Zusammenfassung
Im Rahmen eines mehrwöchigen fachlichen Austausches in Japan untersucht der Autor die Ausgangslage und die Bedeutung von OER (Open Educational Resources) in Japan. Einige japanische Universitäten setzen sich seit fast 20 Jahren intensiv mit dem Thema Open Educational Resources (OER) auseinander. Massive Open Online Courses (MOOCs) werden als besonders vorteilhafte Form von OER angesehen, trotzdem ist eine strukturierte Verwendung in Klassensettings selten. Als wichtige Gelingensbedingung für eine breitenwirksame Erstellung und Nachnutzung von OER wird auch in Japan eine strategische Verankerung auf Hochschulebene gesehen.
Abstract
In this article, the author investigates the spread and use of Open Educational Resources (OER) in Japan. Some Japanese Higher Education Institutions have been involved with the Topic of OER for almost 20 years. In particular, Massive Open Online Courses (MOOCs) are a popular form of OER. However, MOOCs are rarely used in university classrooms in a structured manner. The strategic anchoring of OER at university level is seen as crucial for the widespread creation and use of OER.
1 Einleitung
Japan – Land der Kirschblüten, Traditionen, Animes – und der Universitäten: Mit einer Abschlussquote von 65 % in einer tertiären Bildungseinrichtung weisen die 25–34-Jährigen eine der höchsten Studienabschlussquoten in dieser Altersgruppe weltweit aus. Diese Quote wird nur von Kanada und Südkorea übertroffen und ist in der Tendenz steigend.[1] Damit gehört Japan weltweit zu den Gesellschaften mit dem höchsten Akademisierungsgrad. Im Jahr 2018 belief sich die Zahl der an 803 privaten und staatlichen Universitäten eingeschriebenen Studierenden auf beinahe 3 900 000.[2] Im Vergleich dazu weist die von der Bevölkerung her gemessen rund dreizehnmal kleinere Schweiz im gleichen Zeitraum rund 248 000 in Universitäten, Fachhochschulen und pädagogische Hochschulen eingeschriebene Studierende auf und weicht damit prozentual um ca. 16 % nach unten ab.[3]
Um das Hochschulbildungswesen zu untersuchen, begab ich mich im Oktober 2022 für rund einen Monat im Rahmen eines Austauschprogrammes nach Japan. Möglich gemacht und organisiert wurde dies durch Swissnex,[4] einer Initiative des schweizerischen Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation und Teil des eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten. Erklärtes Ziel von Swissnex ist die Förderung des schweizerischen Bildungsstandorts als erstklassiger Bildungs-, Forschung- und Innovationshub, die Stärkung internationaler Netzwerke, das Informieren zu neuesten Entwicklungen und Trends in Forschung und Bildung sowie die Inspiration der an dem Programm teilnehmenden Personen durch den Wissenstransfer mit Expertinnen und Experten vor Ort.[5]
Das Hauptaugenmerk während meines Aufenthalts richtete ich auf den Themenbereich Openness in Education und damit zusammenhängend auf Open Educational Resources (OER) sowie das japanische Verständnis von OER. Meine Absicht war die Sammlung neuer Ideen zur Befruchtung der eigenen Arbeit im Bereich OER. Bei meinen Besuchen der Kyoto Universität[6] und der Bukkyo Universität[7] wurde ich eingeladen, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen. Dabei hatte ich die Möglichkeit, die verschiedenen Arbeitsbereiche an den beiden Hochschulen rund um OER einzusehen und mich mit vielen Dozierenden in Interviews auszutauschen oder sie direkt zu begleiten. Auch dem administrativ-technischen Personal, welches ebenfalls in die Erstellung von OER involviert ist, konnte ich bei seiner täglichen Arbeit für einige Tage über die Schulter schauen. Neben dem Einblick in den Fachbereich OER ergaben sich für mich wertvolle Einsichten zur japanischen Arbeitskultur und zum japanischen Hochschulbibliothekswesen.
