Durkheims Kategorienprojekt und die Kollektivierung der Klassiker
Rezensierte Publikation:
Johannes F. M. Schick / Mario Schmidt / Martin Zillinger (Hrsg.), The Social Origins of Thought: Durkheim, Mauss, and the Category Project. New York/Oxford: Berghahn Books 2022, 330 Seiten, gb., 141,55 €
Auch Jahrzehnte nach den Grenzöffnungen des Schengen-Raumes scheint der Rhein noch immer ein so breiter Strom zu sein, dass vieles Wissen auf der einen Seite den Sprung auf die andere Seite nicht schafft. Das schien schon zu Zeiten von Durkheim und Weber zu gelten, und es scheint auch im Zeitalter des Internets immer noch so zu sein, als müsste das Wissen beider Rheinseiten den Rhein hinunter in die Nordsee gespült, um dann im Angelsächsischen (sehr selektiv) geborgen und auf die je andere Seite rückgeführt zu werden. Auf diese Weise erreicht uns ein englischsprachiges Buch über „die sozialen Ursprünge des Wissens“ und das von Durkheim angeregte „Kategorienprojekt“. Es wurde von einer Gruppe deutschsprachiger Autoren herausgegeben, deren Schwerpunkt deutlich in der Ethnologie liegt, und versammelt eine Reihe internationaler Forschender, unter denen auch einige Vertreter:innen der Soziologie zu finden sind. Auch wenn der ethnologische oder „anthropologische“ Zug der Arbeit sehr deutlich ist, handelt es sich vor allem um wissenschaftshistorische Beiträge, zumal Durkheim, Mauss und andere Vertreter:innen dieser Forschungslinie ebenso zu den Klassikern der Anthropologie wie zu denen der Soziologie zählen. Es ist durchaus auch ein Unterschied zwischen den Wissenskulturen diesseits und jenseits des Rheins, dass sich die Soziologie dort schon von Anfang an sehr intensiv mit damals aktuellen vergleichenden ethnologischen Befunden aus aller Welt beschäftigt hat und damit die Grenzen zur Ethnologie verflüssigte (ein Umstand, der über Levy-Strauss und Bourdieu in gewissem Sinne bis Latour reicht), während sich hier die klassische Soziologie eher auf die Geschichte stützte. Umso dankbarer muss man den Herausgebern sein, dass sie auch die Soziologie mit diesem Band daran erinnert, wie sehr beide Seiten zusammengehören. Gerade bei Durkheim, der in der einführenden Literatur hierzulande vor allem mit den „sozialen Tatsachen“, der „Arbeitsteilung“ und der „Selbstmord-Studie“ verbunden wird, erinnert dieses Buch daran, welche enorme Bedeutung seine mit ethnographischen Daten verfahrenden Analysen nicht nur für den Teilbereich der Religionssoziologie hatten. Vielmehr, und das ist das Thema dieses Buches, bilden sie den Grundstock eines Forschungsprogramms, das im Kern dessen stand, was als „Durkheimschule“ nicht nur die französische Soziologie über Generationen prägen sollte. Es zeigt, dass sich hinter dem von uns zum individuellen „Klassiker“ aufgeblasenen Monument Durkheims ein Kollektiv des Denkens verbirgt, das Soziologie in einem so radikalen Sinne betrieb, dass es uns gerade heute, in einer Zeit der Zwangsverpflichtung zur Interdisziplinarität und zum forschungspragmatischen Theorie-Pidgin, an das erinnert, was unsere Disziplin ausmacht: Es ist die Frage nach den „sozialen Ursprüngen des Wissens“, und die schließt bei Durkheim durchaus auch die Frage nach den Ursprüngen des wissenschaftlichen Wissens ein. Diese Frage bildet auch das einigende Band des Projekts und damit auch der „Durkheim-Schule“.
