Zum Verhältnis von Soziologie und Krise – Zur Standortbestimmung in herausfordernden Zeiten
Rezensierte Publikationen:
Nicole Holzhauser / Stephan Moebius / Andrea Ploder (Hrsg.), Soziologie und Krise: Gesellschaftliche Spannungen als Motor der Geschichte der Soziologie. Wiesbaden: Springer VS 2023, 306 S., eBook, 49,99 €
Johannes Kiess / Jenny Preunkert / Martin Seeliger / Joris Steg (Hrsg.), Krisen und Soziologie. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023, 269 S., br., 32,00 €
Vor Beginn der Neuzeit bezeichnete der Begriff der Krise in der Medizin eine Situation, in der Leben und Tod des Organismus auf dem Spiel stehen. Erst in der Sattelzeit erweiterten sich die Verwendungsmöglichkeiten dieses Terminus, der seitdem in vielfältigen Lebensbereichen das Spannungsverhältnis zwischen ungewisser Bedrohungslage, einem auf die Zukunft gerichteten Gestaltungsglauben und einem dynamischen Wendepunkt bezeichnet (vgl. Koselleck, 2006). Die Begriffsgeschichte der Krise charakterisiert damit auch den Erfahrungsraum moderner Sozialität, deren Gesetzmäßigkeiten und Entwicklungsprinzipien die Soziologie seit dem 19. Jahrhundert erforscht. Im 20. Jahrhundert sind weitere Verschiebungen der Krisensemantik zu beobachten, die heute nicht nur alle gesellschaftlichen Sphären durchdringt, sondern auch eine komplexe und interdependente globale Dynamik vor Augen führt, in der die vielen Krisen – von der Coronakrise über die Wirtschaftskrise bis hin zur ökologischen Krise – eine schwer zu entwirrende Vielfachkrise ausbilden (vgl. Graf, 2019).
Die Deutung von Krisen und die Bereitstellung von Orientierungswissen in herausfordernden Zeiten stellen seit jeher zentrale Anliegen dar, an denen sich die gesellschaftliche Relevanz der Soziologie bemisst. Den komplexen Zusammenhängen zwischen Soziologie und Krisen widmen sich zwei aktuelle Sammelbände, deren Beiträge im Folgenden gemeinsam besprochen werden. In beiden Bänden werden Krisen als historisch vielfältiges und analytisch herausforderndes Problem eingeführt, das mit Nachdruck die Frage nach dem Beobachtungsstandpunkt einer Disziplin aufwirft, die normativ und epistemologisch eng mit ihrem Erkenntnisgegenstand verflochten ist. Im Fokus der Besprechung steht dabei die Frage nach dem soziologischen Begriff der Krise und seinen erkenntnistheoretischen wie auch normativen Implikationen. Im Fazit werde ich herausstellen – so viel sei hier vorweggenommen –, dass die beiden Veröffentlichungen ein wichtiges und erkenntnisreiches Diskussionsangebot für die Soziologie bereitstellen, aber mit der ökologischen Krise eine überraschende Leerstelle aufweisen. Womöglich ist dieses gesellschaftliche Naturverhältnis auch deswegen nicht stärker in den Blick geraten, weil in beiden Bänden Krisen vornehmlich als innersoziale Prozesse konzeptualisiert werden.
