Rezensierte Publikation:
Bragason Úlfar 2021. Reykjaholt Revisited. Representing Snorri in Sturla Þórðarson’s Íslendinga saga. Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum. Rit 106. Reykjavík.
Diese 2021 erschienene Monographie bündelt mehrere Jahrzehnte Forschung zu den zeitgenössischen Sagas und zur Íslendinga saga im Besonderen. Wie wenige andere hat sich Úlfar Bragason seit den 1980er Jahren immer wieder mit verschiedenen Aspekten der Erzählkunst der zeitgenössischen Sagas auseinandergesetzt, wie nicht zuletzt auch die Bibliographie dieses Bandes eindrücklich belegt. In dieser Monographie nun legt Úlfar Bragason das Hauptaugenmerk auf die Konstruktion Snorri Sturlusons und seines Umfelds in der von seinem Neffen Sturla Þórðarson verfassten Íslendinga saga.
Kapitel 1 eröffnet zunächst mit einem ausführlichen Überblick über die Überlieferung und die existierende Forschung zur Íslendinga saga. Der Forschungsüberblick führt deutlich vor Augen, dass und wie über lange Zeit hinweg Figurenschilderungen in den zeitgenössischen Sagas mimetisch und auf Spurensuche nach den historischen Persönlichkeiten der Sturlungenzeit gelesen wurden. In dezidierter Abwendung von dieser Tradition und unter Heranziehen aktueller erzähltheoretischer und gedächtnistheoretischer Ansätze liest Úlfar Bragason die zeitgenössischen Sagas hingegen als in einer kommunikativen Gemeinschaft entstandene Erzählungen, die bestimmte narrative Techniken nutzen. Unter Bezug auf unter anderem Gérard Genette und Fotis Jannidis zeigt bereits diese Einleitung die Gemachtheit von Figurenschilderungen auf und setzt die Präsentation der Ereignisse der Sturlungenzeit in der Íslendinga saga in Auseinandersetzung mit allgemeinen gedächtnistheoretischen Beiträgen, namentlich von Jan Assmann und Avishai Margalit, in den Kontext einer Etablierung eines kollektiven Gedächtnisses. Dabei betont Úlfar Bragason, dass die Positionen zu den einzelnen in der Íslendinga saga geschilderten Figuren nicht allein dem Autor bzw. „saga-writer“ Sturla Þórðarson zugesprochen werden kann, auch wenn dieser in der Terminologie Avishai Margalits eine „thick relation“ zu Snorri hatte. Die Schwerpunktsetzungen, Auslassungen und Bewertungen einzelner Figuren sind vielmehr Resultat einer komplexen Produktionssituation unter Mitwirkung mehrerer Akteure (vom Verfasser über den Schreiber und Kompilator hin zum Auftraggeber) im Sinne einer emotionalen und ethischen Gemeinschaft.
Nach diesen theoretischen Absteckungen folgen acht Kapitel, die sich jeweils aus einer anderen Perspektive der erzählerischen Konstruktion Snorri Sturlusons annähern. Kapitel 2 wendet sich zunächst der narrativen Verknüpfung Snorris mit dem Ort Reykjaholt zu und arbeitet dabei heraus, dass Snorris Anwesen anders als andere Höfe in dieser Saga als Ort und Raum nur sehr vereinzelt – dann aber eindringlich – geschildert wird, obwohl Sturla als Ziehsohn Snorris den Ort gut gekannt haben muss. In einem nächsten Schritt widmet sich Kapitel 3 auch unter Rückbezug auf das Vorwort des Kompilators der Sturlunga saga den multiplen narrativen Funktionen Sturla Þórðarsons in Bezug auf die Íslendinga saga – als Figur, Erzähler, Sagaverfasser und Historiker. Dieses Kapitel adressiert die verschiedenen narrativen Techniken, die Sturla in der Vermittlung seiner Materie nutzt, und knüpft insofern noch einmal an die allgemeinen Überlegungen der Einleitung an, so dass dieses Kapitel mindestens ebenso gut direkt im Anschluss an diese hätte gesetzt werden können.
