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Zum Verhältnis von Originalerhalt und Digitalisierung von schriftlichem Kulturgut

  • Jakob Frohmann

    Jakob Frohmann M.A.

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    Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß

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    Maria Elisabeth Müller

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    Stephanie Preuss

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    Dr. Alessandra Sorbello Staub

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    Dr. Laura Scherr

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    and Marcus Stumpf

    Prof. Dr. Marcus Stumpf

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Published/Copyright: May 3, 2023
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Zusammenfassung

Beim Erhalt analogen schriftlichen Kulturguts in seiner Entstehungsform wurden im vergangenen Jahrzehnt signifikante Fortschritte erzielt. Zuvorderst sind hierfür die Koordinierungsstelle zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK), Förderprogramme des Bundes und der Länder, der Ausbau von Infrastrukturen und ein leistungsfähiger Dienstleistermarkt verantwortlich. Bestandsschonend erzeugte Digitalisate schützen Originale vor Nutzungsschäden. Im Sinne der Bewahrung des kulturellen Erbes zurückzuweisen sind Vorstellungen, zugunsten der Digitalisierung den Originalerhalt zu vernachlässigen, wie es die Strategie des Bundesarchivs vorsieht. Denn: Nichts kann das Original vollumfänglich ersetzen.

Abstract

Significant progress has been made over the past decade in preserving analogue written cultural assets in their original form. Primarily responsible for this are the Koordinierungsstelle zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK), federal and state funding programs, the expansion of infrastructure and efficient service provider markets. In terms of preservation, gently created digital copies protect originals from damage caused by use. Within the meaning of preserving the original form of our cultural heritage, ideas of neglecting to preserve the original in favour of digitization as envisaged by the strategy of the Bundesarchiv should be rejected, since nothing can completely replace the original.

1 Einleitung

Das 2016 beschlossene Kulturgutschutzgesetz (KGSG) definiert in öffentlichem Eigentum und im Bestand von öffentlich-rechtlichen, Kulturgut bewahrenden Einrichtungen wie Archiven und Bibliotheken befindliche Objekte per se als „nationales Kulturgut“.[1] Entsprechend der Fokussierung des Gesetzes auf den internationalen Kunsthandel wird das „Beschädigungsverbot“[2] und damit implizit ein Erhaltungsgebot ausdrücklich nur auf die in das „Verzeichnis national wertvollen Kulturgutes“ aufgenommenen bzw. aufzunehmenden Stücke bezogen. Bis vor wenigen Jahren bestand darüber hinaus jedoch ein fachlicher Konsens, dass Kulturgut grundsätzlich in seiner ursprünglichen Entstehungsform zu bewahren, zu sichern, zu erhalten und ggf. instand zu setzen sei. Entsprechende Formulierungen finden sich in den Archiv- und Bibliotheksgesetzen des Bundes und der Länder.[3]

Der Konsens galt freilich nicht nur auf der normativen Ebene, sondern auch in der Berufspraxis. Als etwa der Sächsische Rechnungshof in seinem Prüfbericht zum Jahr 2003 vorschlug, dass zur Einsparung von Magazinraum große Teile des Archivguts im Sächsischen Staatsarchiv „in anderer Weise gespeichert werden […] und [diese Ersatzmedien] dann im archivischen Sinne als Originale anzusehen sind, während die ursprünglichen stofflichen Originalunterlagen auszusondern und zu vernichten wären“,[4] führte dies zu einer einhelligen, klaren und überzeugend begründeten Positionierung seitens der öffentlichen Archive zugunsten des Erhalts des Kulturguts in seiner Entstehungsform.[5] Und in der Tat sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten auf Bundes- und Länderebene bemerkenswerte Fortschritte im Bereich des Originalerhalts gerade des schriftlichen Kulturguts erzielt worden.