2 Ausgangslage für OER an japanischen Universitäten
Japan ist eine der am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt: Sinkende Geburtenraten gegenüber steigender Lebenserwartung stellen in der kommenden Dekade die Wirtschaft und das Vorsorgesystem des Inselstaates vor große Herausforderungen.[8] Dies macht sich auch im Universitätswesen bemerkbar: Derzeit noch steigende Studierendenzahlen gegenüber zunehmend schwerer verfügbaren Lehrfachkräften im tertiären Bildungsbereich könnten sich als Stolperstein für die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt erweisen, zumal fehlende Arbeitskräfte auch nicht durch ausländische Fachkräfte kompensiert werden. Einerseits ist es durch traditionell rigide Einreiseregelungen selbst für hochqualifizierte Fachkräfte schwierig, ein Arbeitsvisum in Japan zu erhalten.[9] Andererseits ist die vorherrschende Unterrichtssprache an den Universitäten nach wie vor Japanisch, eine Sprache, die außerhalb des Inselstaates nur wenig gesprochen wird und somit als Zweitsprache kaum verbreitet ist. Das Land reagiert auf diesen Umstand auf japanische Weise: Um den Auswirkungen des Arbeitskräftemangels in der Bevölkerung entgegenzuwirken, setzt Japan auf Innovation, Technik und Steigerung der Effizienz.[10] Dies gilt selbstredend auch für den Bereich der Bildung. Hier setzen sich Dozierende mit neuen Methoden für eine zeitgemäße und effiziente Hochschullehre auseinander.
Ein Baustein, wie dies gelingen kann, sind OER. Gemäß der Definition der UNESCO sind OER Lehrmaterialien, die mittels einer sogenannten offenen Lizenz die kostenlose Nutzung, Bearbeitung und Weiterverbreitung durch Dritte unkompliziert möglich machen.[11] OER bergen viel Potential für die Hochschullehre, insbesondere zwei Punkte erscheinen im japanischen Hochschulkontext besonders attraktiv.
Nutzung von Synergien
Dozierende haben in vielen Fällen jeweils zwei Pflichten bei einer Anstellung an einer Universität: Einerseits die Ausbildung von Studierenden und andererseits die Forschung. In der Forschung ist es selbstverständlich, dass Forschungsergebnisse in Form von Publikationen geteilt werden. Forschende bauen dabei auf die Erkenntnisse, das Wissen und die Leistungen von Kolleginnen und Kollegen auf. Ohne dieses Teilen wäre wissenschaftlicher Fortschritt gar nicht möglich. Analog dazu verbringen Dozierende ebenso unzählige Stunden mit der Vorbereitung für ihren Unterricht, doch gerade die Wissensschätze in Form von Lehrmaterialien, die während dieser Vorbereitung entstehen, werden unter Verschluss gehalten. Durch die Verwendung von OER könnten Lehrende auf die Vorarbeit von anderen Dozierenden aufbauen, Materialien nachnutzen oder Teile daraus für ihren eigenen Unterricht adaptieren. Durch die Nutzung von Synergien sowie durch das Aufbauen auf der didaktischen Vorarbeit anderer kann schlicht die Effizienz in der Lehre gesteigert werden.
Wettbewerbsvorteil durch Ausweis der Leistungen der Lehre
In Japan ist der Konkurrenzkampf unter den Hochschulen besonders ausgeprägt. Dies liegt zu einem großen Teil daran, dass anders als in Deutschland oder der Schweiz Universitäten zu einem erheblichen Teil durch Studiengebühren mitgetragen werden. Rund 77 % der japanischen Universitäten sind private Institutionen und finanzieren sich zu einem großen Teil über Studiengebühren, welche je nach Renommee einer Universität und je nach Studienfach im Bereich zwischen umgerechnet 4 000 und 8 000 Euro pro Jahr liegen.[12] OER, also frei zugängliche Lehr- und Lernmaterialien im Internet, können von einer Universität als Marketing-Element zur Gewinnung von neuen Studierenden verstanden werden, denn sie bieten potenziell interessierten Studierenden einen idealen Einblick, was an einer Universität wie gelehrt wird. Durch die freie Zurverfügungstellung von Lehrmaterialien wird ein positives Signal an Studieninteressierte und die allgemeine Öffentlichkeit gesendet, dass die Hochschule sich einerseits für das vierte Nachhaltigkeitsziel der UNESCO – „inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern“[13] – einsetzt, und andererseits die Universität sich solcher methodisch-didaktisch spannender, neuer Szenarien annimmt, welche durch die fortschreitende Digitalisierung der Gesellschaft möglich werden, und diese in ihre Hochschullehre integriert.
