Kunst des Perspektivwechsels. Öffentliche Wissenschaften zwischen gönnerhafter Vernunftanwendung und empathischem Wissenstransfer
Rezensierte Publikationen:
Holger Backhaus-Maul / Sonja Fücker / Martina Grimmig / Viktoria Kamuf / Jessic Nuske / Matthias Quent (Hrsg.), Forschungsbasierter Wissenstransfer und gesellschaftlicher Zusammenhalt: Theorie, Empirie, Konzepte und Instrumente. Frankfurt am Main: Campus 2024, 473 S., br., 48,00 €
Patricia Gwozdz, Virale Wissenschaft: Über die Grenzen verständlicher Forschung. Weilerswist-Metternich: v. Hase & Koehler 2023, 100 S., kt., 20,00 €
Robert Jende (Hrsg.), Öffentliche Soziologie in Aktion: 72 Stunden Stadtplanung zum Mitmachen. Wiesbaden: Springer VS 2020, 192 S., eBook, 29,99 €
Armin Nassehi, Gesellschaftliche Grundbegriffe: Ein Glossar der öffentlichen Rede. München: C. H. Beck 2023, 399 S., gb., 29,90 €
Suchbewegung: Sozialwissenschaften jenseits ausgetretener Pfade
Rund 20 Jahre nach der ‚Public-Sociology‘-Debatte ist es Zeit für eine Standortbestimmung zwischen euphorischer Verheißung, engagierten Experimenten und anhaltender Skepsis. Weil zentrale Argumente auf zahlreiche angrenzende Disziplinen übertragbar sind, wird im vorliegenden Themenessay nicht (mehr) von öffentlicher Soziologie, sondern übergreifend von öffentlicher Wissenschaft gesprochen.
Mit „Gesellschaftliche Grundbegriffe: Ein Glossar der öffentlichen Rede“ legt Armin Nassehi eine Monografie vor, die sich auf zwei Ebenen als nützlich erweist. Einerseits verdient seine Reflexion unseres öffentlichen Sprachgebrauchs höchstes Lob. Wird das Glossar zudem einem Praxistest unterzogen, bilden einige der besprochenen Begriffe eine solide Grundlage für die hier angestrebte Standortbestimmung. Für Nassehi selbst ist das Glossar zwar „ein merkwürdiges Unterfangen“ (S. 7), gleichwohl verbindet er damit einen hohen intellektuellen Anspruch. Enthält seine Sammlung doch Begriffe, die aus der Disziplin Soziologie in Öffentlichkeiten „ausgewandert“ sind (S. 7), nur um dort Eigenleben zu entwickeln und Eigensinn zu entfalten. Es muss in der Tat genau(er) hingesehen werden, ob die öffentliche Sprache tatsächlich derart mit soziologischen Begriffen „imprägniert“ (S. 9) ist. Das Glossar versteht sich daher als „Rückholaktion“ (S. 9) und verfolgt das Ziel, herauszufinden, ob die Begriffe „noch angemessen funktionieren“ (S. 9). Obwohl dieses Projekt an monumentalen Wörterbüchern geschult ist, grenzt es sich in einem wesentlichen Punkt von diesen Vorbildern ab, da es gerade nicht um die „definitorische Festlegung von Sachverhalten“ (S. 13) gehen soll, sondern vielmehr um die Frage, wie aus Wörtern Begriffe und damit zusammenhängende öffentliche Sprechweisen werden. In essayistischer Form werden Herkünfte, Funktionen und Bezugsprobleme exemplarisch ausgewählter Begriffe im Kontext ihrer debattenfähigen Verwendung rekonstruiert.
Das ist äußerst hilfreich, wenngleich über manche Strecken anstrengend, weil zentrale Argumentationsfiguren mehrmals auftauchen (z. B. die Unterscheidung von „Bedeutung“ und „Funktionieren“ oder die Erläuterung der „funktionalistischen Methode“). Hinzu kommt die mehrfache Verwendung von Zitaten sowie eine gewisse assoziative Drift, verbunden mit zahlreichen Querverweisen zum eigenen ‚Werk‘. Auch wenn bereits der Klappentext warnt, dass es sich beim Glossar vermeintlich nicht um eine „oberlehrerhafte Aufforderung zum richtigen Sprechen“ handelt und es gerade nicht um den um ‚richtigen‘ oder ‚legitimen‘ Gebrauch der Begriffe geht, wird dieses Ziel hier und da (leider) verfehlt. Unter dem Strich ist die Rekonstruktion der performativen Logikdes Begriffsgebrauchs (S. 11) jedoch so gewinnbringend, dass leicht über kleinere Selbstwidersprüche hinweggesehen werden sollte. Was zählt ist die Suchbewegung im semantischen Feld, die „Verstrickung der Begriffe“ (S. 14), die allesamt „einen Bedeutungshof“ (S. 17) mit sich herumschleppen.