2 Primat des Originals

Wichtige Impulse gaben der Schlussbericht der vom Deutschen Bundestag eingesetzten Enquête-Kommission „Kultur in Deutschland“ 2007, in dem die Empfehlung zu einem nationalen Engagement für den Erhalt des schriftlichen Kulturerbes ausgesprochen wurde,[6] sowie die Denkschrift der „Allianz zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts“ im Jahr 2009.[7] Unter den konkreten Zeitumständen – nach dem Brand der Herzogin Anna Amalia-Bibliothek in Weimar und kurz nach dem Kölner Archiveinsturz – erhöhte die Denkschrift den Handlungsdruck im politischen Raum. In Umsetzung einer der zentralen Forderungen der Denkschrift wurde 2010/2011 aus Mitteln der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien sowie der Kulturstiftung der Länder mit der Schaffung der Koordinierungsstelle zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) die Fachaufgabe des Originalerhalts spartenübergreifend qualitativ und quantitativ auf eine neue Grundlage gestellt.[8] Als zentraler Bezugspunkt für vielfältige Aktivitäten der vergangenen Jahre sind die von der KEK in Zusammenarbeit mit Expert*innen aus Bund und Ländern entwickelten und veröffentlichten Bundesweiten Handlungsempfehlungen zur Erhaltung des schriftlichen Kulturguts in Archiven und Bibliotheken in öffentlicher Trägerschaft (2015) entstanden.[9] In den mittlerweile zwei Förderlinien der KEK wurden seit 2011 bis einschließlich 2022 gut 21 Mio. Euro Fördermittel projektgebunden für den Originalerhalt eingesetzt. Parallel wurden in vielen Bundesländern eigene Landesprogramme zum Erhalt des schriftlichen Kulturguts auf- und ausgebaut und die Infrastrukturen, etwa zur Beratung zu Förderanträgen, deutlich gestärkt. Heute stehen in den Landesprogrammen insgesamt jährlich mehr als 6 Mio. Euro für den Originalerhalt zur Verfügung.[10] Im Zusammenwirken mit einem leistungsfähigen, zunehmend auf Mengenbehandlung ausgerichteten Markt für konservatorische und restauratorische Dienstleistungen gelingt es heute, Jahr für Jahr viele Kilometer Archiv- und Bibliotheksgut im Original zu sichern.[11]

In den Erhaltungsstrategien besitzt auch Digitalisierung ihren Stellenwert, nämlich zur Vermeidung von Schäden durch Nutzung der Originale (Schutzmedium).[12] In diesem Zusammenhang haben die drei Bestandserhaltungsgremien des Deutschen Bibliotheksverbands, der Konferenz der Leiterinnen und Leiter der Archivverwaltungen des Bundes und der Länder sowie der Bundeskonferenz der Kommunalarchive beim Deutschen Städtetag 2019 ein Grundlagenpapier „Archiv- und Bibliotheksgut schonend digitalisieren“[13] vorgelegt, das aktuell zu einer DIN weiterentwickelt wird, die noch 2023 erscheinen soll (DIN 33910).[14]

Zentral ist das Verhältnis von Originalerhalt und Digitalisierung zueinander: Im Sinne einer Erhaltungsstrategie ist es wesentlich, dass der Erhalt des Originals in seiner ursprünglichen Entstehungsform Vorrang hat vor der Digitalisierung. So ist beispielsweise die Digitalisierungstechnik den Anforderungen der Substanz- und Informationssicherung anzupassen und nicht umgekehrt. Steht eine entsprechende Technologie für eine vorlagenschonende Digitalisierung nicht zur Verfügung, muss die Erzeugung eines Digitalisats zurückgestellt werden. Sämtliche Bestandteile eines Originals sind historische Informationsträger mit Quellenwertcharakter. Eingriffe in die Originalsubstanz, etwa durch das systematische Auflösen von Bindungen, Abschneiden von Buchrücken oder von Blattkanten, um das Schriftgut bspw. schneller in einem Einzugsscanner digitalisieren zu können,[15] stellen keine hinnehmbaren Eingriffe in die Originalsubstanz dar. Damit hält das Konzept der Schutzdigitalisierung klar am „Primat des Originals“ fest. Die bestmögliche Sicherung des Kulturguts in seiner Entstehungsform steht im Zentrum; dem dient auch die Digitalisierung.