Sprich: Es gibt gute Gründe, warum das Thema Openness in Education gemäß diesen formalen Kriterien durchaus auf fruchtbaren Boden fallen könnte. Meine Vorkenntnisse der OER-Landschaft im japanischen Bildungskontext waren gering, ich machte mich lediglich mit einigen Vermutungen und Analysen aus der Ferne auf den Weg.
Es konnte davon ausgegangen werden, dass die Bedingungen für OER in Japan aus historischen Gründen tatsächlich gut sein mussten. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges wurde das bis dahin sehr konservative[14] Bildungssystem durch die amerikanische Besatzungsmacht stark nach dem eigenen Vorbild in den USA umgekrempelt.[15] Auch heute lassen sich noch deutliche Parallelen erkennen.[16] In den USA ist das Thema OER in der Hochschullehre angekommen.[17] Japan hat sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts innerhalb kurzer Zeit durch Innovationskraft zeitweise zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt hochgearbeitet. Dies war vor allem möglich durch eine Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Ideen und Technologien, ein starkes Bildungssystem und eine Gesellschaft, die dieses sehr hochachtet.[18] Es war also denkbar, dass japanische Universitäten dem Konzept von OER offen gegenüberstehen. Zudem war es meiner europäisch geprägten Sicht nach vorstellbar, dass OER im Sinne einer Bottom-Up-Bewegung von Studierenden angetrieben sein könnte. Diesen Rückschluss zog ich im Hinblick auf die hohen Studiengebühren für eine Universitätsbildung in Japan. Gerade Open Textbooks, also das Zur-Verfügung-Stellen von Gratis-Lehrbüchern, half beispielsweise Studierenden in den USA und England, die finanzielle Last des Studiums zu reduzieren und verbesserte sogar die Lernergebnisse.[19] Umso vorstellbarer also, dass der Wunsch nach mehr OER in der Bildung von Studierenden ausgehen könnte.
3 OER in der Praxis
3.1 OER an der Universität Kyoto
3.1.1 Strategie und Umsetzung: MOOCs
Während des ganzen Monats Oktober 2022 hatte ich die Gelegenheit, die OER-Landschaft an Japans Hochschulen zu untersuchen und meine Thesen zu überprüfen. Die erste Station führte mich an die Kyoto Universität, welche seit Jahren in diversen Hochschul-Rankings Top-Plätze in Japan erzielt.[20] Die Kyoto Universität setzte sich sehr früh mit dem Gedanken von frei zugänglichen Bildungsmaterialien auseinander, so war sie eine der ersten Institutionen außerhalb der USA, die ab 2005 regelmäßig Materialien zur freien Nachnutzung auf OpenCourseWare stellte.[21] In diesen rund 18 Jahren bis heute hat die Universität dort rund 1000 Materialien hochgeladen. Ab 2014 setzte man dann aber mit dem Bekannter-Werden von Massive Open Online Courses (MOOCs)[22] auf edX[23] vermehrt auf Produktionen für dieses offene Lehrangebot. Wenn in Japan von OER gesprochen wird, dann gehen die ersten Gedanken in der Regel in Richtung MOOCs, denn gerade diese ganzheitlichen Bildungsformate, mit einer engen Führung des Lernerlebnisses durch eine klare Struktur, bewerten viele Lernende als vorteilhaft. Die Kyoto Universität bemüht sich deshalb auch konstant, Kurse auf edX zur Verfügung zu stellen, die sich in der Regel großer Beliebtheit erfreuen. Dazu stellt die Universität nicht nur ein umfassendes Media Lab zur Verfügung, welches von den Dozierenden, die die Kurse erstellen, genutzt werden kann, sondern auch ein Team aus Expertinnen und Experten zur technischen Unterstützung des Produktionsprozesses.