Allerdings, so bekannt und breit behandelt Durkheims Schriften im Deutschsprachigen sind und so sehr auch seine „Schüler“ in Teildisziplinen wie der Körpersoziologie, der Techniksoziologie und natürlich auch der Wissenssoziologie mittlerweile rezipiert wurden, findet man im Deutschsprachigen selbst bei ausgewiesenen Durkheim-Expert:innen Ausführungen zu diesem Thema oder gar zum Kategorienprojekt bestenfalls bei Hans Joas, Erhard Schüttpelz oder Martin Zillinger, der den Band mit herausgegeben hat. Dabei sind neben Durkheim alle seine herausragenden Mitarbeitenden darin verstrickt, die auch nach seinem Tode die damals neue Soziologie weiter betrieben und auf ihre eigene Weise ausgebaut haben. Allen voran Marcel Mauss, der in Frankreich bis heute eine sehr bedeutende Rolle einnimmt, aber auch etwa Maurice Halbwachs, Robert Hertz oder Henri Hubert. Einsetzend mit dem Kreis um „L‘ Anne Sociologique“ (seit 1898), den Arbeiten zu den „primitiven Klassifikationen“ mit Mauss (1902) und Durkheims „Elementaren Formen“ bildet das Kategorienprojekt einen längerfristigen Forschungszusammenhang, der sich über den Tod Durkheims bis weit ins 20. Jahrhundert zieht. Dabei handelt es sich nicht um ein organisiertes „Projekt“ im heutigen Sinne. Wie schon Clark betont, blieb selbst die „Années“ nur sehr schwach professionalisiert. Dass es dennoch zu einem „kollektiven Unternehmen“ werden konnte, hing wohl einerseits mit der ideologischen Frontstellung gegen den Antisemitismus seit der Dreyfus-Affäre zusammen, in der Durkheim eine große Rolle gespielt hatte; viele „Année“-Mitarbeiter einigte wohl auch eine Mischung aus „Sozialismus, Sozialwissenschaft und Soziologie“ sowie ihr Antiklerikalismus (Clarke, 1981, S. 182). Geeint wurden sie vermutlich auch vom Charisma Durkheims als „patron universitaire“ und verfolgten das Projekt, ohne dass es programmatisch ausgesprochen worden wäre. Wie in der sehr informativen Einleitung der Herausgeber zum Buch erwähnt („The Durkheim School’s ‚Category Project‘. A Collaborative Experiment Unfolds“) weist Marcel Mauss eher im Rückblick in seinem „Intellektuellen Selbst-Portrait“ von 1930 darauf hin, dass er sich mit Emile Durkheim, Henri Hubert und den anderen Mitgliedern der Annee Sociologique seit deren zweiten Band mit dem Projekt der sozialen Grundlagen logischer Kategorien beschäftigt habe. Neben Halbwachs, Hertz und Hubert beteiligten sich daran u. a. auch Antoine Bianconi, Marcel Granet, Paul Faconnet und Stefan Czarnowski (der die Soziologie in Polen mitbegründete). So bekannt viele dieser Arbeiten sind – wie etwa Durkheims Vor- und Nachwort zu den „Elementaren Formen“, seine Soziologie der Erkenntnis mit Mauss oder Hertz‘ Vorherrschaft der rechten Hand –, so wenig beachtet, ja weitgehend vergessen ist, wie sehr diese Arbeiten im Zusammenhang dieses kollektiven Projektes stehen und, wie der Band zeigt, gesehen werden müssen.
Die Projekthaftigkeit des gemeinsamen Unternehmens wird von den Autoren der Einleitung verdeutlicht, die verschiedene Phasen des Projektes identifizieren. Eine Phase reicht von 1900 – 1905 und kennzeichnet den Wechsel von den „kollektiven Repräsentationen“ zu den „Kategorien des Denkens“. Danach folgen etwa 10 Jahre, in denen dieses Kategorienprogramm formuliert wurde. Die nächste Phase nach Durkheims Tod wird von der Zeit zwischen den Weltkriegen gebildet, in der Mauss, Hertz, Hubert mit ihren Schriften auch in Konkurrenz mit Levy-Bruhls Parallelprojekt traten. Denn im Unterschied zu dessen Annahme einer vom modernen Denken unterscheidbaren „primitiven Mentalität“ gingen sie davon aus, dass die grundlegenden Kategorien allen Menschen gemeinsam sind. Die nächste Phase setzt dann mit dem Strukturalismus Levy-Strauss‘ und der Übernahme des Projekts in die britische Sozialanthropologie ein, wo das Projekt noch in Mary Douglas’ mittlerweile klassischem „How Institutions Think“ (1987) nachhallt. „In truth“, so bemerken Schüttpelz und Zillinger (2017, S. 108), „the Category Projekt is alive and well in these ongoing studies and discussions“. Die Projekthaftigkeit zeigt sich auch an der Systematik des Forschens: Es beginnt mit der Hypothesenbildung, geht dann in eine Experimentierphase über, die Formulierung der Theorie erfolgt bis zur Veröffentlichung der „Elementaren Formen“. Danach kommt es zu einer Festigung und Überprüfung der Theorie auch in anderen Disziplinen.