3 Neuausrichtung des Bundesarchivs: Ersatzdigitalisierung

Nun gilt es freilich zu konstatieren, dass der „Primat des Originals“ von Kulturgut offenkundig keine uneingeschränkte communis opinio in der Fachwelt mehr darstellt: Jüngst erschien in der der Monatszeitschrift Politik & Kultur ein Artikel des Präsidenten des Bundesarchivs, Michael Hollmann, unter der Überschrift „Die Zukunft unserer Vergangenheit. Die Situation der öffentlichen Haushalte gibt Anlass zur Sorge – auch beim Bundesarchiv“.[16] Hollmann bringt hier eine strategische Kehrtwende des Bundesarchivs auf die Formel, dass „nach dem faktischen Wegfall des Mikrofilms als Sicherungsmedium nur die digitale Sicherung als zukunftsfähige Methode der Bestandssicherung übriggeblieben ist.“[17] Dass diese öffentlichkeitswirksame Positionierung rückblickend als ein Musterfall erfolgreicher Kommunikation fachlicher Anliegen in den politischen Raum gewertet werden kann, zeigte sich wenige Tage später, als durch eine Pressemitteilung der Staatsministerin für Kultur und Medien zum Ausgang der Haushaltsberatungen zum Bundeshaushalt 2023 bekannt wurde, dass für Digitalisierung von Beständen zum Nationalsozialismus und als entscheidende Stärkung für die Erinnerungskultur dem Bundesarchiv zusätzliche Mittel in Höhe von 3 Mio. Euro bereitgestellt werden.[18] Ob den Entscheidungsträgern im November 2022 bewusst war, welche strategische Kehrtwende des Bundesarchivs damit zugleich gefördert wird? Ganz offenkundig zeigte sich hier nämlich nichts weniger als ein Kurswechsel – weg vom Anspruch des Originalerhalts unikalen analogen Kulturguts in seiner Entstehungsform hin zu einer Ersatzdigitalisierung.

Erstmals publik wurde dieses Ergebnis eines umfassenden internen Strategieprozesses in der Ausgabe 2018 des Forum. Das Fachmagazin des Bundesarchivs zum Leitthema „Das Bundesarchiv im Digitalen Wandel“.[19] Weitaus konkreter legte ein Autor*innenkollektiv aus dem Bundesarchiv die Neupositionierung in einem Anfang 2021 erschienenen Fachartikel in der ABI Technik offen:[20] Auf den Punkt gebracht, tritt an die Stelle des „Primats des Originals“ der „Primat des Digitalen“, hier euphemistisch als „Sicherungsdigitalisierung“ deklariert, in letzter Konsequenz aber eine Ersatzdigitalisierung. Es steht zu befürchten, dass für einen Großteil des Kulturguts im Bundesarchiv keine aktiven Maßnahmen zum Originalerhalt mehr geplant werden.[21] Entsprechend ausgerichtet ist auch das Anfang 2022 online veröffentlichte „Bestanderhaltungskonzept des Bundesarchivs“,[22] das durch eine internationale Konferenz zur Massendigitalisierung im Juni 2023 bestätigt werden soll. Deutschlands größtes öffentliches Archiv legt also die Anforderung nach § 3 Abs. 1 Bundesarchivgesetz,[23] das Kulturgut zu „sichern“, so aus, dass zumindest für das Gros seiner Überlieferung langfristig ein Digitalisat das Original vollumfänglich ersetzt.[24]

Mit dieser Haltung steht das Bundesarchiv zumindest im deutschen Archivwesen isoliert da. Niemand wird bestreiten, dass das Bundesarchiv mit seinen inzwischen „rund 540 laufenden Kilometern Akten, 150 000 Spiel- und Dokumentarfilmen, mehr als 15 Millionen Fotografien und mittlerweile nur noch in Petabyte zu messenden digitalen Beständen“, wie Hollmann ausführt, quantitativ vor exzeptionelle Herausforderungen beim Erhalt des Kulturguts gestellt ist. Und gewiss braucht es für deren Bewältigung neben überzeugenden baulich-fachgerechten Lösungen ebenso eine massive Aufstockung entsprechender Haushaltsmittel, verbunden mit dem Ausbau der Infrastruktur und der personellen Ressourcen für die erforderlichen Maßnahmen.[25] Diesen Herausforderungen stellen sich die Archive der Länder und der Kommunen, die in Summe für deutlich umfangreichere Bestände aus einem wesentlich weiteren zeitlichen Spektrum Verantwortung tragen als das Bundesarchiv. Mit seiner Strategie eines „Primats des Digitalen“ beraubt sich das Bundesarchiv wesentlicher Argumente etwa für nötige fachgerechte Archivbauten. Denn warum sollte der Haushaltsgesetzgeber investieren, wenn man ohnehin den Erhalt des analogen Originals in seiner Entstehungsform nicht mehr ernsthaft verfolgt? Wir erinnern uns an die Argumentation des Sächsischen Rechnungshofs im Jahr 2003.[26]