Kapitel 4 arbeitet die besonderen Eigenschaften der Figurenkonstruktion der Íslendinga saga heraus. Unter Rückgriff auf E.M. Forsters Unterscheidung zwischen flachen und runden Figuren führt Úlfar Bragason aus, dass die Figurenkonstruktion der Íslendinga saga zwar auf aus den Isländersagas bekannten Stereotypen aufbaut, zugleich aber ausgeprägte individuelle Züge aufweist. Er kommt zu dem überzeugenden Urteil, dass vor allem Snorri ein komplexer, runder Charakter ist, dem Leser aber aufgrund der ihm nur selten zugeordneten direkten Rede ein Enigma bleibt. Als Vorbildcharakter wird dagegen Þórðr Sturluson konstruiert. Dass die Erzählung Sturlas Vater Þórðr als Vorbild und modernen Charakter konstruiert, wird auch in dem narrative Perspektivierungen diskutierenden Kapitel 5 herausgearbeitet, in dem deutlich wird, dass das Aufeinanderprallen der alten heroischen und der neuen friedvollen Werte der Sturlungenzeit personifiziert in den Handlungen und Äußerungen der beiden Brüder Sighvatr und Þórðr Sturluson manifest werden – und dass beide Systeme von Snorri unterlaufen werden.
Die komplexe Konstruktion der Figur Snorri wird in den folgenden Kapiteln über seine Positionierung zu Frauen, namentlich seiner Mutter, seinen Ehefrauen und seinen Geliebten (Kap. 6), zu seinen Söhnen (Kap. 7), seinen Töchtern (Kap. 8) sowie seinen Stiefsöhnen (Kap. 9) immer weiter konturiert. In diesem Durchgang wird immer wieder deutlich, dass der Sagaverfasser bzw. die verschiedenen in die Gestaltung der Saga involvierten Akteure durch die Selektion des erzählten Materials die Konstruktion der Figuren beeinflusst und formt und durch die Gegenüberstellung unterschiedlicher Typen von ethischen und moralischen Figuren einen Deutungsvorschlag für die Interpretation der traumatischen Ereignisse seiner jüngeren Vergangenheit vorlegt, wie auch in der Konklusion des Bandes (Kap. 10) noch einmal zusammenfassend festgestellt wird.
Der Band überzeugt durch kundige, mit dem Material zutiefst vertraute Lektüren und Relektüren, die immer wieder die narrative Verfasstheit der zeitgenössischen Sagas betonen. Die Studie trägt mit ihrer Auseinandersetzung mit jüngsten erzähl-und erinnerungstheoretischen Ansätzen in der Sagaforschung allgemein immer noch viel zu wenig beachtetete, allgemeine theoretische Ansätze in die Debatte hinein. Vor diesem Hintergrund überrascht, dass die in den letzten Jahren in den internationalen Old Norse studies lebendige gedächtnistheoretische Forschung, wie sie sich etwa im 2018 erschienenen Handbook of Pre-Modern Nordic Memory studies manifestiert, nur ansatzweise wahrgenommen wird.
Die Monographie ist ein wichtiger, lesenswert geschriebener Beitrag zur komplexen Erzählkunst der Íslendinga saga und bietet den Leser:innen einen hilfreichen Zugang zur Erschließung der verstrickten Ereignisse und der oft überwältigenden Zahl involvierter Figuren. Das Buch folgt narratologisch bewandert den komplexen Erzählpfaden der Saga und verlangt der Leser:in Aufmerksamkeit ab, ebenso wie die Íslendinga saga dies auch tut.
Die Studie überzeugt nicht zuletzt auch durch die elegante englische Übersetzung von Andrew Wawn und die nuancierten englischen Übersetzungen zentraler Passagen der Íslendinga saga. Reykjaholt Revisited macht dieses zentrale Zeugnis der Erinnerung und Narrativierung der Geschehnisse der Sturlungenzeit, das immer noch vornehmlich in isländischen Kreisen und in isländischer Sprache in der Forschung diskutiert wird, für eine internationale Leserschaft ein klein wenig zugänglicher.
Literaturliste
Glauser, Jürg, Pernille Hermann, and Stephen Mitchell. 2018. (Hg.) Handbook of Pre-Modern Nordic Memory Studies. Berlin/Boston: DeGruyter.10.1515/9783110431360Search in Google Scholar
© 2025 the author(s), published by De Gruyter, Berlin/Boston
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