Inhaltlich verfolgte das Projekt die Frage, inwiefern die basalen Kategorien des Denkens und des Wissens (und der Philosophie) eine soziale Grundlage haben. Die dabei betriebenen Untersuchungen zeichnen sich dabei durch anschauliche empirische Bezüge des Forschens an unterschiedlichen, zumeist aus der Ethnologie entnommenen, Materialien aus. In der Verfolgung dieser Frage vertraten schon Durkheim und Mauss eine, wie sie selbst schrieben, „soziozentrische“ Betrachtungsweise, die die grundlegenden Kategorien von Zeit und Raum wie auch die elementaren logischen Beziehungen, die Kausalität und die Klassifikationen von Dingen auf soziologische Grundlage zurückführen möchte. Diese „Kategorien“ galten bis dahin als zentrale Begriffe der Philosophie, zu denen auch das „Ganze“, Genus und Spezies, Quantität und Qualität, Person und Identität, Differenz und Widerspruch und natürlich das (eher der Theologie zugerechnete) Sakrale und das Profane zählen (das bei Durkheim an der Wurzel all dieser Kategorien steht). Eine wichtige philosophische Referenz ist, wie Schüttpelz und Zillinger betonen, Hegel. Durkheim (1981, S. 595) wiederum betont vor allem Kant, der diese Kategorien im Verstand des Subjekts verortet. Genau gegen diese subjektzentrierte Vorstellung wendet sich Durkheims Kategorienprojekt: Die Kategorien des Denkens sind nicht subjektiv; ihre Allgemeinheit, ihre Überpersönlichkeit und ihre Geltung verdanken sich dem Umstand, dass „kollektive Repräsentationen“ damit selbst entschieden soziale Phänomene sind. Auch wenn es dem Kategorienprojekt darum geht, die idealistische Philosophie auf die Füße zu stellen, geht es ihm nicht um eine materialistische Basis, wie bei Marx und Engels, oder um das „Nicht-Repräsentationale“ der jüngeren materialistischen Ansätze. Es geht vielmehr um die Soziologisierung der Kategorien und damit des Wissens, des Denkens und damit auch des Handelns. In ihren elementaren Formen sind sie wortwörtlich von der „Sozialen Morphologie“ geprägt, also etwa die „moieties“ in Hertz‘ Erklärung der Vorherrschaft der rechten Hand, über Mauss‘ sich jahreszeitlich wandelnden ‚Eskimo’gesellschaften bis hin zu Durkheims „heiligem Individuum“ der Moderne. Revolutionär erscheint dieser Versuch auch heute noch, weil er darauf zielt, dass die Anthropologie die Philosophie ersetzen könne, „l’anthropologie complète pourrait remplacer la philosophie“, wie Schüttpelz (S. 132) in seinem Beitrag „Freedom, Food and the Total Social Fact“ Durkheim zitiert. Schüttpelz‘ Beitrag zählt schon zum zweiten Teil des Sammelbands, der mit dem Titel „Lateral Links and Ambivalent Antagonists“ überschrieben ist, während es im ersten Teil um „Silenced Influences and Hidden Texts“ geht.
