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Hoff, Karin: Varianten der Moderne. Studien zu August Strindbergs Dramatik

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Published/Copyright: September 8, 2025
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Rezensierte Publikation:

Hoff, Karin 2024. Varianten der Moderne. Studien zu August Strindbergs Dramatik. Würzburg: Königshausen & Neumann.


Strindbergs Oeuvre gilt als „modern“. So beginnt das Buch mit der Frage, was unter Moderne zu verstehen sei. Ausschlaggebend für die skandinavische literarische Moderne ist Georg Brandes’ Aufforderung zu einem „modernen Durchbruch“. Bei Brandes geht es jedoch in erster Linie, oder fast ausschlieβlich, um eine Modernisierung der Inhalte, die mit den gesellschaftlichen Veränderungen Schritt zu halten haben und sie analysieren sollen. Künstlerische Modernität bedeutet andererseits aber auch formale Entwicklungen.

Strindbergs naturalistische Dramen, etwa Fräulein Julie oder Der Vater, sind inhaltlich modern im Sinne Brandes’. Bald danach wendet sich Strindberg jedoch formalen Neuerungen zu. Sein Interesse für Naturwissenschaft und Technik und deren groβe Fortschritte findet einen Niederschlag in einer Vielfalt von Experimenten mit der Form. Dem Tempo der Zeit und dem sich verändernden Weltbild entsprechend wird das Drama verkürzt und vereinfacht, die Figur des Autors relativiert, die Grenzen zwischen den literarischen Gattungen werden verwischt, Elemente der bildenden Künste und der Musik in die Dramen eingeführt, alte, als überholt geltende Formen wieder belebt. Dabei geht es nicht um die Einführung neuer Normen, sondern in erster Linie um das Experimentieren. Die zeitbezogene moderne Ästhetik kann endgültige Regeln nicht aufstellen und muss immer wieder das eben Erreichte in Frage stellen. Aus diesem ihr innewohnenden Widerspruch ergibt sich ihre Eigendynamik.

In ihren Untersuchungen der Strindbergschen Modernität konzentriert sich Karin Hoff auf das dramatische Werk, da Strindberg „moderne Verfahren in besonderer Weise im Drama und Theater“ (S. 29) erprobt. Als moderner Dramatiker ist er auch Autor theoretischer Schriften, die im Anschluss an dramatische Texte entstehen. So die Vorrede zu Fräulein Julie und die Begleitschriften zu den Kammerspielen. Fräulein Julie führt den Naturalismus insofern weiter, als die Protagonistin keine homogene Figur mehr abgibt und sich ihr Benehmen weder aus bekannten bestimmenden Faktoren voraussagen, noch gänzlich erklären lässt. Die dramatische Handlung ist auf die Darstellung eines einzigen Geschehens reduziert, die Personenliste auf drei Namen beschränkt. Eine der drei, die Köchin Kristin, ist ausgesprochen wortkarg, aber ihr Schweigen spielt eine nicht geringe Rolle. Schweigen, Pausen, fehlende Antworten und Unterbrechungen im Redefluss werden im Laufe der Jahre immer bedeutender in Strindbergs Dramatik. In den Kammerspielen, insbesondere in der Gespenstersonate, ist der rational strukturierte Dialog als Antriebsmechanismus einer dramatischen Handlung überwunden. Worte lügen, oder vermögen einfach nicht, Wirklichkeit zu erfassen. Die zwischenmenschliche Kommunikation ist fehlerhaft. So bedienen sich die Dramen nicht mehr bloβ der Sprache, sondern auch anderer Ausdrucksmittel, wie Körpersprache, Laute, Sinneswahrnehmungen, und verschiedener Formen von Schweigen. Zu diesem Zweck entwickelte Strindberg ein System von typografischen Zeichen, die Störungen der sprachlichen Kommunikation anzeigen, Sternchen, einfache oder wiederholte Gedankenstriche… Auf dem Manuskript des Fragments Der Holländer hat Hoff „Taktstriche“ entdeckt. Strindberg verstand seine Dramen nicht mehr bloβ als Texte, sondern als vollständige Schauspiele, in denen auch Dramaturgie und Regie eine Rolle spielen, und er versuchte – allerdings nur ansatzweise –, entsprechende typographische Zeichen zu schaffen.

