Rezensierte Publikation:
Skinner, Ryan Thomas 2022. Afro-Sweden. Becoming Black in a Color-Blind Country. Minneapolis.
Der Musikethnologe Ryan Thomas Skinner präsentiert in seinem Buch Afro-Sweden. Becoming Black in a Color-Blind Country eine umfassende Beschreibung und Untersuchung der Geschichte, Kultur und Identität der afro-schwedischen Gemeinschaft, vorwiegend in der zweiten Hälfte des 20. und des 21. Jahrhunderts. Das 2022 erschienene Werk zeichnet sich durch eine Kombination aus qualitativen Methoden, insbesondere ethnographischen Untersuchungen wie Interviews, und der Analyse verschiedener Kulturgüter wie Film, Literatur und Musik sowie öffentlicher Debatten aus. Skinner erklärt:
Through ethnographic inquiry, historical study, and textual analysis, I examine expressions and understandings of a pronounced Afro-Swedish identity, as manifest in the oral histories of community elders, a fragmented (post)colonial archive, the historical imagination of an emboldened African-descended youth, the language and politics born of new modes of racially conscious identification, and, perhaps most important, the creative labor of a diverse and dynamic Afro-diasporic art world. (4)
Das zentrale Anliegen des Buches ist es, die Geschichte und Gegenwart der afro-schwedischen Gemeinschaft sichtbar zu machen und zu zeigen, wie sich eine zugleich selbstbewusste und heterogene afro-schwedische Identität entgegen einer weißen Mehrheitsgesellschaft herausbildet: „Against a cultural imagination that routinely obscures and diminishes Black lives, this book seeks to illuminate the history, culture, and identity of a very real and clearly present Afro-Swedish community.“ (3) Ein erster Vertreter dieser deutlich präsenten afro-schwedischen Gemeinschaft ist der renommierte schwedische Musiker Jason ,Timbuktu‘ Diakité, der im Vorwort des Buches aus seiner persönlichen Erfahrung heraus die Bedeutung der afro-schwedischen Geschichte und die Notwendigkeit, diese Geschichte zu erzählen, betont.
Skinner unterteilt seine Untersuchung in zwei übergeordnete Kapitel, „Remembering“ und „Renaissance“. Der erste Teil, „Remembering“, untersucht, wie afro-schwedische Akteur*innen durch historische Rückbesinnung ein Gemeinschaftsgefühl schaffen. In einem ersten Unterkapitel namens „Invisible People“ analysiert Skinner die afrikanische und afro-amerikanische Diaspora, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat, anhand verschiedener Akteur*innen und ihrer künstlerischen Arbeiten. Ein im gesamten Werk wiederkehrendes Beispiel ist der US-amerikanische Filmemacher Madubuko Diakité, der seit den 1970ern in Schweden lebt. Seinem 1972 erschienenen Film Det osynliga folket, in dem er die Entwicklung einer Community in der Diaspora nachzeichnet, schenkt Skinner ebenso große Aufmerksamkeit wie den beiden Theaterschaffenden Astrid Assefa und Fransesca Quartey.
In einem zweiten Teil, „A Colder Congo“, widmet er sich dem Kongo als afro-schwedischem Chronotopos, der, so Skinner, eine gegenwärtige afro-schwedische Präsenz mit einem diffusen Afrikabild verbindet, das sich wiederum in einem stereotypisierten Kongobild kondensiert. Diese These belegt er mit Hilfe dreier Beispiele. Erstens beschreibt er historische Verbindungen zwischen dem Kongo und Schweden anhand der Person Dag Hammarskjöld, eines Films des Regisseurs Sven Nykvist über die schwedische Mission im Kongo sowie anhand Tomas Tranströmers Poesie. Zweitens schildert er verschiedene Rereadings des europäischen Kolonialismus und die damit einhergehenden öffentlichen Debatten in Schweden, wie diejenigen über den Umgang mit Tim und Struppi-Büchern in schwedischen Bibliotheken. Und drittens beleuchtet Skinner das aktuelle Engagement und die Interventionen afro-schwedischer Akteur*innen im Zusammenhang mit Erinnerungskulturen wie an die schwedische Mission in kirchlichen Zusammenhängen.
In dem abschließenden Kapitel des ersten Teils, „Walking While Black“, erkundet Skinner Bewegungen und afro-schwedische Präsenz im Raum, sowohl im Stadtraum als auch in der Natur. Dabei erläutern ihm seine Gesprächspartner*innen, die ihn während vier Walking Tours durch Uppsala und Stockholm führen, was es bedeutet, in Schweden Schwarz zu sein. Diese Erzählungen funktionieren wie Skinners vorherige Beispiele als Erinnerungen an afro-schwedische Geschichte. Gleichzeitig schlagen sie eine zeitliche Brücke in die Gegenwart und damit zum zweiten Teil des Buches, indem sie vor allem auch eine afro-schwedische Gegenwart beschreiben.