Sehr deutlich wird dies an den drei für die Suchbewegung öffentlicher Wissenschaften zentralen Begriffen: Gesellschaft, Öffentlichkeit und Wissen. Einerseits ist die Teilnahme (auch für Sozialwissenschaftler:innen) an Gesellschaft alternativlos, andererseits ist der Gesellschaftsbegriff uneindeutig, weil darunter nicht einfach die Summe oder ein „emergentes Produkt individuell-menschlicher Lebensäußerungen“ (S. 19) verstanden werden kann, sondern (in erster Näherung) eher etwas Eigensinniges, die Imagination eines gemeinsamen Raums, in dem (zeitgleich) Erfahrungen der Einheit und der Differenz gemacht werden müssen. Erst durch den Begriff, so Nassehi, wird Gesellschaft möglich. Das Bezugsproblem des Begriffs Gesellschaft ist somit die Möglichkeit einer kollektiven Ansprache in einer gemeinsamen Arena und die Suggestion von Einheit, wo es keine gibt, oder anders: die „Adressierbarkeit eines Gegenübers ohne Adresse“ (S. 95). Exakt dies ist auch die Ausgangslage öffentlicher Wissenschaften, die gleichfalls mit Uneinheitlichkeit zu kämpfen haben. In diesem Fall resultiert daraus die Gleichzeitigkeit von öffentlichem Engagement und antizipiertem Kontrollverlust. Während Gesellschaft mit ihrer „eigenen Nicht-Integriertheit in der vergehenden Zeit umgehen muss“ (S. 102), was durch den öffentlichen Gebrauch des Begriffs Gesellschaft in geradezu „tragischer“ Form kompensiert wird (S. 105), muss öffentliche Wissenschaft andere Register ziehen. Ein Wirkprinzip lässt sich dennoch wiedererkennen: So wie Begriffsbedeutungen performativ geschaffen werden und sich in Anwendungskontexten wandeln, etablieren sich Formate öffentlicher Wissenschaften vor allem als Forschungspraktiken.
Diese Praktiken kommen in der Öffentlichkeit zur Anwendung, dem (wie das Glossar erklärt) eigentlichen Ort des Gesellschaftlichen, dem Ort also, „an dem sich die entscheidenden Dinge abspielen“ (S. 300). Inspiriert von Kant sucht Nassehi jedoch primär nach einer aufklärungskompatiblen, gelehrten Öffentlichkeit, „die nicht einfach auf Erreichbarkeit, große Zahl oder Repräsentativität setzt, sondern vor allem auf ein Publikum, das den gelehrten öffentlichen Vernunftanwender auch verstehen kann. Öffentlichkeit wäre in diesem Sinne ein Korrelat einer gelehrten Leserschaft“ (S. 300). In eine ähnliche Richtung weisen (eher irritierende) Seitenhiebe auf bekannte Kolleg:innen aus dem Fach, die Begriffe vermeintlich ‚falsch‘ nutzen. Bei der Suche nach intellektueller Anerkennung werden allerdings diejenigen Öffentlichkeiten ausgeblendet, die „zwischen bloßer Verfügbarkeit mediatisierter Informationen und einer starken Aufladung öffentlicher Diskurse“ (S. 301) eben auch existieren und – wie die folgenden Beispiele noch zeigen werden – Adressanten öffentlicher Wissenschaften sind. Kurz: Anders als öffentliche Intellektuelle sind öffentliche Wissenschaftler:innen inzwischen auf der Suche nach Öffentlichkeiten jenseits gelehrter Vernunftanwendung.
Nach öffentlich kommt viral: Grenzen der Kommunikation wissenschaftlichen Wissens
Diese Suchbewegung wird verständlicher, wenn zusätzlich der Begriff Wissen näher beleuchtet wird, weil damit stets (angemessene oder unangemessene) Geltungsansprüche verbunden werden (S. 344). Trotz aller Widersprüchlichkeiten ist öffentliche Wissenschaft ohne gemeinsam geteiltes Wissen undenkbar. Gerade weil Wissen ein „stabilisierender Faktor für die soziale Praxis“ (S. 345) ist, prallen genau dort Wissensformen und Deutungsmuster aufeinander. Die Knautschzone ist hierbei die Begegnung wissenschaftlichen Wissens mit außer-wissenschaftlichen Wissensformen. In unterschiedlichen Kontexten wird dabei immer wieder deutlich, „dass wissenschaftliches Wissen performativ anders funktioniert als alltägliches Wissen“ (S. 351). Welches Wissen also in welcher Sphäre welche Bewährungshistorie hat und auf dieser Basis Durchsetzungsvermögen entwickelt, ist exakt die Herausforderung öffentlichen Forschens und des daran geknüpften Wissenstransfers. Gerade weil öffentliche Akteure keine wissenschaftlichen Probleme lösen müssen, sondern praktische (S. 353), entsteht im Wechselspiel mit Wissenschaft ein eigensinniger Raum. Das Grundproblem: Je nach Haltung wird dieser von Wissenschaftler:innen als Möglichkeitsraum oder Gefahrenzone betrachtet. Noch immer trifft die Öffnung der Wissenschaften auf Akteure, die – auf beiden Seiten – schlecht vorbereitet und in Teilen sogar irritiert sind.
Um Irritationen zu minimieren, reicht es allerdings nicht aus, die Performanz von Begriffen zu deuten. Schnell geht es um die Frage, wie viel Verständlichkeit an den Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeiten notwendig oder gar sinnvoll ist. In ihrem Essay „Virale Wissenschaft“ geht Patricia Gwozdz deshalb der Frage nach, wie Wissenschaft auf den Ruf nach Verständlichkeit reagiert und wo die Grenzen gelingender Wissenschaftskommunikation liegen. Ziel dieses Essays ist eine „Philosophie populärer Wissenschaftskommunikation im Zeitalter (post)digitaler Algorithmen“ (S. 20). Wissenschaft wird dabei als fortlaufende Erzählung verstanden, die unter dem Einfluss digitaler Medien bislang unbekannte Formen annehmen kann oder gar muss. Während allgemeine Überlegungen verdeutlichen, wie aus klassischer Wissenschaftskommunikation eine Art von „Fast Food Science“ (S. 21) wurde, unterstreicht das Fallbeispiel der Wissenschaftskommunikation während der Corona-Pandemie, wie problematisch Zugänglichkeit und Verständlichkeit von Wissen sein können. Für die Suche nach dem Möglichkeitsraum öffentlicher Wissenschaften ist dies von zentraler Bedeutung, denn Wissenschaftlichkeit wird – wie auch die Begriffsanalysen des Glossars zeigen – immer häufiger ausgehandelt. Kurz: „An Wissenschaft wird heute nicht mehr geglaubt, sie wird verhandelt“ (S. 12).
