Mirakel selbst ja in der Handschrift AM 240 IX fol erzählt, sodass ein inhaltlicher Verweis auf eben diese Version genügt hätte.
Auch wenn die Ungenauigkeit, die z. B. in diesem Punkt, aber auch bei der Wiedergabe der Passagen aus den Handschriften auffällt, zu irritieren vermag und ein wenig zur Frage verleitet, wie genau an anderen, in diesem Rahmen nicht überprüfbaren Stellen gearbeitet wurde, sollte sie doch nicht überbewertet werden. Das zentrale Thema und die Ergebnisse der Arbeit werden dadurch nicht oder nur am Rande beeinflusst. Insgesamt bietet das Buch einen erhellenden Einblick in den Entstehungsprozess isländischer Handschriften. Den Fokus v. a. auf die Buchmalerei zu richten und diese als Quelle für Verbindungen zwischen einzelnen Zeugnissen heranzuziehen, hilft, eine Lücke zu schließen, denn das Interesse der Forschung lag und liegt oftmals immer noch eher auf den überlieferten Texten und deren Abhängigkeiten. Mit Einbeziehung der Illuminationen wird zum einen deutlicher, welch komplexe Produkte Handschriften eigentlich darstellen, zum anderen lassen sich ihr kunsthistorischer Wert und ihre Stellung innerhalb der europäischen Handschriftenkultur klarer verorten. Hierzu leistet Stefan Drechslers Buch einen wesentlichen Beitrag.
Literatur
Unger, Carl Richard (ed.). 1871. Mariu saga. Legender om jomfru Maria og hendes jertegn. Efter gamle haandskrifter udgivne af Carl Richard Unger. Christiania: Brøgger & Christie.Search in Google Scholar
© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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