4 Gefahr des Verlusts unikalen Kulturguts

Das Bundesarchiv nimmt in Kauf, dass große Massen unikalen Kulturguts dem Zerfall preisgegeben werden, obwohl es geeignete, auch mengentaugliche Verfahren zum Substanzerhalt der allermeisten in öffentlichen Archiven vorkommenden Medientypen gibt, insbesondere für das schriftliche Kulturgut. Entsprechende Empfehlungen der Fachgremien im deutschen Archiv- und Bibliothekswesen werden ignoriert.[27] Etablierte Verfahren wie die Massenentsäuerung, mit denen – rechtzeitig durchgeführt – erwiesenermaßen eine Verlängerung der Lebensdauer von Schriftgut um viele hundert Jahre erreicht wird, werden als angeblich ungeeignet von der Agenda genommen, selbst fundamentale Maßnahmen wie eine fachgerechte Verpackung allenfalls als optional nachrangig zu einer Digitalisierung in Betracht gezogen.[28] Stattdessen verfolgt das Bundesarchiv ein Konzept der Kaltlagerung, um chemische Abbauprozesse zu verlangsamen. Dabei ist bislang nicht erkennbar, dass das Bundesarchiv eine solche – übrigens energieintensive und auf störungsfreien Dauerbetrieb angewiesene – Strategie in Zeiten der Verknappung und massiven Verteuerung von Energie auf den Weg bringen und umsetzen kann. Der Weg wirft also auch angesichts von ökologischen und ökonomischen Rahmenbedingungen Fragen auf.

Die auf die Ersatzdigitalisierung ausgerichtete Bestandserhaltungsstrategie des Bundesarchivs problematisiert nicht die digitale Langzeitarchivierung, die – wenn sie dauerhaft das Original ersetzen soll – sehr aufwendig und kostenintensiv ist. Die zusätzlichen Herausforderungen im Zusammenhang der Resilienz bei Cyber-Kriminalität werden ebenso wenig thematisiert wie der Informationswert der Materialität historischer Quellen.

Der KEK-Fachbeirat bedauert, dass in den Beiträgen des Bundesarchivs Originalerhalt und Digitalisierung in fachlich ungeeigneter Weise gegeneinander ausgespielt werden. Digitalisierung ist selbstverständlich seit Jahren für kulturgutbewahrende Einrichtungen ein zentrales Arbeitsfeld. Viele Nutzungszwecke lassen sich mithilfe eines Digitalisats erfüllen, aber eben nicht alle, z. B. materialitätsbezogene Fragestellungen. Die Entlarvung der Fälschung der Hitlertagebücher durch Expert*innen auch des Bundesarchivs mit papiertechnischen Untersuchungen wäre anhand von Digitalisaten nicht gelungen.[29] Die Annahme, nach fachlichen Standards erzeugte Digitalisate seien hinsichtlich Authentizität und Integrität grundsätzlich mit den analogen Vorlagen identisch,[30] ist schlichtweg falsch und zeugt von wenig Verständnis für den Quellenwert historischer Überlieferung. Es existiert keine Technik der Digitalisierung, die Authentizität quasi „konservieren“ kann. Gerade wenn man politisch motivierter, verfälschender Interpretation der Geschichte vorbeugen möchte, kann man auf die ganzheitliche Information, die nur ein Original bietet, nicht verzichten.

Ausgeklammert wird bei dem Konzept der „Sicherungsdigitalisierung“ des Bundesarchivs zudem die Perspektive auf die „Ewigkeitskosten“. Die Autor*innen des erwähnten Artikels in der ABI Technik von 2021 betrachten nur die Kosten für die Erstellung und die Bewahrung der Digitalisate in den nächsten zehn Jahren[31] – eine für Archive ungewöhnlich kurze Perspektive. Sollen die Digitalisate dauerhaft zumindest den Informationsgehalt der Originale ersetzen, wird man diese in vergleichbarer Form archivieren müssen wie digital entstandene Unterlagen; dies dann freilich mit dem wirtschaftlich relevanten Manko, dass die bei der Digitalisierung einer Akte entstandenen „Bilddaten“ ein weitaus größeres Datenvolumen beanspruchen als etwa eine Akte vergleichbaren Umfangs aus einem Dokumentenmanagementsystem. Es darf bezweifelt werden, dass in der Perspektive dauernder Aufbewahrung die Ersatzdigitalisierung tatsächlich wirtschaftlicher ist als der Originalerhalt.[32] Sie ist auch kein Ersatz für die Sicherung auf Mikrofilm.