Die von Gwozdz vorgelegte Perspektive auf Wissenschaftskommunikation unterscheidet sich wohltuend von der verbreiteten Praxis, das öffentlich nachgefragte Erzählen über Wissenschaft an außer-wissenschaftliche Expert:innen zu delegieren. Vielmehr erkennt die Autorin in Wissenschaftskommunikation eine erweiterte Form der wissenschaftlichen Wissensproduktion selbst (S. 13). Die Aufgabe, Wissenschaft zu kommunizieren, wird also wieder an die Wissenschaft zurückbeordert. Dabei muss über zeitgemäße Formate von Wissenserzählungen nachgedacht werden, was Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft, Kunst und Literatur erforderlich und in diesem Zusammenhang selbst populäre Bilder und Vorstellungen unverzichtbar macht (S. 16). Willkommen am anderen Pol des kommunikativen Spektrums! Weg von der Vorstellung eines gebildeten Publikums, dass exklusiv von gelehrten Vernunftanwendern adressiert wird, hin zu neuen Kompetenzen für öffentliche Wissenschaftler:innen, die nicht nur verstehen, wie Wissenschaft selbst performativ entsteht, sondern dieses Wissen auch im Kontext einer progressiven Kommunikationskultur versprachlichen (und ggf. auch visualisieren) können und wollen. Denn im Idealfall kann Wissenschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung gerecht werden, ohne sich durch öffentliches Engagement selbst zu diskreditieren. Leider besteht genau darin das Risiko öffentlicher Wissenschaft. Kommunikative Anschlussfähigkeit gilt akademisch rasch als irrrelevant (S. 24). Das ist höchst paradox: Wer dazu bereit ist, den politisch-normativen Imperativ nach gesellschaftlich relevanter Wissenschaft einzulösen, wird dafür noch immer innerakademisch bestraft. Besonders im deutschsprachigen Kontext scheint die Öffnung von Wissenschaften der Sündenfall zu sein. Die Ausführungen von Gwozdz zeigen, dass und wie sich Wissenschaftler:innen im Zweifel immer wieder für die Fiktion ‚reiner‘ Wissenschaft entscheiden oder stark machen. Trotz zahlreicher Studien zur vielschichtigen und ‚wilden‘ Praxis wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion, die belegen, dass neue Erkenntnisse gerade nicht lehrbuchmäßig entstehen, werden Forderungen nach Versachlichung penetrant hochgehalten. Unangenehmer Nebeneffekt: Weil das Menschliche der Wissenschaft – innere Kämpfe und Versagensängste – verbannt wurde, bleibt am Ende allzu oft nur noch dürre Sprache und Gestammel. „Zweifel, Wutausbrüche, falsche Schlussfolgerungen“ werden „vergessen und glattgebügelt“ (S. 28). Eine Form dieses Glattbügelns ist populäre Wissenschaftskommunikation, die dort ihre Grenze findet, wo die Umwege zur Erkenntnis verschwiegen oder bloß noch eine bereinigte Form von Forschung als Ergebnis präsentiert wird (S. 31).
Wer auch immer sich gegen diesen Trend strategischer Oberflächlichkeit stemmt, muss mit der Fragilität der eigenen Sprecher:innen-Position im akademischen Feld umgehen und infolgedessen Strategien entwickeln, um sowohl außerhalb als auch innerhalb der Wissenschaft fortbestehen zu dürfen. Gwozdz arbeitet heraus, wie Mitglieder im akademischen Feld sozialisiert werden und welche Vorannahmen und Postulate gerade dadurch einer Öffnung der Wissenschaften im Wege stehen. Dabei wird ein zentraler Interessenskonflikt deutlich: Dem Wunsch nach Aneignung akademischen Kapitals steht die Legitimation eines eigenen (ggf. auch eigensinnigen) epistemischen Stils gegenüber, der sich im Fall öffentlicher Wissenschaft zwangsläufig von der ‚reinen‘ Lehre unterscheiden muss. Neben Sollbruchstellen auf der Makroebene (z. B. Ökonomisierung, akademische Metriken) sind auf der Mikroebene die Einstellungen derer, die im wissenschaftlichen Feld über vermeintlich legitime Wahrnehmungs- und Bewertungskategorie entscheiden, das eigentliche Hemmnis. Unklar bleibt, wie hilfreich feldsoziologische Beschreibungen innerdisziplinärer Voraussetzungen für außerdisziplinäres Engagement tatsächlich sind, um einen Fluchtweg aus der Sackgasse des ewigen Entweder-Oder zu finden. Mit Verweis auf das gesellschaftliche Großexperiment während der Corona-Pandemie zeichnet Gwozdz am Beispiel von Christian Drosten immerhin akribisch nach, welche Kräfte zwischen Orthodoxie und Heterodoxie dabei am Werk sind. „Das ungeschützte Sprechen funktioniert (...) nur, weil er geschützt ist“ (S. 42). Wo aber bleiben die vielen Ungeschützten? Jene Wissenschaftler:innen mit kreativen Ideen, intrinsischer Motivation und einem Faible für öffentliches Engagement? Um das Kräftespiel zu verändern, muss die Frage nach der Verträglichkeit von Verständlichkeit neu verhandelt werden. Denn Verständlichkeit ist kein Selbstzweck, sondern entfaltet ihre volle Wirkungskraft erst dann, „wenn sie in Handlungen übersetzt wird“ (S. 91).