Vor Beginn der Produktion stellt sich den MOOC-Teams stets die Frage, in welcher Sprache sie den Kurs erstellen wollen. Viele Dozierende ziehen die japanische Sprache vor, da sie ihre Englischfähigkeiten als gering einschätzen. Allerdings hat ein Lehrangebot auf Englisch potenziell eine viel größere Reichweite. In Kyoto werden MOOCs auch als Marketinginstrument verstanden und im Wettbewerb mit anderen Universitäten zur Gewinnung von Studierenden und zur Bewerbung des eigenen Lehrangebotes eingesetzt. Doch gerade dann, wenn ein Kurs auf Englisch angeboten wird, tritt man in Konkurrenz mit Top-Universitäten weltweit. Soll eine große Zahl an Teilnehmenden erreicht werden, so ist ein gewisses Alleinstellungsmerkmal unbedingt erforderlich. In diesem Zusammenhang entwickelte die Universität Kyoto eine spannende Strategie: Wenn die Kurse auf Englisch produziert werden, wird für MOOCs vermehrt auf besonders ausgefallene Themen gesetzt, die von der Ausrichtung oder den Inhalten her eher in einem akademischen Nischenbereich zu verorten sind. Ein Beispiel dafür ist ein Kurs mit dem Titel „Ethics in Life Sciences and Healthcare: Exploring Bioethics through Manga“.[24] Vom Inhalt her mutet das Thema Ethik in Bio- und Gesundheitswissenschaften bereits exotisch an, doch der Zusatz “exploring Bioethics through Manga”, das Erkunden des Fachgebiets anhand von japanischen Comics also, machen diesen MOOC zu einem absolut einzigartigen Lernerlebnis, das man so vermutlich nur in einer japanischen Universität finden kann. Die Kurse auf edX sind ein ideales Fenster, um die kulturellen Unterschiede in Didaktik und Pädagogik zwischen der eigenen Hochschule und dem jeweiligen Land mit der Welt zu teilen. Dies ist mitunter ein Grund für die Erfolge der japanischen Kurse auf Englisch auf edX: Die Verbindung von typisch japanischen Elementen, wie z. B. Manga mit innovativer Wissenschaft, verleiht diesen Bildungsangeboten eine besondere Sichtbarkeit.
Während meines Besuchs deutete sich eine Änderung der Strategie im Hinblick auf Open Education an der Universität von Kyoto an. Die Zukunft der MOOC-Erstellung ist ungewiss. Nach einigen personellen Wechseln in der Hochschulverwaltung wurden strategisch und thematisch neue Schwerpunkte im Lehrbetrieb gesetzt. An der Universität kamen intern zunehmend Bedenken betreffend des effektiven Nutzens einer intensiven Produktion von Kursen auf edX auf. Die Erstellung von MOOCs ist teuer, sowie ressourcen- und zeitaufwändig. Die neue Hochschuladministration befand, dass eine Hochschule sich in der Lehre auf deren Kernbereich, nämlich die Ausbildung von eingeschriebenen Studierenden, fokussieren soll. Die Kosten-Nutzen-Rechnung ginge nicht mehr auf, da die Möglichkeit auf edX für das Abschließen des Kurses ein kostenpflichtiges Zertifikat zu beziehen, nicht annähernd half, die Kosten des Produktionsprozesses zu decken. Dies liegt vor allem daran, dass die wenigsten Absolventen eines Kurses ein solches Zertifikat erwerben.[25] Ebenso wurde die kürzlich erfolgte Übernahme der non-Profit Plattform edX durch den kommerziellen, amerikanischen Bildungstechnologiekonzern 2U Inc. intern als kritisch angesehen, da vermutet wird, dass demnächst ebendieses Modell des Anbietens offen zugänglicher Bildungsangebote aufgeweicht werden könnte. Dies führte dazu, dass die finanziellen Mittel, die in die Produktion von MOOCs flossen, reduziert wurden. Diese Entwicklung zeigte mir deutlich, dass es für das Gedeihen des Themas Open Education von großer Wichtigkeit ist, dass die strategischen Entscheidungsträger einer Hochschule sich für eine Kultur des freien Wissensaustauschs begeistern. Nachvollziehbarerweise sorgte dieser Gesinnungswandel der Hochschuladministration für großen Unmut bei allen Verfechterinnen und Verfechtern der Idee von OER an der Universität Kyoto. Denn ohne ein Flagship-Projekt wie MOOCs, so vermuten die Beteiligten, wird das Thema OER einen schweren Stand haben, relevant zu bleiben.