Insgesamt enthält das Buch 17 sehr unterschiedliche und zugleich interdisziplinäre Beiträge. Darunter befinden sich auch Arbeiten etwa zum Konzept des Mana bei Marcel Mauss und Max Müller (Nicolas Meylan), einem der Begründer der Religionswissenschaft, der Rolle des damals einflussreichen französischen Philosophen Bergson (Heike Delitz), der kollektiven Vorstellungen und ihrer Wurzeln in der Wundtschen Völkerpsychologie (Jean-Christophe Marcel) oder auch exegetisch-konzeptionelle Analysen etwa zum Durkheimschen Begriff der Totalität und dessen mögliche Rolle als Ersatz für den Begriff der Gesellschaft (Nick J. Allen). Der dritte Teil des Bandes behandelt diejenigen, die weniger wahrgenommen wurden, obwohl auch sie zum Denkkollektiv gehören, das das Denken durch das Kollektiv erklären möchte. Dazu gehört etwa der polnische Latinist und Historiker Stefan Czernowski oder Claude Bernard, von dem die Vorstellung der Betrachtung verschiedener Gesellschaftstypen als eines (quasi natürlichen) Experiments hergeleitet wird (Mario Schmidt), der zugleich auch die Efferveszenz als ein Experiment der Akteure selbst deutet. Leider werden die wichtigen Bezüge zur Linguistik, Ökonomie oder Geographie nicht behandelt, dafür werden die Anschlüsse an Pierre Bourdieu, Michel Foucault und Claude Levi-Strauss hergestellt.
Diese Anschlüsse deuten an, dass der Band nicht nur von Interesse für die Geschichte der Soziologie ist, sondern auch für die gegenwärtige Diskussion. Wie etwa Gregory Schrempp („Kantian Categories and the relativist turn: a Comparison of Three Routes“) deutlich herausstellt, führt die „Soziologisierung“ der Kategorien des Denkens und Wissens nicht notwendig zu einem „Relativismus“ (wie er der Mannheimschen Wissenssoziologie, später auch der sozialkonstruktivistischen Wissenssoziologie vorgehalten wurde). Vielmehr wird mit dem Verweis auf die soziale Morphologie eine empirische Ebene eingeführt, die das Kategorienprojekt vor allem in den „elementaren“ Formen des Gesellschaftlichen sucht. Das Elementare riecht zuweilen etwas nach einem Evolutionismus, der zum historischen Kontext gehört. Zugleich aber klingt in dieser kollektiven Analyse durchaus auch die Idee einer Konstitutionstheorie des Sozialen durch, die eben gleichzeitig auch eine Konstitutionstheorie des Logischen ist: Der „logische Aufbau“ folgt dem „sozialen Aufbau“ in einer ähnlich grundlegenden Weise, wie ihn Schütz später unternommen hat. Denn es geht, wie Heike Delitz in ihrem Beitrag unterstreicht, um die zentrale wissenssoziologische Frage nach den Ursprüngen des Wissens.
Gerade weil diese Frage das gesamte Projekt motiviert, ist es sehr verwunderlich, dass nicht einmal die soziologischen Autor:innen eine Verbindung zur Wissenssoziologie herstellen. Weder Mannheim noch Scheler finden Erwähnung, und obwohl der Band eine stark ‚anthropologische‘ Perspektive vertritt, verwundert auch das Fehlen der „Anthropologie der Erkenntnis“ etwa von Autor:innen wie Karin Knorr – selbst bei praxistheoretischen Autor:innen (wie etwa im sehr politischen Beitrag von Anne Warfield Rawls). Dabei hat ja Durkheim das Projekt schon auf die Wissenschaft ausgeweitet, deren Grundbegriffe, wie er in den „Elementaren Formen“ sehr provokant formuliert, „religiösen Ursprungs seien“ (Durkheim, 1981, S. 577). Immerhin weisen die Herausgeber auf dem Buchrücken darauf hin, dass „by studying how different societies understand categories such as time and causality, the Durkheimians decentered Western epistemology“. Denn trotz seines vermeintlich evolutionistischen Anstrichs zeichnet sich das Kategorien-Projekt schon in seiner Zeit dadurch aus, dass es die Ursprünge des Denkens nicht mehr in der Linie des griechisch-römisch-christlichen Denkens sucht. Es nimmt vielmehr einen interkulturellen Vergleich vor, der schon beim fürs Positivistische und Quantitative stehenden Durkheim das betreibt, was wir heute eine Sekundäranalyse qualitativer Untersuchungen im Rahmen eines systematischen Samplings von Fällen nennen würden. Ganz ohne Zweifel sind viele der empirischen Quellen Durkheims problematisch; zudem existieren die beschriebenen Gesellschaften nur noch in dem, was als „ethnographische Präsenz“ selbst dem postkolonialen Verdacht einer verzerrenden (westlichen) Standortabhängigkeit ausgesetzt ist. Dennoch wirft aber die anhaltende Relevanz von Studien zu nicht verwestlichten Gesellschaften für die theoretische Diskussion – etwa zu den Grenzen zwischen Natur- und Sozialwelt (wie etwa De Castro, 1992; Tomasello, 1999) – die Fruchtbarkeit der empirischen Frage nach den sozialen Ursprüngen des Wissens auf.