Die Herausgeber:innen Nicole Holzhauser, Stephan Moebius und Andrea Ploder eröffnen ihren Sammelband „Soziologie und Krise: Gesellschaftliche Spannungen als Motor der Geschichte der Soziologie“ mit der wissenschaftshistorischen Frage nach den die Disziplin prägenden Entwicklungsdynamiken, die die Soziologie seit dem 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Krisen bis in die Gegenwart hinein geformt haben. Sie folgen dabei einerseits der Hypothese, dass Krisen eine produktive und der Bedeutung der Soziologie zuträgliche Wirkung zugeschrieben werden kann. Entfremdung, Entzauberung oder Anomie sind beispielsweise krisenbezogene Gesellschaftsdiagnosen, mit denen die frühe Soziologie auch deshalb ihre eigene Relevanz demonstrierte, weil sie einen dezidierten Willen zur Überwindung von Krisen artikulierten, wie die Herausgeber:innen pointiert unter Verweis auf René König herausstellen. Dabei ist es erklärtes Ziel des Sammelbands, diesen Topos auch historisch und selbstreflexiv auf den Prüfstand zu stellen. Aus dieser Perspektive kommt das soziologische Selbstbewusstsein, in Zeiten der Krise notwendiges Orientierungswissen bereitzustellen, als ein normatives und präskriptives Projekt zum Vorschein, das oft eng mit der Selbstwahrnehmung der kriselnden bürgerlichen Gesellschaft verbunden war. Wissenssoziologisch sollen die Subjekte soziologischer Krisendiagnosen darauf befragt werden, welcher Habitus ihrem Erkenntnisanspruch zu Grunde liegt sowie welche Interessen und Weltanschauungen mit ihrer Sprecher:innenpostion einhergehen. Der Sammelband ordnet dieses Feld anhand der fünf Kapitel „Konzeption und Konstitution der Soziologie als Krisenwissenschaft“, „Die Krise des Politischen als Rahmung der Soziologie“, „Soziale und individuelle Krisenerfahrungen von Soziolog:innen“, „Soziologische Methoden und (Selbst-)Darstellungsformen angesichts von Krisen im Wandel“ und „Kritik als soziologisches Instrument (in) der Krise.“
Johannes Kiess, Jenny Preunkert, Martin Seeliger und Joris Steg nehmen in „Krisen und Soziologie“ hingegen die zuletzt oft geäußerte Diagnose der Polikrise sowie die gegenwärtig inflationär auftretende Krisensemantik zum Ausgangspunkt, um nach der Tauglichkeit des Krisenbegriffs zu fragen. Denn wenn alles immer in der Krise ist, wenn die Vielfachkrise gewissermaßen die neue Normalität darstellt, wird die Kategorie analytisch erklärungsbedürftig. Obwohl der Begriff einen festen Ort in der Soziologie besitze, diagnostizieren die Autoren eine fehlende Bestandsaufnahme und innerdisziplinäre Debatte, in der die verschiedenen Perspektiven einer mulitparadigmatischen Disziplin ins Gespräch kommen. Dabei beziehen die Autor:innen selbst Stellung für einen soziologischen Begriff der Krise, der einerseits auf objektiv attestierbare Zustände in der Welt verweist und dabei andererseits analytisch anspruchsvoll zwischen Krisen und Nicht-Krisen unterscheidet. Zu diesem Zweck werden zwei Perspektiven aufgezeigt, die die Soziologie als Krisenwissenschaft einnehmen kann: Erstens wird der Begriff der Legitimationskrise vorgeschlagen, mit dem politiktheoretisch die soziale Divergenz zwischen Ideal und Praxis erforscht werden kann. Zweitens stellen die Herausgeber:innen das Analysemuster der Ungleichheit in den Raum, um zu erfassen, wie sich diese in Krisen reproduziert, wie sie durch Krisen hervorgebracht wird und unterschiedliche Gruppen in unterschiedlicher Weise betrifft. Verschiedene soziologische Herangehensweisen an das Phänomen Krise werden daraufhin im ersten der beiden Abschnitte „Krisen erkennen“ verhandelt. Sie reichen vom Sozialkonstruktivismus bis zur Kritischen Theorien und zeigen die Bedeutung und die Einsätze der im Sammelband angestrebten Debatte auf. Im zweiten und abschließenden Abschnitt „Krisen analysieren“ werden sieben unterschiedliche Krisenphänomene soziologisch in den Blick genommen, die von der Corona-Epidemie über Migration bis hin zu gewerkschaftlichen Transformationen reichen.
Wovon sprechen also Soziolog:innen, wenn sie über Krisen reden? In seinem Beitrag „Die Soziologie als kritische Krisenwissenschaft – Geschichte, Gegenwart und Perspektiven“ plädiert Joris Steg für eine Soziologie, die ihren Gründungsimpuls „revitalisiert“ (in Holzhauser, Moebius & Ploder, S. 60) und sich in kritischer Absicht mit gesellschaftlichen Missständen auseinandersetzt. Dafür brauche es einen politischen und gesellschaftstheoretischen Begriff der Krise, der „tiefgreifende Abweichungen von der Normalität“ und „bestandsbedrohende Entwicklungen“ (S. 50) bezeichnet. Theoriepolitisch geht es Steg dabei darum, Krisen nicht als gesellschaftliche Normalität zu betrachten, um so kritisch in öffentliche Debatten intervenieren zu können. Damit grenzt er sich dezidiert von der Position ab, Krisenhaftigkeit als inhärentes und damit normales Strukturmerkmal einer ausdifferenzierten Gesellschaft zu betrachten, wie dies z. B. Armin Nassehi (2023) vertritt.