Im Greenroom können Dozierende der Universität Kyoto Videos für ihre MOOCs aufnehmen (Foto: Roger Flühler)

Im Raum nebenan unterstützen Mitarbeitende des Media Labs die technische MOOC-Produktion (Foto: Roger Flühler)
3.1.2 Verankerung von OER
OER als Schwesterdisziplin zu Open Access unter dem breiteren Framework von Open Science ist an der Universität Kyoto ein bekannter Begriff. 2015 wurde die Open-Access-Policy verabschiedet, in der die Universität sich für das offene Teilen von Forschungsergebnissen in Form von Publikationen ausspricht.[26] Ein ähnliches Dokument oder eine allgemeine Open-Science-Strategie, in der OER als thematischer Schwerpunkt für die Hochschule verankert ist, gibt es aktuell nicht. Dennoch überlegt sich die Bibliothek, wie sie vor allem infrastrukturelle Maßnahmen zur Unterstützung der Erstellung von OER bereitstellen kann. Aktuell bewegen sich die individuellen Anfragen von Dozierenden, die ihre Unterrichtsmaterialien als OER publizieren wollen, noch in einem überschaubaren Bereich. Zumeist handelt es sich um Enthusiasten, welche die Idee einer Kultur des Teilens vorleben möchten. Es gibt kein gesondertes Kompetenzzentrum, das mit eigenen Personalressourcen ausgestattet wäre oder sich ausschließlich mit OER beschäftigt. Die Zahl der Anfragen ist dafür noch zu gering. Die Bibliothek wäre aber vom Grundgedanken her gewillt, sich vermehrt mit dem Thema auseinanderzusetzen, sollte die Nachfrage dazu steigen.
Die Beobachtungen, die sowohl von den Mitarbeitenden im Media Lab als auch von jenen in der Bibliothek in punkto Produktion von OER gemacht wurden, gleichen sich zum größten Teil. Im Produktionsprozess von OER entstehen viele Fragen, wobei wichtige Punkte oft das Finden von geeignetem Bildmaterial für OER und das korrekte Lizenzieren sind. Auf der Infrastrukturebene wurde vor allem darüber nachgedacht, wie die OER-Produktion nachhaltig und breitenwirksam über die ganze Universität incentiviert werden kann. Gerade finanzielle Anreize wurden als wirkungsvolles Förderinstrument identifiziert: Die Erstellung von Lehrmaterialien unter OER-Aspekten braucht viel Zeit. Wenn diese nicht von der Universität entlohnt wird, sondern dieser Mehraufwand von den Dozierenden in der Freizeit getragen werden muss, begeistern sich trotz guter Absichten nur wenige für das Thema. Allerdings handelt es sich bei einer finanziellen Incentivierung um eine sehr schwer umsetzbare Maßnahme, denn dazu müssten entsprechende Fördertöpfe geschaffen werden – und dazu braucht es ein klares Bekenntnis der Hochschuladministration zu OER.
Ein weiterer Punkt, der in der Diskussion rund um OER vorgebracht wird, ist die Qualitätskontrolle. Die Kyoto Universität geht dieses Thema sehr pragmatisch an: einen globalen Qualitätsstandard für Lernressourcen könne es nicht geben. Eine renommierte, ressourcenstarke Hochschule hat andere Möglichkeiten für die Erstellung von OER als eine kleine Universität. Auch wenn Dozierende Materialien in einer Fremdsprache erstellen, in der sie sich nicht heimisch fühlen, kann sich dies negativ auf die Qualität auswirken. Des Weiteren misst sich die Qualität auch nicht zwangsläufig an der Komplexität oder daran, dass das Niveau des Materials möglichst hoch ist. Gerade die Generation, die jetzt mit dem Studium beginnt, ist mit einem Überangebot an leicht zugänglichen Informationen aufgewachsen. Deshalb, so die Überlegung, soll den nachnutzenden Personen die Entscheidung überlassen werden, ob eine frei verfügbare Lernressource für ihre Bedürfnisse geeignet ist. Dieser Ansatz setzt somit ein großes Vertrauen in die Informationskompetenz von Nachnutzenden voraus.