5 Originalerhalt und Digitalisierung

Es sei an dieser Stelle betont: Archive und Bibliotheken sollen und müssen ihre Anstrengungen bei der Schutz- und Nutzungsdigitalisierung weiter ausbauen, um ihre Bestände im Sinn einer Notfallvorsorge zu schützen und orts- sowie zeitunabhängige Einsichtnahme zu ermöglichen. Aber Originalerhalt und Digitalisierung müssen Hand in Hand gehen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden: Originalerhalt und Digitalisierung statt Originalerhalt oder Digitalisierung. Beides lässt sich so kombinieren, dass Synergieeffekte in wirtschaftlicher und strategischer Hinsicht und nicht zuletzt im Sinne von Nachhaltigkeit erzeugt werden, die beiden Ansprüchen gerecht werden. Wenn klar ist, dass für den Erhalt des Originals das Mögliche getan wurde, sind bei weitem nicht so hohe Standards anzulegen wie an die Sicherung von Ersatzdigitalisaten, da im Fall des Datenverlusts erneut auf das Original mit einer größtmöglichen Qualitätsreserve zurückgegriffen werden kann. Wir sollten die Originale nicht für unsere heutigen Nutzungszwecke „verbrauchen“, denn jede neue Generation hat das Recht, sich schriftliches Kulturgut selbst anzueignen, historische Überlieferung nach ihren eigenen Erkenntnisbedürfnissen zu befragen und mit eigenen Methoden zu erschließen. Es steht außer Frage, dass sich auch die Digitalisierungsmöglichkeiten weiterentwickeln werden; aber einmal „abgeschnittene“ Information ist einem nach heutigen Standards erstellten Ersatzdigitalisat höchstwahrscheinlich nie wieder zu entlocken, sie wäre durch die Vernichtung des Originals unwiederbringlich verloren.

Und ja: Es gibt Medien, für die kurzfristig eine Ersatzdigitalisierung angezeigt ist, um die Informationen überhaupt zu erhalten, sei es, weil sie unumkehrbaren, rasant verlaufenden Zerfallsprozessen ausgesetzt sind oder es an Reproduktionsmöglichkeiten und „Abspielgeräten“ fehlt („doppelte Obsoleszenz“): Farbfotografien, Magnetbänder, obsolete Videoformate und das von Hollmann zurecht angeführte Film-Erbe.[33]

Und ja: In den schriftlichen Kulturgut bewahrenden Einrichtungen gibt es auch Bestände, bei denen aufgrund des fortgeschrittenen Schadenszustands und/oder der massenhaften Gleichförmigkeit bzw. Mehrfachüberlieferung eine sachliche Diskussion über Ersatzdigitalisierung geführt werden darf.[34] Komplexe Problemstellungen verlangen angemessen differenzierte Lösungen. Wer aber grundsätzlich den Primat des Originals zugunsten eines Primats des Digitalen aufgibt, nimmt den massenhaften Totalverlust von Kulturgut billigend in Kauf, hat ohne Not und angesichts allenfalls vage absehbarer Zukunftsfolgen vor einer lösbaren Aufgabe kapituliert. Denn: Nichts kann ein Original vollumfänglich ersetzen!


Anmerkung

Die Autor:innen äußern sich in diesem Artikel als Mitglieder des Fachbeirats der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.


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Jakob Frohmann M.A.

Jakob Frohmann M.A.

Dr. Johannes Kistenich-Zerfaß

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Maria Elisabeth Müller

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Stephanie Preuss

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Dr. Alessandra Sorbello Staub

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Dr. Laura Scherr

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Generaldirektion

Prof. Dr. Marcus Stumpf

Prof. Dr. Marcus Stumpf

Published Online: 2023-05-03
Published in Print: 2023-05-25

© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 30.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/abitech-2023-0018/html
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