Im Fall performativer Wissenschaft ist genau das der Fall. Daher kommt es vermehrt darauf an, wie Übersetzungsstrategien und Prozesse der rhetorischen Umgestaltung im Kontext zeitgenössischer Forschungs- und Transferstrategien funktionieren, besser: funktionieren dürfen. Nur derart lässt sich die Gratwanderung zwischen öffentlicher Wissenschaft und Popularisierungsmaßnahmen von Wissenschaft (Public Understanding of Science, Popular Science Writing) angemessen verstehen. Stringent verfolgt die Autorin deshalb auch die Frage, bis zu welchem Grad sich Wissenschaft überhaupt popularisieren lässt und wie viel dieser Popularisierung Wissenschaftler:innen selbst übernehmen sollten. Sowohl Einzelpersonen als auch Organisationen, die sich mit Wissenschaftskommunikation beschäftigen, weisen dabei den Begriff des Populären meist weit von sich. Die Vermittlungsarbeit soll professionalisiert, nicht jedoch popularisiert werden. „Der Begriff des Populären wird durchgestrichen. Ersetzt wird er durch den Begriff des Verständlichen“ (S. 66). Dies markiert zugleich die Trennlinie zwischen (aktiver) öffentlicher Wissenschaft und (passiver) Wissenschaftskommunikation. Sie wird auch dadurch gezogen, dass es (im deutschsprachigen Raum) zwar Lehrstühle für Wissenschaftskommunikation, nicht aber für öffentliche Wissenschaft gibt. Oder anders: An deutschen Hochschulen wird der Spezialfall gelehrt, nicht aber das Allgemeine. Das führt auch dazu, dass jede akademische Generation auf der Suche nach einer angemessenen Sprache wieder von vorne beginnen muss. Best-Practice-Beispiele für gelungene Wissenschaftspoesie – weder zu glatt und widerspruchsfrei noch zu populär und oberflächlich – bleiben das Ergebnis zufälliger Entdeckung anstatt systematischer Vermittlung. Und im Zusammenhang mit digitalen Medien gibt es einen nahezu ungenutzten Möglichkeitsraum für neue Formen öffentlicher Wissenschaft, die sich, so die Autorin, als Form der Anpreisung von Wissenschaft geradezu aufzwingen. Wer es schafft, Hörer:innen zu einem rauschhaften „Fast Food Listening“ zu motivieren oder die neue „Clipästhetik von Zwanzig-Minuten-Videos“ (S. 75) zu kultivieren, hat zumindest eines erkannt: Lesen nimmt Zeit in Anspruch und gerade diejenigen, die sich nach einem gebildeten Publikum sehnen, werden bald enttäuscht sein, weil es nicht ausreicht, in Bücher ‚reinzuschauen‘. Die neuen Möglichkeiten des Science Streamings reichen inzwischen weit über Podcast und Youtube hinaus, werden allerdings erst zögerlich entdeckt. Gerade deshalb wäre es wünschenswert, die dafür notwendigen Kompetenzen bereits konsequent im Studium zu lehren, um später zukunftsrobuste öffentliche Wissenschaften praktizieren zu können. So lautet am Ende das Fazit der Autorin, dass es zu einer viralen Wissenschaft keine Alternative gibt: „Science goes Pop everywhere, anytime, all at once: Das ist der Slogan der Zukunft“ (S. 117). Nach öffentlich kommt nun viral!
Gewollt, aber schwierig: Öffentliche Wissenschaft im Kontext von Transferstrategien
Neben Verständlichkeit ist die Suche nach nützlichem Wissen eine weitere Aufgabe öffentlicher Wissenschaft. Der Sammelband „Forschungsbasierter Wissenstransfer und gesellschaftlicher Zusammenhalt“ stellt vor diesem Hintergrund Überlegungen zu Theorie, Empirie, Konzepten und Instrumenten vor, die allesamt in Zusammenhang mit Forschungsaktivitäten des bundesweiten (dezentralen) Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) stehen. Jenseits dieses institutionellen Gravitationszentrums sind vor allem die konzeptionellen Überlegungen zu wissenschaftlicher Wissensproduktion und transdisziplinärer Forschung verallgemeinerbar und stellen einen wertvollen Beitrag zur Kunst des Perspektivwechsels dar. Dies gilt insbesondere für Fallbeispiele zu innovativen Formaten wie Denkwerkstätten, künstlerischer Umsetzung von Wissenstransfer, Lernen im Engagement – um nur einige Beispiele zu nennen. Insgesamt wird ein breites Spektrum von Möglichkeiten gemeinsamer Wissensproduktion vorgestellt und (selbst-)kritisch diskutiert, wobei die mögliche Rolle von Bürger:innen, als Expert:innen die eigene Lebenswirklichkeit zu bezeugen, im Mittelpunkt steht. Die Stärke dieser bescheiden von den Herausgeber:innen als „systematisierender Überblick“ (S. 25) titulierten Sammlung ist eine ausgewogene Mischung aus theoretischem Fundament, praktischen Beispielen und der Reflexion von Erfahrungen. Dabei wird der Prozess von Forschung jenseits von idealisiertem Lehrbuchwissen transparent gemacht – also genau das, was sonst oft im Verborgenen bleibt. Zahlreiche Definitionen, Ordnungssysteme und Typologien wenden sich an Kolleg:innen in angrenzenden Forschungsfeldern und werden sich schon bald als hilfreich erweisen.