Der zweite Teil, „Renaissance“, beschäftigt sich primär mit der gegenwärtigen kulturellen und sozialen Entwicklung afro-schwedischen Lebens. So arbeitet Skinner im Kapitel „Articulating Afro-Sweden“ die Bedeutung von Sprache bei der Konstitution afro-diasporischer Identitäten heraus. Um zu zeigen, wie Diaspora als Verbal Art praktiziert und performt wird, analysiert Skinner verschiedene Begriffe und Zuschreibungen für Gesellschaften und Personengruppen wie beispielsweise ,multikulturell‘ oder ,afro-schwedisch‘. Daran anknüpfend fokussiert er sich auf „The Politics of Race and Diaspora“, also auf afro-schwedischen Aktivismus seit den frühen 2000er Jahren und insbesondere auf die Etablierung verschiedener Vereinigungen wie Afrosvenskarnas Riksförbund. Die abschließende Analyse „The Art of Renaissance“ hebt verschiedene afro-schwedische Künstler*innen hervor, die durch ihre Arbeiten eine afro-schwedische Kultur erzeugen, so Skinners These. Hier knüpft er an den Beginn seines Buches an, indem er die Autobiographie des Sängers Jason ,Timbuktu‘ Diakité oder auch das National Black Theatre of Sweden als Beispiele eines Prozesses anführt, den er als eine afro-schwedische Renaissance bezeichnet: „I claim that what we are witnessing is nothing short of an Afro-Swedish renaissance – a conjunctural moment of diasporic consciousness, creativity, and critique, manifest in a florescence of artistic production, commentary, and interpretation.“ (202, Hervorh. im Orig.)
Durch die ethnographische Methode und die Interviews bietet das Buch eine thematisch vielseitige Zusammenstellung verschiedener Akteur*innen, Ereignisse sowie Kulturgüter, die einen breit gefächerten Ein- und Überblick über afro-schwedische Gemeinschaften geben. Indem er diese Beispiele als Geschichten aufbereitet und oft anekdotisch wiedergibt, legt Skinner ein leicht zugängliches und gut lesbares Buch vor, das einem interessierten Publikum eine vielfältige Einleitung in gegenwärtige afro-schwedische Kultur gibt. Für ein Fachpublikum wiederum sind die Verknüpfungen zu verschiedenen Klassikern der postkolonialen Theorie und schwedischen Forschung gewinnbringend, die der Text immer wieder verdeutlicht. So verortet Skinner seine Beispiele im Kontext größerer theoretischer Diskussionen und Konzepte, wie beispielsweise Paul Gilroys „Black Atlantic“ oder Homi Bhabhas Hybriditätskonzept. Zusätzlich verbindet er diese primär aus dem anglo-amerikanischen Raum stammenden Ansätze wiederholt mit Forschung, die sich dezidiert auf schwedische Kontexte bezieht, wie die Untersuchungen des Soziologen Tobias Hübinette oder des Philosophen Michael McEachrane.
Trotz oder gerade aufgrund der vielen Beispiele bleiben die einzelnen Analysen jedoch oft an der Oberfläche. So ist Afro-Sweden. Becoming Black in a Color-Blind Country vor allem als eine Beschreibung afro-schwedischer Akteur*innen und Kultur zu verstehen, jedoch fehlen tiefergreifende Einzelanalysen. Dies mag mit Skinners gewählter Methode der ethnographischen Interviews, seiner bisweilen anekdotischen Darstellung oder auch der interdisziplinären Auswahl seiner Fallbeispiele zusammenhängen. Durch die oft fehlende Analyse verpasst Skinner es bisweilen, eine Kritik am so genannten schwedischen Exzeptionalismus zu äußern, einem Selbstbild, das er zwar verschiedentlich aufgreift, dessen Dekonstruktion insgesamt aber zu kurz kommt. Zudem reflektiert Skinner die Auswahl seiner Beispiele nicht ausreichend, was die wissenschaftliche Fundiertheit des Buches ebenfalls beeinträchtigt. Es wären eine Reflektion oder zumindest eine Begründung der Auswahl wünschenswert gewesen. So ist ausschließlich zu vermerken, dass Skinner besonders populäre beziehungsweise viel diskutierte Beispiele afro-schwedischer Kultur aufgreift. Einerseits unterstreicht dies den Wert des Buches als Einführung in afro-schwedische Kultur. Andererseits verpasst Skinner die Möglichkeit, weniger bekannte Akteur*innen und ihr Wirken zu beleuchten. Ebenso ungeklärt bleibt die Wahl des Titels: Während Skinner sich im Untertitel auf das schwedische Selbstbild einer farbenblinden Nation und damit einer Gesellschaft bezieht, in der es scheinbar keinen Rassismus gibt, bleibt offen, worin das Moment des ,Becomings‘ besteht.
Ungeachtet dieser genannten Kritikpunkte stellt Afro-Sweden. Becoming Black in a Color-Blind Country einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der afro-schwedischen Gemeinschaft und Kultur dar. Skinner gelingt es, durch seine ethnographische Methode und die Analyse verschiedener kultureller Artefakte ein breites Spektrum an Geschichten und Perspektiven zu präsentieren. Das Buch bietet sowohl einem interessierten Publikum als auch Wissenschaftler*innen einen wertvollen Einblick in die Geschichte, heterogene Kultur und Identitäten der afro-schwedischen Gemeinschaft. Trotz einiger Kritikpunkte in Bezug auf die analytische Tiefe und die Auswahl der Beispiele ist das Buch ein wichtiger Schritt zur Sichtbarmachung und Anerkennung der afro-schwedischen Geschichte und Kultur.
© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.
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