3.2 An der Bukkyo Universität in Kyoto
3.2.1 Strategie und Umsetzung: J-MOOC
Die zweite Station meines Aufenthalts führte mich an die Bukkyo Universität in Kyoto, eine etwas kleinere, aber ebenfalls äußerst renommierte Hochschule, die eine weit zurückreichende Tradition im Bereich des Studiums des Buddhismus hat. Als Gast im Open Learning Center erhielt ich auch dort einen spannenden Einblick in die Strategien zur Öffnung der Hochschulbildung. Auch hier zeigte sich ein ähnliches Bild wie an der Kyoto Universität: Vor allem MOOCs gelten als vorteilhafte Form von OER. Die Bukkyo Universität publiziert ihre Kurse hauptsächlich auf der Plattform J-MOOC,[27] welche vor allem Kurse von japanischen Universitäten verbreitet. Da die Kurse zum überwiegenden Teil in Japanisch gehalten sind, bewegen sich hauptsächlich japanische Lernende auf J-MOOC. Gerade während der Coronapandemie konnten die MOOCs auf J-MOOC neue Nutzende generieren, vor allem in den Bereichen Psychologie und Geschichte. Trotzdem blieb die Entwicklung der Nutzendenzahlen, auf die viele Befürworter des offenen Kursformates gehofft hatten, hinter den Erwartungen zurück. Damit Dozierende MOOCs als integralen Bestandteil ihrer Lehrveranstaltungen in einer strukturierten Art und Weise einsetzen, muss noch viel Sensibilisierungsarbeit geleistet und ein höheres Bewusstsein für den didaktischen Nutzen solcher Bildungsformate geschaffen werden, so der generelle Tenor an der Universität.
Vereinzelt versuchen Dozierende der Bukkyo Universität, MOOCs in ihr Unterrichtskonzept einzubringen, vor allem zwischen den Präsenzphasen zur Vor- oder Nachbereitung von Lektionen. Ein Grund, warum sich die Idee des Einsatzes von MOOCs im Hochschulunterricht nicht durchzusetzen vermag, liegt einerseits daran, dass viele Dozierende der Verwendung von Materialien von unbekannten Kolleginnen und Kollegen skeptisch gegenüberstehen. Andererseits finden aber auch viele Studierende das Konzept von MOOCs schwerfällig. Insbesondere in Fällen, in denen kein kostenpflichtiges Zertifikat erworben wird, der Besuch des Kurses also interessen- und nicht abschlussgetrieben ist, werden Kurse oftmals über einen großen zeitlichen Horizont besucht. Da viele MOOCs nach einer gewissen Frist nicht mehr verfügbar sind, ist ein Abschluss des Kurses manchmal faktisch nicht mehr möglich. Diese begrenzte Verfügbarkeit stört viele Studierende, da sie hierdurch gezwungen sind, die Kurse mit einer höheren zeitlichen Verpflichtung innerhalb eines kürzeren Zeitraums abzuschließen. Das on-demand Format von Videos in MOOCs wird geschätzt, dieses wird jedoch durch einen vergleichbaren Fundus an Bildungsangeboten auf YouTube konkurrenziert. Dort ist der Zugang fast noch einfacher als bei MOOCs, der Zugriff ist nicht zeitlich begrenzt, die Lerninhalte können quasi nebenbei konsumiert werden, da meist nur zugehört wird und keine zusätzlichen Aufgaben gelöst werden müssen wie bei einem MOOC. Hinzu kommt, dass die Geschwindigkeit der Videos zur Beschleunigung der Informationsvermittlung auf YouTube sogar verdoppelt werden kann, eine Funktion, die rege genutzt wird, wie mir viele Studierende erklärten.