Wie nun Abweichungen von der Normalität beobachtbar und beschreibbar sind, lässt sich dem Beitrag von TjorvenHarmsen und OliverIbert „Alles Krise, oder was? Ein Beitrag zur Begriffsschärfung und Erfassung heutiger Krisen“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg) entnehmen, die hier systemtheoretisch argumentieren. „Krisen“, schreiben die Autor:innen, „sind Entscheidungslagen unter Umständen der Bedrohung, Dringlichkeit und Unsicherheit“ (S. 28), die immer in Referenz zu spezifischen sozialen Systemen auftreten. In diesem Sinne sei eine Krise ein rein soziales Phänomen mit inhärenter Tendenz zur Polikrise, weil die Vielfalt der Beobachterpositionen in modernen Gesellschaften zu nicht miteinander übereinstimmenden Problembeobachtungen strebe. Die Soziologie habe also eine besondere Kompetenz als Krisenwissenschaft, die immer auch das Nicht-Krisenhafte sozialer Kommunikation analytisch im Blick behalten müsse.
Normalität und Normabweichungen soziologisch zu beobachten sieht sich mit verschiedenen Reflexionshürden konfrontiert, die insbesondere aus soziologiehistorischer Perspektive in den Blick geraten. Die von Steg geforderte Revitalisierung des soziologischen Gründungsimpulses erfährt eine produktive Irritation durch Stefan Moebius Beitrag „Das politische Denken Georg Simmels. Sozialismus und Nietzscheanischer Aristokratismus“ (in Holzhauser, Moebius & Ploder). Moebius rekonstruiert in seinem Text, dass Simmel die kulturelle Krise seiner Zeit im Anschluss an Friedrich Nietzsche darin ausmachte, dass sich die Ausbildung einer individuellen Persönlichkeit durch Bildung und Erfahrung zunehmend verunmöglichte. Wie Moebius dabei herausarbeitet, war Simmels kritische Kulturbeobachtung nicht nur eng mit dem „bürgerlichen Persönlichkeitsideal“ (S. 101) verknüpft. Simmel steigerte sich aus seiner lebensphilosophisch und nietzscheanisch-aristokratischen Haltung heraus in eine Begeisterung für den Ersten Weltkrieg hinein, von dem er sich eine Umwertung aller Werte entgegen der kulturellen Dekadenz erhoffte.
Inwiefern soziologische Gegenwartsbeobachtung immer auch auf regulativen Ideen über Gesellschaft basiert, lässt sich auch am Beitrag von Victoria von Groddeck ablesen, mit dem Titel „Semantiken der Steuerung und die Rolle der Soziologie“ (in Holzhauser, Moebius & Ploder). In ihrem Text vergleicht sie Semantiken der Steuerung in den Feldern der Bildenden Kunst sowie des Managements über verschiedene historische Etappen und kontrastiert dies mit der soziologischen Theoriebildung. Im Ergebnis rekonstruiert von Groddeck historisch drei Phasen der soziologischen Beobachtung sozialer Spannungen: In der Frühphase der Soziologie sei es darum gegangen, soziale Phänomene auf dahinterliegende Strukturen zurückzuführen und Wissen über die Möglichkeiten von Reformen und Revolutionen bereitzustellen. In der zweiten Phase der organisierten Moderne habe die Soziologie Steuerungswissen für die Dysfunktionen sozialer Systeme angeboten, um die Gesellschaft zu verbessern. Im Übergang zur Gegenwart sei jedoch die zuvor beanspruchte zentrale Beobachterposition – wie auch der holistische Gesellschaftsbegriff – aufgegeben worden. Stattdessen komme soziale Realität als ein disruptiver, dynamischer und emergenter Prozess in den Blick, der kausal nicht mehr plausibel auf Steuerungsversuche zurückgeführt werden könne. Aus eben diesem Grund reduziere sich die Soziologie darauf, Steuerungsversuche zu beobachten und zu reflektieren, um so Kontingenz aufzuzeigen und Handlungsräume zu erweitern.