Das Kapitel „Mythos, Musik und Moderne“ ist fast ganz Strindbergs Verhältnis zu Richard Wagner gewidmet. Der schwedische Dichter äußerte sich wiederholt negativ über den deutschen Komponisten. Was ihn nicht daran hinderte, bzw. ihn dazu anspornte, sich intensiv mit seiner Ästhetik auseinanderzusetzen. Er fand Wagners Musik hässlich, in seinen Augen war sie ein Modephänomen und wurde nur von unmusikalischen Menschen geliebt. Dagegen gehörte er zu den wenigen, die Wagners Texte bewunderten.

Vor allem aber haben die von der Wagnerschen Ästhetik erhobenen Fragen und Forderungen Strindberg beschäftigt. Es konnte ihm nicht entgehen, dass die von ihm angestrebte Überwindung hergebrachter Formen der Bühnenkunst eine Parallele im Konzept des Musikdramas und des Gesamtkunstwerks fand. Mit der Analyse von drei Dramen, dem Fragment Der Holländer, dem Märchenstück Schwanenweiß und dem Kammerspiel Die Gespenstersonate, zeigt Hoff, wie Strindberg immer wieder auf Wagners Werke Bezug nimmt, nicht so sehr durch die Übernahme von Inhalten, sondern vielmehr durch Anlehnung an Wagnersche Ausdrucksmittel. Die – in diesem Fall auch motivischen – Parallelen zwischen der Gespenstersonate und der Walküre sind besonders interessant. Auch Leitmotive kommen in Strindbergs Dramatik vor, wenn die fortschreitende Handlung immer deutlicher wiederholten Erinnerungen und Ahnungen weicht.

Nicht zuletzt aufgrund der zentralen Stellung, die die Geschichte im Denken der Zeit einnahm, war das historische Drama im 19. Jahrhundert ein beliebtes Genre – das nicht selten unter anderem der Etablierung der Nationalgeschichte diente. Strindbergs Modernität macht sich auch an seinen historischen Dramen bemerkbar, die oft, obwohl nicht immer, inhaltlich und formal von den geltenden Normen abweichen. Schon in seinen ersten Stücken, etwa in Meister Olof, ignoriert er die Aura der groβen Figuren der Geschichte und behandelt sie kritisch, wie gewöhnliche Menschen. Auch sie sind von Ambivalenz gekennzeichnet. Strindberg lässt nicht mehr, oder nicht mehr ausschlieβlich, die Herrschenden und die anerkannten Helden auftreten, er gibt dem einfachen Volk das Wort. Die Historie versteht er international, er stellt die Geschichte Schwedens im Zusammenhang mit der Weltgeschichte dar.

Mit den historischen Fakten nimmt er sich oft einige Freiheiten, er scheut vor kleineren Änderungen, Anachronismen oder Auslassungen allgemein bekannter Ereignisse nicht zurück. Die Handlung als Folge äußerer Geschehnisse verliert in Strindbergs historischen Dramen immer mehr ihre genremäßige Zentralität, „das Geschehen [wird] häufig ins Innere der Figuren verlagert“ (S. 141). Damit gehen bühnentechnische Neuerungen einher, etwa die Unterteilung der Bühne in einigen Szenen von Kristina. In Kristina erscheint übrigens die Herrscherin als Kunstliebhaberin und Schauspielerin, die auch in ihrer Eigenschaft als Königin die Königin spielt. Einerseits haben wir es mit einem Spiel im Spiel zu tun, andererseits wird darauf hingewiesen, wie Herrschende nicht umhinkönnen, ihr Auftreten zu inszenieren. Dies zeigt Hoff am Beispiel des Königs in Gustav III noch deutlicher und ausführlicher. Der Monarch ist auch Dramatiker, es gibt im Stück Diskussionen über Theaterkunst und Spiel, auch das politische Handeln kann als Spiel aufgefasst werden. Da das Drama Gustav III die von allen Geschichtsbüchern erzählte Ermordung des Königs auslässt, „spielt“ das Stück mit dem Publikum, indem es den König von dem „Ende des Stückes“ reden lässt.

Dennoch ist Strindbergs Gustav III nicht bloβ eine verspielte Figur, er ist auch von der im Werk des Autors stark vertretenen Ambivalenz geprägt. Er ist Künstler und Regent. Er will das Volk gegen den Adel beschützen, und macht sich zum absolutistischen Monarchen.