Im einleitenden Beitrag „Forschungsbasierter Wissenstransfer: Sozialwissenschaft in und mit Gesellschaft“ wird von den Herausgeber:innen zunächst das grundlegende Forschungsverständnis ausbuchstabiert. Es ist geleitet von der Annahme, „dass wissenschaftliches Wissen über gesellschaftlichen Zusammenhalt, seine Funktionsweisen und Dynamiken in einem kollaborativen Prozess mit der Gesellschaft zu erlangen ist und auf dieser Grundlage dann wiederum für die Gesellschaft nutzbar werden kann“ (S. 21). Ziel ist die Steigerung der Gesellschaftsfähigkeit wissenschaftlichen Wissens. Um dieses Ziel zu erreichen, bieten sich vielfältige Formen des Wissenstransfers an. Wissenstransfer wird dabei konsequent als Prozess und gerade nicht als Ergebnispräsentation ex-post eingeordnet. Stattdessen werden Forschung und Transfer im Sinne eines forschungsbasierten Wissenstransfers „als Einheit und Wechselverhältnis verstanden“ (S. 13). Die damit verbundenen Herausforderungen sind klar benennbar: Ambiguitäten, Konflikte, Perspektivvielfalt. In der Praxis des Wissenstransfers stellen sich zahlreiche Fragen nach wechselseitigen Erwartungen, divergierenden Logiken, funktionaler Arbeitsteilung und notwendigen Abstimmungsprozessen. Zwar hat die Betonung des Begriffs Wissenstransfer wohl vor allem professionspolitische Gründe. Abgesehen davon liefern die Beiträge einerseits wertvolle Einordnungen des Transferbegriffs und andererseits eine notwendige Kritik an einem zu enggeführtem Transferverständnis. Wer noch nie etwas von Verwendungsforschung gehört hat, erfährt nochmals Grundlegendes über den performativen Umgang mit Deutungsansprüchen. Zwischen den Zeilen lässt sich zwar kein Zaudern (dies bleibt einem Beitrag am Ende des Bandes vorbehalten) herauslesen, wohl aber ein Grummeln, dass sich so zusammenfassen lässt: Wissenstransfer ist gewollt, in der Umsetzung aber schwierig. „Es ist kein einfaches Unterfangen, wissenschaftliche Erkenntnisse mit gesellschaftlichen Bedarfen und Interessen an nutzbarem Wissen zusammenzuführen“ (S. 16).
Diese Schwierigkeiten werden im Beitrag „Wissen, ‚was die Welt (...) zusammenhält‘ – Verständigung über nützliches Wissen“ sehr anschaulich von Sinja Fücker präsentiert, die differenziert über divergierende Relevanzsetzungen von Nützlichkeit wissenschaftlichen Wissens nachdenkt. „Das Spannungsfeld zwischen Erwartungen an die epistemische Funktion der Wissenschaft (Erkenntnisproduktion) und Erwartungen an Leistungen, die sie für die Gesellschaft erbringen soll (gesellschaftliche Nützlichkeit), wird damit zur Reflexionsfolie, was Gesellschaft und Wissenschaft voneinander erwarten dürfen“ (S. 32). Was helfen könnte, sind ko-kreative Forschungsformate, die sich als „vielversprechende Praxis nützlicher Wissenschaft“ (S. 32–33) anbieten und hier und da auch etablieren. Dabei müssen (neben anderen Schwierigkeiten) Nützlichkeitsverständnisse und -erwartungen zahlreicher Akteur:innen synchronisiert werden.
Immerhin lassen sich auf den neuen Pfaden zwischen Wissenschaft und Praxis spannende Entdeckungen machen. Etwa darüber, wie sich das Verständnis eines linearen Wissenstransfers auflöst, wenn sich erst einmal das Bild einer „wechselseitigen Zweckgemeinschaft“ (S. 35) als Leitmotiv in den Köpfen festsetzt und Wissenschaft und Praxis ernsthaft als Kooperationspartner betrachtet werden.
Damit ist es auch nicht mehr nur die Wissenschaft, die ihr überlegenes Wissen der Praxis gönnerhaft zur Verfügung stellt und ihr auf diese Weise mit Erkenntnissen nutzt. Es ist umgekehrt auch das (...) Wissen der Praxis, das von Nutzen für die Forschung sein kann oder soll. (S. 35)
Um schlussendlich die Qualität der Ergebnisse dieses Prozesses angemessen bewerten zu können, braucht es erneut Perspektivwechsel der Forschenden, geht es doch plötzlich um die „Anerkennung außerhalb der eigenen Reihen aufgrund einer wachsenden Praxisorientierung. (...) Die Herausforderung besteht darin, lösungsorientierte Bedarfe der Gesellschaft mit der Wissens- und Wahrheitssuche von Forscher:innen in Einklang zu bringen“ (S. 36). Während es für die Naturwissenschaften leicht(er) ist, Nutzen und Wirkung nachzuweisen, erweisen sich zeitgenössische Verfahren der Wirkungsmessung in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften bislang eher als Kunstlehre. Neben den sehr instruktiven konzeptionellen Unterscheidungen zwischen Nützlichkeit und Wirksamkeit von Wissen empfiehlt sich (in Anlehnung an Nassehis Glossar) erneut die Frage nach dem Bezugsproblem: Auf welches Problem reagiert die Rede von nützlicher Wissenschaft eigentlich? Wahrscheinlich werden sich die Unterschiede zwischen Prozessen des Bewertens und des Wertens erst in der Praxis der Wissenschaft als kommunikative Zuschreibungen und relevante Unterscheidungen herausbilden. Am Ende wird es dabei sicherlich erneut um die soziale (Ungleich-)Verteilung von Deutungsmacht gehen.