3.2.2 Das Projekt NIME-glad
Prof. Dr. Masanori Shinohara,[28] Professor für Lehrtechnologien am Departement für Bildungswissenschaften der Bukkyo Universität, klärte mich über ein äußerst ambitioniertes Projekt im Zusammenhang mit der Bereitstellung von frei nachnutzbaren Bildungsmaterialien auf. Dieses Projekt nahm bereits im Jahre 2005 seinen Anfang. Das National Institute of Multimedia Education (NIME)[29] entwickelte zunächst im Verbund mit Belgien und den USA eine Lernplattform mit dem Namen NIME-glad (National Institute of Multimedia Education – Gateway to Learning for Ability Development), auf der Lehrende ihre Lehrmaterialien für die freie Nachnutzung zur Verfügung stellen konnten. Später wurde das Projekt sogar noch erweitert, indem über einen gemeinsamen Metadaten-Suchindex OER-Repositorien aus insgesamt zwölf Ländern angesteuert werden konnten.[30] Richtiges Leben kehrte auf der Plattform in Japan jedoch nicht ein: Wie bei vielen ähnlich gelagerten Projekten war das Problem, dass viele Personen gerne Material nachgenutzt hätten, aber im Gegenzug nicht bereit waren, ihre eigenen Materialien zu teilen. Zudem begann die Entwicklung des Suchindexes bereits im Jahre 2004. In einer Zeit also, in der die Durchdringung der Hochschullehre mit digitalen Tools noch keine Selbstverständlichkeit war und die Vermittlung der Inhalte größtenteils analog erfolgte. Auch die notwendigen information and communications technology-Infrastrukturen (ICT-Infrastrukturen) waren in vielen Teilen der Welt noch gar nicht so weit entwickelt und deren Nutzung in der Gesellschaft noch nicht so verbreitet, wie sie es heute sind. Die japanische OER-Plattform existiert heute nicht mehr. Tatsächlich ist es sehr schwierig, überhaupt noch Informationen über das ehemalige japanische OER-Repositorium und den ambitionierten Suchindex zu finden. Die Idee einer Plattform, die sich von Japan über Europa bis nach Nord- und Südamerika, sowie Australien erstreckte, ist gescheitert.

Geplante Funktionsweise des NIME-Suchindexes (Eigene Grafik in Anlehnung an Yamada & Morimoto, 2010)
4 Schlussbetrachtung
Als Fazit des Erkundens der japanischen OER-Landschaft lässt sich sagen, dass die Auffassung bei meinen Gesprächspartnern gegenüber der Idee Openness in Education und OER durchweg positiv war. Begriffe, die oft im Zusammenhang mit Sinn und Zweck des Themas fielen, waren equality, fairness und human development. Einige japanische Universitäten waren von der Geburtsstunde an Teil der OER-Bewegung. Wie in anderen Ländern auch wird Bildung als wichtiger Treiber für soziale Mobilität gesehen – OER sind gemäß den Befürworterinnen und Befürwortern von offenen Bildungsangeboten in Japan ein wichtiges Puzzleteil, um global mehr Bildungsgerechtigkeit zu schaffen. Dabei gelten vor allem MOOCs als eine besonders vorteilhafte Gattung von OER, da das umfassende Kurskonzept ein ganzheitliches Lernerlebnis ermöglicht, die Lernenden durch einen gegliederten Lernprozess geführt werden und die MOOCs auf edX und der inländischen J-Mooc-Plattform gut vermarktet und sichtbar gemacht werden können. Allerdings ist die strukturierte Verwendung von MOOCs in Klassensettings noch eher eine Seltenheit.
Bei der Einschätzung, welches Material sich überhaupt als OER qualifiziert, unterscheidet sich Japan auf der einen Seite stark von der Schweiz oder Deutschland auf der anderen Seite: Während sich bei uns im europäischen Raum die Diskussion oft um das offene Lizenzieren mit Creative-Commons-Lizenzen dreht, ist die Lizenzierung in Japan eher nebensächlich. Der Fokus in Japan liegt auf der Bereitstellung von Bildungsmaterialien, die frei nachgenutzt werden können.
Obligatorische Gelingensbedingungen für OER sind auch in Japan schwer zu definieren. Wichtig scheint aber, Leistungen in der Lehre zu belohnen. Grundvoraussetzung hierfür ist eine klare strategische Verankerung des Themenbereichs Openness in Education auf Hochschul- oder Landesebene, durch die die Produktion von OER zumindest ideell unterstützt und wertgeschätzt wird. Doch wie mir versichert wurde, werden die Enthusiastinnen und Enthusiasten des Themas an Japans Universitäten auch weiterhin für OER kämpfen, komme was da wolle.
About the author

Roger Flühler
© 2023 bei den Autoren, publiziert von De Gruyter.
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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