Eine weitere Analyse des Dramas und seiner Dichterfiguren Kellgren und Thorild beleuchtet Strindbergs Auffassung von Aufklärung in Bezug auf die Ästhetik der Moderne. Er befürwortet eine Loslösung von Voltaires steifem Regelwerk, die Freiheit des Kunstschaffenden und eine Natürlichkeit Rousseauscher Prägung. Der echte Künstler, das Genie, ist für ihn der, der Originalität und „Ursprünglichkeit“ an den Tag legt, auch wenn er dadurch die Gunst des Publikums und der Kritik einbüßt.

Im letzten Kapitel behandelt Hoff die Beziehungen zwischen Strindberg und seinem deutschen Übersetzer Emil Schering. Während die Forschung vor allem die übersetzten Texte philologisch auf ihre treue Wiedergabe der Originale geprüft, und sie dabei an manchen Stellen für mangelhaft befunden hat, untersucht Hoff Scherings Rolle bei der Einführung von Strindbergs Werken in den deutschen Büchermarkt und das deutsche Theaterwesen, in der Prägung einer deutschen, und europäischen, „Marke Strindberg“ (S. 179). Sollten die Dramen des Schweden auch in Deutschland Erfolg haben, dann mussten sie an das dortige Publikum angepasst werden. So mussten zum Beispiel dessen Vorkenntnisse und Erwartungshaltungen berücksichtigt werden, was in manchen Fällen Abweichungen vom Quellentext erforderte und solche Abweichungen entschuldigte, meinte Strindberg, dem es daran gelegen war, sich auf dem deutschen Markt durchzusetzen, einerseits, um seinen Status als internationaler Dichter zu festigen, andererseits aus ökonomischen Gründen. So wurde Schering zum Vermittler von Strindbergs Werken. Weit davon entfernt, sich mit wortgetreuen Übersetzungen zu begnügen, unterhielt er Kontakte mit Verlegern, Theaterdirektoren und -regisseuren, hielt sich ständig über die Entwicklungen auf dem deutschen Literaturmarkt auf dem Laufenden. Mit dieser Verfahrensweise war Strindberg grundsätzlich einverstanden. Die beiden Männer unterhielten eine rege Korrespondenz. Sie diskutierten die von Schering vorgeschlagenen Änderungen, so dass die „Marke Strindberg“ auch von Strindberg selbst mitproduziert wurde. Eine solche Haltung des Autors, dem internationaler Transfer wichtig ist und der deswegen die „Anpassung seiner Schriften in einem anderen Rezeptionskontext“ (S. 189) für notwendig hält, ist damals neu. Sie schafft ein neues Autorschaftskonzept, das auch zur Moderne gehört.

Das Zustandekommen der deutschen Übersetzung, oder Adaption, von Strindbergs Luther-Drama, Die Nachtigall von Wittenberg, gibt ein Beispiel von der Zusammenarbeit des Autors mit dem Vermittler. An dem stark vermenschlichten Luther-Bild des Originals, meint Schering, würde die ein idealisiertes Bild des Reformators gewohnte deutsche Öffentlichkeit Anstoβ nehmen. Strindberg entgegnet, sein Stück sei eben modern und entspreche sowohl seinem Geschichtsverständnis, als auch dem „neuen Naturalismus“ (S. 210). Nach mehreren Jahren setzt sich letzterer Standpunkt durch, aber erst nach einer langen Diskussion.

Zusammenfassend kommt Hoff auf die besondere(n) Variante(n) der Moderne zurück, die Strindbergs verschiedene dramatische Werkgruppen kennzeichne(n), und bemerkt abschlieβend, „dass Strindbergs Moderne ein unabgeschlossenes und unabschlieβbares Projekt ist“ (S. 239) – was sowohl aus ihrer Analyse einzelner Dramen, als auch aus den einführenden Erläuterungen zum Begriff der Moderne hervorgeht. Ihr Buch beleuchtet einige bis jetzt weitgehend übersehene Aspekte von Strindbergs Dramatik, wie die Beziehung zu Richard Wagners Werk und Ästhetik, oder die Rolle Emil Scherings in der Gestaltung einiger Stücke, der Umformulierung der Autorschaft, und im kulturellen Transfer des Strindbergschen Oeuvres. Durch die Darstellung des Falls Strindberg veranschaulicht Hoffs Untersuchung auch einen Teil dessen, was „Moderne“ heiβt – freilich nur einen Teil, da die Moderne ein unabschlieβbares Projekt ist.


Corresponding author: Annie Bourguignon, Université de Lorraine, Nancy, France, E-mail:

Online erschienen: 2025-09-08
Erschienen im Druck: 2025-08-26

© 2025 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 25.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/ejss-2024-2026/html
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