Mehrere der im Band enthaltenen Fallstudien zur Praxis transdisziplinärer Forschung zeigen, dass sich bei offenen Formen der Wissenschaft nicht nur „kollaborativ arbeitende Kooperationspartner“ gegenüberstehen, „die für die gemeinsame Erkenntnisproduktion unterschiedliche Heuristiken, Wissensbestände und Logiken integrieren müssen“, wie Fücker ausführt (S. 41). Vielmehr ergeben sich zahlreiche Interessens- und Zielkonflikte (Zeitrhythmen, Arbeitskulturen, zeitlicher Investitionsbedarf, Kommunikationskulturen), Rollen- und Identitätskonflikte (Anschlussfähigkeit von Wissenschaft an praktische Lebensverhältnisse) und eben auch unterschiedliche Bewertungspraktiken von Nützlichkeit. Entscheidender wird unter dem Strich wohl das „ideelle Interesse von Forschenden“ sein, „kollaborativ an der Herstellung nutzbarer Erkenntnisse zu arbeiten“ (S. 53). Damit erweist sich transdisziplinäre Forschung am Ende einmal mehr als Frage der persönlichen Haltung im Kontext einer sich wandelnden Wissenschaftskultur.
Inmitten dieser Kultur kommt es zu einer Ausdifferenzierung von Transferstrategien. Dies wird im Beitrag „Wissenstransfer in disziplinärer und transdisziplinärer Forschung zum gesellschaftlichen Zusammenhalt am Beispiel der Transferwerkstatt ‚Wissen-schafft-Politik‘“ von JessicaNuske, PeterBleses und GünterWarsewa ausgebreitet. Hierbei geht es darum, die passende Rahmung für einen transdisziplinären Forschungsmodus zu finden, der Forschung als „engen kooperativen Wissensaustausch mit Praxispartner:innen über den gesamten Forschungsprozess hinweg“ begreift und dessen Ziel darin besteht, „nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen, sondern zudem auf gesellschaftliche Problemverständnisse explizit zu reagieren“ (S. 87). Den Autor:innen gelingt es, Varianten von Transferpraktiken in der soziologischen Forschungslandschaft typologisch so darzustellen, dass deutlich wird, wie sich disziplinäre und transdisziplinäre Forschungslogiken zueinander verhalten könnten.
Von den skizzierten (sechs) Transferstrategien erweist sich die transformative Transferpraxis am anspruchsvollsten, weil dort sozialwissenschaftliche Expertise explizit als komplementärer Bestandteil zielgerichteter Aktivitäten zur Lösung gesellschaftlicher Problemstellungen in Anspruch genommen wird, was ein hohes Maß an Vertrauen und verständnisvoller Kollaboration erfordert. Gleichwohl sind alle Transferstrategien sinnvoll, um auf ein großes Spektrum an Leistungserwartungen angemessen reagieren zu können. „Die Transferpraktiken entsprechen mithin unterschiedlichen Leistungen und Funktionen, welche die Soziologie ausfüllt beziehungsweise im Sinne einer Systemleistung für die Gesellschaft erbringt“ (S. 92). Das erfordert kunstvolle Fertigkeiten des Perspektivwechsels. Weil das Mühe macht, begegnen Soziolog:innen Forderungen „nach praktischen Gestaltungsbeiträgen“ noch immer „mit unterschiedlicher Offenheit“ (S. 93). Anstatt unterschiedliche Grade von Forschungs- und Transferpraxis zwischen Erkenntnis- und Gestaltungsorientierung gleichberechtigt zuzulassen, werden imaginäre Grenzen gezogen – Komplementarität ist in einer disziplinären Logik ein Fremdwort. Dieses Verhalten steht vollkommen konträr zur Einsicht, dass „Forschung über die Gesellschaft nicht als rein innerwissenschaftliche Angelegenheit zu begreifen“ ist, „sondern in der Gesellschaft sowie gemeinsam mit gesellschaftlichen Akteur:innen zu betreiben“ wäre (S. 94). Schade, denn eigentlich geht es nicht um „einen Gegenentwurf zum etablierten disziplinären Forschungsmodus“ (S. 105), vor dem man Angst haben müsste, sondern um eine produktive Wechselseitigkeit disziplinärer und transdisziplinärer Transferprozesse.
Handeln statt nur Wissen: Experimente mit performativen Transferformaten
Von transformativer Forschung kann dann gesprochen werden, „wenn das Ziel über den Erkenntnisgewinn hinausgeht“: etwa, wenn „die soziale Wirklichkeit der Beteiligten nicht nur verstanden, sondern auch verbessert werden soll“, wie Irene Broer, Louisa Pröschel, Jan-Hinrik Schmidt und Wiebke Schoon es formulieren (S. 232). Wie ein transformatives Transferverständnis in der Praxis aussehen kann, macht u. a. ihr Beitrag „Partizipativer Wissenstransfer im Bereich der Medienforschung – Das Beispiel der ‚Denkwerkstatt‘“ deutlich. Denkwerkstätten sind „partizipative Denk- und Diskussionsräume, die einen geschützten Rahmen für Austausch, Vernetzung und Wissensproduktion zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Akteur:innen schaffen“ (S. 232). Auch der Beitrag „Anders-Orte des Zusammenhalts – Zur Erforschung künstlerischer Formate“ von Sonja Fücker, Johannes Crückeberg und Peter Dirksmeier zeigt, wie sich Perspektivwechsel durch kreative Formate gestalten lassen. Hierzu werden Räume zwischen Wissenschaft, Kunst und Öffentlichkeit nutzbar gemacht, was sich anhand der Erfahrungen im Transferprojekt Circling Realities nachvollziehen lässt, einem Kooperationsprojekt zwischen dem Orchester im Treppenhaus, dem Videokollektiv noSignal sowie Forschenden des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Hannover. Es gibt kaum ein eindringlicheres Erlebnis, als Wissenschaft in dieser Form auf die Bühne zu bringen. Immer aber geht es darum, den bislang viel zu selten genutzten Möglichkeitsraum narrativer Methoden auszuleuchten, was allerdings auch eine entsprechende Schulung voraussetzt. Denn „Formen der Wissensvermittlung, die ihre Inhalte mit Kunst verbinden, nehmen eine besondere Stellung beim Wissenstransfer ein“ (S. 203). Ihr größter Vorteil liegt darin, dass sie es ermöglichen, eine alternative epistemologische Position von Wissen zu erzeugen. Wird wissenschaftliches Wissen über diesen sinnlich-ästhetischen Zugang vermittelt, entstehen neue Denk- oder Sichtweisen. Kurz: Der Perspektivwechsel ist bereits der Nutzen!