Dass sich die Haltung und das Verhältnis, das die Soziologie zu gesellschaftlichen Krisen einnimmt, historisch in verschiedenen Phasen gewandelt hat, stellt auch Christian Dayé in seinem Beitrag „Die Erschließung der Zukunft: Unsicherheit als Motor der Sozialwissenschaften“ (in Holzhauser, Moebius & Ploder) heraus. Dayé analysiert die Soziologie als Lieferant von „Zukunftswissen“ in Zeiten gesellschaftlicher Unsicherheit, wodurch sich diese gesellschaftlich etablieren konnte – entsprechend der bereits eingangs gestreiften These, dass die Soziologie durch Krisen insgesamt produktive Entwicklungsschübe erfahren habe. Allerdings zeigt sich Dayé skeptisch, ob sich diese für die Soziologie als Disziplin günstige Dynamik fortschreiben wird. Mit einem Blick auf die gesellschaftlichen Spannungen, mit denen sich die Sozialwissenschaften während des Kalten Kriegs konfrontiert sahen, stellt er heraus, dass die „epistemischen Hoffnungen“ an Zukunftswissen oftmals von der Sozialfigur der Expert:in beantwortet und bewirtschaftet werden. Diese zeichnet sich weniger durch ihre disziplinäre Zugehörigkeit aus als durch einen interdisziplinären Gegenstandsbezug. Die hier entwickelten Wissensformen, die sich eher durch Handlungsorientierung als eine Rückbindung an disziplinäre Wissensbestände kennzeichnen, interpretiert Dayé – sich seiner Spekulation bewusst – als mögliches Zeichen des „Endes der Soziologie als Disziplin“ (S. 220).
Über beide Bände hinweg lässt sich ein loser Konsens ausmachen, dass Krisen soziologisch sinnvollerweise als Beobachtungen zweiter Ordnung in den Blick genommen werden. Krisenkommunikation erhält so gesehen ihre Dynamik insbesondere aus der systemischen Multiperspektivität einer ausdifferenzierten Gesellschaft – wie zwei empirische Studien des Bands „Krisen und Soziologie“ veranschaulichen. In seinem Beitrag vertritt Nils Kumkar einen multisystemischen Krisenbegriff, demnach erst dann von einer gesellschaftlichen Krise gesprochen werden könne, wenn in verschiedenen Systemen Handlungsbedarf registriert wird, der sich auf die System-Umwelt Unterscheidung bezieht und nicht durch Routinen bearbeitbar ist – sonst wäre es eine reine Systemkrise (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg, S. 235–236). In seinem Text „Krise und Krisenbewegung“ rekonstruiert er aus dieser Perspektive die Entstehung der US-amerikanische Tea-Party Bewegung als biographische Verarbeitung und Reaktion derartig krisenhaft-multisystemischer Ereignisse, die sich nach 2009 zwischen Politik und Wirtschaft entfalteten. Kumkar interpretiert den so entstandenen Aktivismus als den erfolgreichen Versuch, sich biographisch mit der krisenhaften Ungleichzeitigkeit der Systeme erneut zu synchronisieren.
Alexander Bogner betrachtet in seinem Beitrag „Krise und Konflikt. Spannungen zwischen Wissenschaft und Demokratie in der Corona-Pandemie“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg) ebenfalls das Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Systemen, in diesem Fall zwischen Wissenschaft und Politik. Bogner entwickelt dazu eine Typologie verschiedener Krisen bzw. Krisenphasen und stellt heraus, dass die Corona-Pandemie zunächst eine akute Krise darstellte, in der die Wissenschaft notwendiges Orientierungswissen für eine Politik der Notstandsverordnungen bereitstellte. Im Anschluss habe sich die Lage in eine chronische Krise gewandelt, in der der zuvor geteilte, die Expertokratie tragende Wertekonsens erodiert sei. Kritisch weist Bogner auf die Gefahr einer „Epistemisierung des Politischen“ (S. 219) hin, die sich einstelle, wenn Krisen als wissenschaftlich lösbare Sachfragen verhandelt werden und dadurch die normative und partizipative Dimension politischer Prozesse verengen.
Wenn man die beiden Bände an den von ihnen selbst entwickelten Ansprüchen misst, nämlich die historische Vielfalt und die begriffliche Problematik des Krisenbegriffs zu entfalten, tun sich auch Leerstellen bzw. weiterführende Fragen auf. Vor dem Fazit will ich zwei hier aufscheinende Aspekte hervorheben. Im soziologiehistorischen orientierten Band „Soziologie und Krise“ sticht das Anliegen hervor, soziologische Wissensansprüche aus biographisch, kulturell und historisch situierten Krisenwahrnehmungen heraus deutbar zu machen. Wenn die Entstehung der Soziologie in diesem Sinne als eine Reflexion auf die Krisen der Moderne des globalen Nordens und der bürgerlichen Gesellschaft begriffen werden kann, stellt sich die Frage nach den dadurch exkludierten, marginalisierten und externalisierten Perspektiven und Erfahrungsräumen. Eine interessante Perspektivenverschiebung für die deutschsprachige Diskussion bietet dazu der Beitrag von Philipp Altmann „Soziologie in Ecuador zwischen Liberalismus und Marxismus in bewegten Zeiten“ (in Holzhauser, Moebius & Ploder). Eine systematische Reflexion bietet Heidrun Friese im anderen Band mit ihrem Text „Mobilität, Krise, Kontingenz“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg), in dem sie Migration als für Ordnungsvorstellungen und Normativität der europäischen Moderne bedrohliches Phänomen rekonstruiert, dass zu normativ problematischen Krisenwahrnehmungen führt. Ob der soziologischen Krisenfaszination eine aus dekolonialer Perspektive womöglich problematische (weil eurozentrische) Dynamik innewohnt, sollte jedoch noch weitergehend diskutiert werden (vgl. Whyte, 2021).