Der Band indessen verfolgt diese Frage – von kurzen Seitenblicken etwa auf die Ethnologie abgesehen – fast ausschließlich historisierend im Sinne einer historischen Anthropologie bzw. Soziologie. Auch wenn dadurch das Kategorienprojekt selbst historisiert wird, bleibt der Stellenwert der philosophischen Kategorien weitgehend unbefragt. Denn gerade wenn wir davon ausgehen, dass Denken und das Wissen sozial definiert sind und dass sich ihre Sozialität am deutlichsten in ihren elementaren Formen ausdrückt – warum sollten wir dann annehmen, dass gerade die Kategorien der recht entwickelten griechischen, römischen und europäischen Kulturen das unhinterfragbare Muster für alles Denken vorgeben. Genau diese Dezentrierung schiene ja der Beitrag einer Anthropologie des Wissens.
Freilich kann man dem Band nicht vorwerfen, dass er eine historische Perspektive einnimmt, und auch die mangelnde wissenssoziologische Perspektive gleicht er durch die Aufarbeitung einer als „Durkheim-Schule“ kollektivierten Form des Denkens aus, die noch die „neuere Wissenssoziologie“ von Berger und Luckmann prägt.
Zu diesen den Kanon der Soziologie definierenden klassischen Autoren zählt nun sicherlich auch Durkheim. Er hat sich nicht nur durch die prägnante Formulierung einer modernen Differenzierungstheorie verdient gemacht (während Spencers Vorarbeit dazu heute auch im angelsächsischen Raum fast schon vergessen scheint). Mit der Unterstreichung der sozialen Tatsachen und ihrem empirischen Aufweis in methodologisch richtungsweisenden Studien hat er der Soziologie ein anhaltendes Gepräge verliehen, das sie auch in die Reihe der harten Wissenschaften stellt, ohne sie jedoch, so wie Comte, naserümpfend an die Spitze zu stellen. Mit dem Hinweis auf das Kategorienprojekt macht das Buch auf die grundlegend wissenssoziologische These Durkheims aufmerksam: Dass nämlich das, was wir von der Welt wissen und als Wirklichkeit erfahren, im Wesentlichen ein soziales Phänomen ist. Das ist, auch heute noch, eine starke These, die nicht zu Unrecht auch als „Soziologismus“ verstanden wird. Sie bedeutet, dass das „Verhältnis von Ich und Welt“, das noch viele heutige soziologische Theorien als ein vorsoziales philosophisch verstehen, grundlegend sozial vermittelt ist.
Wie das Kategorienprojekt zeigt, lässt sich diese These durchaus auch auf den Durkheim anwenden, den wir einen „Klassiker“ nennen. Wie dieses Buch zeigt, findet das Projekt nicht im Kopfe Durkheims statt. Vielmehr ist es selbst ein soziales Gebilde. Das ist als „Durkheimschule“ zu ungenau bezeichnet, fehlt es doch an einem strengen organisatorischen Zusammenhang. Auch der heutige Begriff des „Projekts“ schlägt, wie wir gesehen haben, fehl, bildet die gestellte Frage doch eher einen Motivationszusammenhang, den wir als kollektiv, ja mehr noch, als kollektive Idee bezeichnen können. Sie ist es nicht nur, die das Kategorienprojekt bildet, sie ist es auch, die das wissenssoziologische Denken, wenn schon nicht definiert, so doch entscheidend prägt.