Regt dieser darüber hinaus auch noch zu Verhaltensänderungen an, wäre das Ziel der Transformation vollumfänglich erreicht. Auch hierfür finden sich Beispiele: So ist der von Robert Jende herausgegebene Sammelband „Öffentliche Soziologie in Aktion“ die Dokumentation herausragender angewandter öffentlicher Wissenschaft. Entstanden ist das Buch im Kontext öffentlicher Lehrforschung zum Thema „Gemeinsam Gesellschaft gestalten. Performative Soziologie als öffentliche Aktionsforschung“ sowie als Begleitung des ‚72 Hour Urban Action-Festivals‘, einem internationalen Schnell-Architektur-Festival, bei dem innerhalb von 72 Stunden zu Veränderung, Kreativität und Zusammenkommen eingeladen wird. Gegenstand dieses „Mitmachurbanismus“ war die Jenaer Plattenbausiedlung Lobeda West. Naheliegenderweise bestand das übergreifende Ziel in der Vermischung von Theorie und Praxis vor Ort. Die Forschung wurde als eigenständiger „Wirkungsmechanismus innerhalb des zu erforschenden Feldes“ betrachtet, als eine Art „Symbiose aus Forschendem und Erforschtem durch wechselseitige Einflussnahme“ (Schwerdt et al. in Jende, S. 29). Für den Zeitraum des Festivals stiegen die Forschenden „in den ‚Strom des Geschehens‘“ ein und legten am Ende ein beeindruckendes Zeugnis „für künftige Möglichkeiten einer partizipativ ausgerichteten Stadtraumgestaltung“ (S. 2) ab, wie Robert Jende im ersten Beitrag betont. Dabei demonstrierten sie, wie transformativer Wissenstransfer in der Praxis spielerisch, performativ, zielgerichtet und dennoch wissenschaftlich fundiert funktionieren kann. Der Sammelband versteht sich daher als „Ergebnis eines Experiments“, das vielfältige „Dialogformen ernstnimmt und konsequent zulässt“ (S. 1). Die resultierende „soziologische Stilblütenanthologie“ (S. 9) zeigt, wie Theorie- und Methodenlehre, Selbsterfahrungen, gegenseitiger Austausch und Erfahrungen im Idealfall aufeinander bezogen sein können. Neben dem Sammelband zeugen auch weitere Textgattungen und mediale Dokumentationsformen (ein Fanzine, ein Video) davon, dass dem Experiment sowohl Transdisziplinarität als auch künstlerische Intervention im öffentlichen Raum von vornherein eingeschrieben war (S. 9).
In der Summe wird deutlich, wie sich performative Soziologie als eine mögliche Form öffentlicher Wissenschaft dazu eignet, widerspruchsfrei nach innen in Richtung akademischer Disziplin zu kommunizieren und gleichzeitig mit außerwissenschaftlichen Akteur:innen neues Wissen „und – hoffentlich zukunftsweisende – Praxisformen“ (S. 4) zu ko-produzieren. Performative Soziologie wird damit zu „Veränderung im Vollzug“ (S. 4), einer besonders prägnanten Form des transformativen Wissenstransfers. „Verstehen im Mitmachen und in der Veränderung von Situationen wird zum erkenntnisleitenden modus operandi performativer Soziologie“ (S. 4). Alles in allem ist dies eine produktive Variante der Suchbewegung, bei der tatsächlich neue Pfade entstehen. Denn urbane Mitgestaltung meint mehr als nur die Verschönerung des öffentlichen Raums. Die Idee gesellschaftlichen Zusammenhalts ist mehr als nur Gegenstand theoretischer Reflexion. Vielmehr ging es den Beteiligten darum, sich selbst durchlässig für Veränderungen zu machen und soziale Wirklichkeit nicht nur zu verstehen, sondern selbst zu gestalten. Voraussetzung für eine Wissenschaft der Transformation sind allerdings Begegnungen, die einen „Spurwechsel in der Wahrnehmung“ (S. 8) ermöglichen und auf diese Weise helfen, die Plastizität des menschlichen Zusammenlebens zu ergründen. Performative Soziologie nimmt dabei die Form einer „Kunst des Zusammenlebens“ (S. 8) an, nutzt umgekehrt aber auch Kunst als Erweiterung der Erkenntnisformen, um neue Möglichkeiten gesellschaftlichen Lernens auszuloten. Wie das Beispiel zeigt, gelingt dies nur, wenn sich alle Beteiligten auf gleicher Augenhöhe als „transdisziplinäre Handlungskollektive begreifen“ (S. 5) und der Prozess „ohne einen besserwissenden Lehrmeister“ (S. 9) auskommt.