Postkoloniale Machtgefälle sind auch mit der ökologischen Krise verknüpft, die über beide Kompendien hinweg überraschend abwesend ist und lediglich im Beitrag von Janis Ewen, Marvin Hopp und Martin Seeliger „Gewerkschaften in der Transformationskrise“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg) als Problem der Dekarbonisierung in den Blick gerät. Das mag viele Gründe haben und jeder Sammelband muss eine Auswahl treffen. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass hinter dieser Leerstelle – die zuletzt Andreas Diekmann (2024) für die Soziologie insgesamt beobachtet hat – womöglich auch ein Theorieproblem stehen könnte, das sich daraus ergibt, dass Krisen in beiden Bänden als innersoziale Dynamik konzipiert werden. Im Beitrag von Hamsen und Ibert zum soziologischen Begriff der Krise ist so etwa zu lesen, dass Krisen als „innersozialer Prozess“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg, S. 27) gedacht werden sollten, als eine Reaktion der Gesellschaft auf einen externen, „‘heißen’ Reiz[]“ (S. 27). Die mittlerweile vielfältigen Versuche, das Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft jenseits dichotomer Denkfiguren wie dem Reiz-Reaktions-Schema zu denken (vgl. Hoppe & Lemke, 2021), sind in beiden Bänden nicht präsent. Zwar hat Kumkar einen Punkt (für den globalen Norden), wenn er herausstellt, dass die Klimakrise seiner eigenen Definition entsprechend keine gesellschaftliche Krise sei, weil „der menschengemachte Klimawandel als Problem in den unterschiedlichen Systemen ziemlich routiniert kleingearbeitet wird“ (in Kiess, Preunkert, Seeliger & Steg, S. 236). Aber wenn die Soziologie eine kritische Krisenwissenschaft sein möchte, scheint es angebracht, nach theoretischen Optionen zu suchen, mit denen das Krisenhafte des Klimawandels in den Blick gerät, wozu womöglich die engen Grenzen einer Soziologie des Sozialen überschritten werden müssen.
Die vorliegenden Bände entfalten eine gewinnbringende Diskussion über die epistemisch-normative Situierung der Soziologie und ihre theoretischen Möglichkeiten, Krisen zu verstehen und zu analysieren – was die vielen erkenntnisreichen Beiträge demonstrieren. Die Lektüre führt vor Augen, dass sich für die Soziologie mit der Krise auch immer die Frage nach ihrem Status als kritische Wissenschaft stellt. Wie und auf welche Weise dieser Anspruch eingeholt werden kann, ist der Sache nach streitbar und offen. Die verbleibenden Fragen und Leerstellen erscheinen eher als Impulse denn als Mängel, die aus begrüßenswerten Systematisierungsversuchen hervorgehen. Die akademische Soziologie sollte sich jedenfalls bemühen, auf Augenhöhe mit den ökologischen und planetaren Herausforderungen der Gegenwart zu bleiben, will sie nicht selbst in die Krise geraten.
Literatur
Diekmann A. (2024). Klimawandel – kein Thema für die Soziologie? Zeitschrift für Soziologie, 1, 3–7.10.1515/zfsoz-2024-2002Search in Google Scholar
Graf, R. (2019). Zwischen Handlungsmotivation und Ohnmachtserfahrung. Der Wandel des Krisenbegriffs im 20. Jahrhundert. In F. Bösch, N. Deitelhoff & S. Kroll (Hrsg.), Handbuch Krisenforschung (S. 17–38). Springer VS.10.1007/978-3-658-28571-5_2Search in Google Scholar
Hoppe, K. & Lemke, T. (2021). Neue Materialismen zur Einführung. Junius.Search in Google Scholar
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