Für die Soziologie aber wirft diese Kollektivität die Frage auf, ob und wie Klassiker, wie eben „Durkheim“, zu verstehen, zu lesen und zu lehren sind. Auch wenn sich die Lehre sicherlich des Problems einer über Einzelpersonen laufenden „monumentalen“ Geschichtsschreibung, wie Nietzsche sie genannt hat, bewusst ist, erweist sich in der Lehrpraxis doch immer wieder, dass die Verbindung von Theorien mit Namen einen deutlichen didaktischen Vorteil vor dem Versuch hat, Theorien im soziohistorischen Kontext zu verorten. Diese Identität der Disziplin ist mit dem geteilten Verständnis von unterschiedlichen theoretischen Fragestellungen verbunden, die die „Klassiker“ repräsentieren. So dient auch der Name Durkheim (der schon zu Anfang des Kategorienprojektes immer wieder auch neben dem von Mauss steht, wenn es um die Formulierung der Frage und die ersten Versuche ihrer Bearbeitung geht) deswegen nur als Platzhalter für ein Kollektiv des Denkens und Forschens, das nicht nur historisch das beschreibt und weiterdenkt, was wir Soziologie nennen. Das „Projekt“ ist selbst, auch wenn es kaum bekannt ist, in die Fragen der Soziologie und besonders der Wissenssoziologie eingegangen. Dass darin die westlichen (oder männlichen) Schlagseiten dieses durch die Klassiker repräsentierten Lehr-Kanons korrigiert werden müssen und korrigiert werden, ist einer der wichtigen Beiträge der neueren feministischen, postkolonialen und archivarischen Forschung zur Geschichte der Soziologie. Diese Korrektur steht aber selbst in der Folge jenes Projektes, das der Name Durkheims stellvertretend repräsentiert. Es ist die Radikalität dieses Projektes, das die vielfältigen und zuweilen unversöhnlich erscheinenden Perspektiven pluralistischer Gesellschaften mit Kategorien beobachten möchte, das sie selbst reflektiert.
Literatur
Clarke, T. N. (1981). Die Durkheim-Schule und die Universität. In W. Lepenies (Hrsg.), Geschichte der Soziologie. Studien zur kognitiven, sozialen und historischen Identität einer Disziplin (S. 157–205). Suhrkamp.Suche in Google Scholar
De Castro, E. V. (1992). From the Enemy’s Point of View. Humanity and Divinity in an Amazonian Society. University of Chicago Press.Suche in Google Scholar
Douglas, M. (1987). How Institutions Think. Routledge & Kegan Paul.Suche in Google Scholar
Durkheim, E. (1981). Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Suhrkamp.Suche in Google Scholar
Durkheim, E., & Mauss, M. (1987). Über einige primitive Formen von Klassifikation. In E. Durkheim & H. Joas (Hrsg.), Schriften zur Soziologie der Erkenntnis (S. 210–256). Suhrkamp.Suche in Google Scholar
Hertz, R. (2007). Die Vorherrschaft der rechten Hand. Eine Studie über religiöse Polarität. In R. Hertz, S. Moebius & C. Papilloud (Hrsg.), Das Sakrale, die Sünde und der Tod (S. 181–217). UVK. Suche in Google Scholar
Mauss, M. (1974). Soziale Morphologie. Über den jahreszeitlichen Wandel der Eskimogesellschaften. In (ders.), Soziologie und Anthropologie Band 1: Theorie der Magie / Soziale Morphologie (S. 183–278). Hanser.10.1007/978-3-531-92064-1_6Suche in Google Scholar
Schüttpelz, E., & Zillinger, M. (2017). The bodily effects of the categories. Durkheim and Mauss’s intervention into the History of Philosophy. Durkheim Studies/Etudes Durkheimiennes,23(1), 106–127. 10.3167/ds.2017.230107Suche in Google Scholar
Tomasello, M. (1999). Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Suhrkamp.Suche in Google Scholar
© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
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- Editorial
- Symposium
- Zur Geschichte gesellschaftlicher Klassifikationen
- Durkheims Kategorienprojekt und die Kollektivierung der Klassiker
- Die Kategorien des Denkens als Gegenstand des Kulturvergleichs
- Essay
- Was Sie schon immer über Solidarität wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
- Themenessay
- Kunst des Perspektivwechsels. Öffentliche Wissenschaften zwischen gönnerhafter Vernunftanwendung und empathischem Wissenstransfer
- Doppelbesprechung
- Protest simulieren, Affekte ausleben: Zwei aktuelle Polizeiethnographien
- Zum Verhältnis von Soziologie und Krise – Zur Standortbestimmung in herausfordernden Zeiten
- Einzelbesprechung Geschichte der Sozialphilosophie und Soziologie
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- Uwe Schimank, Entscheiden: Ein soziologisches Brevier. Wiesbaden: Springer VS 2022, 176 S., eBook, 22,99 €
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- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
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