Grenzgänger gesucht: Öffentliche Wissenschaften zwischen gesellschaftlicher Verträglichkeit und akademischer Unverträglichkeit
Schlussendlich entsteht ein Bild öffentlicher Wissenschaft als nomadisches Projekt im Kontext eines unvollendeten Aufbruchsnarrativs. Vor allem die nächste akademische Generation muss sich noch immer durch einen Dschungel von Ungewissheiten kämpfen und einsame und oftmals riskante Entscheidungen treffen. Einerseits beobachten die Sozialwissenschaften distanziert gesellschaftliche Verhältnisse, andererseits sollen und wollen sie vermehrt zu (Mit-)Gestalterinnen von Gesellschaft werden (Backhaus-Maul et al. in Backhaus-Maul et al., S. 9). Im Idealfall würde dies neue Denkstile sowie eine modifizierte Struktur des akademischen Feldes erfordern – die Realität sieht anders aus. Gesucht sind daher weithin akzeptierte Handlungsanweisungen für zukünftige Forschung in und mit gesellschaftlichen Öffentlichkeiten: fundiert, erfahrungsgesättigt, an Hochschulen gelehrt, von der Politik verehrt sowie von der Forschungsförderung honoriert.
Wie die besprochenen Beispiele zeigen, ist die subdisziplinäre Suchbewegung bislang lediglich auf Übungsfelder gestoßen, in denen der performative Umfang mit vieldeutigen Begriffen, Erwartungen und Wissenskulturen praktisch erprobt wird. Der Weg zu Sozialwissenschaften mit öffentlichem Wert ist dennoch kein Selbstläufer. Wer das angestammte akademische Habitat verlässt und sich auf den Weg ins Freie macht, muss noch immer mit dem Verlust symbolischen Kapitals rechnen, wie Gwozdz (S. 12) beschreibt. Der erfolgreichen Etablierung einer Kunst des Perspektivwechsels stehen anhaltende Ängste vor dem Verlust der eigenen Deutungshoheit entgegen. Auf diese Weise kommt es zu Absetzbewegungen sich selbst rekrutierender Eliten im Wissenschaftssystem, deren beliebteste Rückzugsoption die Idee der Wissenschaftsautonomie ist, die mit hypnotischer Redundanz eingefordert wird. Kritiker sehen in öffentlichen Wissenschaften eine unzulässige Grenzüberschreitung oder gar eine Bankrotterklärung ‚reiner‘ Wissenschaftlichkeit. Allerdings zeigt doch gerade das Beispiel performativer Forschung, dass sich mühelos Brücken zwischen innen und außen bauen und sich Denkstile und Deutungsmuster produktiv vermischen lassen und dass offene, unkonventionelle Forschungsstile das Potenzial haben, die Trennung zwischen universitärer und außeruniversitärer Sphäre aufzuheben, Wissenschaft, Politik und Kunst sowie Theorie und Praxis zu vermischen (Saalmann et al. in Jende, S. 182).
Wer eine solche symbiotische Strategie fest im Blick behält, überwindet mühelos vermeintliche Barrien. An Abgrenzungen und Absicherungsgesten mangelt es dabei wahrlich nicht, sei es die fetischhafte Anbetung von Leitbegriffen, die vermeintlich ‚richtige‘ Methode oder (trotz aller Beteuerungen) die ‚richtige‘ Auslegung von Begriffen. Hinter solchen Reinheits- und Reinlichkeitspostulaten steckt bei näherem Hinsehen nicht viel mehr als Selbstpositionierung. In diesem Sinne reproduziert Uwe Schimank in seinem (den Sammelband zu forschungsbasiertem Wissenstransfer abschließenden) Beitrag „Wissenschaftliche Objektivität und gesellschaftliche Interessen“ einen „Zwischenruf (...) im laufenden Prozess“ (S. 439). Auf Basis einer knappen Transferhistorie möchte er für Risiken, die in außerwissenschaftlichen Verwendungszusammenhängen auftreten können, sensibilisieren. Risikominimierung bedeutet für ihn, Nützlichkeitsforderungen aus dem wissenschaftlichen Erkenntnisprozess herauszuhalten (S. 441). Einwände dieser und ähnlicher Art zeigen, dass ko-produzierter Wissenstransfer für viele Wissenschaftler:innen nach wie vor „ein rotes Tuch“ ist (S. 447). Befürchtet wird der Aufstand des Publikums, das sich erlaubt, wissenschaftliches Wissen außerhalb seiner angestammten Sphäre zu nutzen oder, schlimmer noch: umzunutzen. Mit Verweis auf die Verfassung gipfelt dies bei Schimank sogar in der Warnung, dass ko-produzierter Transfer im „Extremfall (...) eine gewichtige Beeinträchtigung von Wissenschaftsfreiheit“ (S. 448) in Deutschland darstellen könnte. Dies alles gipfelt in der Einforderung einer funktional erforderlichen „temporären Schonung der Wissenschaft“ (S. 453) durch die Praxis. Das ist nichts anderes als eine Immunisierungsstrategie gegenüber der Selbstexpertisierung engagierter Bürger:innen und zugleich ein Plädoyer gegen die Öffnung von Wissenschaft. Transformative Forschung gar mit Pseudowissenschaft gleichzusetzen, schießt erheblich über das Ziel einer Sensibilisierung hinaus. Wer glaubt, dass es im „wissenschaftlichen Kern des ko-produzierten Transfers“ (S. 457) keine gleiche Augenhöhe von Wissenschaftler:innen und Akteuren der Praxis geben kann, hat bloß nicht genau genug hingeschaut.
Leider tragen genau diese Bedenken dazu bei, dass der ‚public turn‘ in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften noch immer einem eklektizistischen Projekt gleicht. Führt vielleicht die immer wieder pathetisch betonte Selbstregulierungsfunktion der Wissenschaft und die damit verbundene Zweckfreiheit am Ende zu (mehr oder wenig) exaltierter Beliebigkeit anstatt zum erhofften ‚reinem‘ Wissen? Oder ist bislang schlicht das Bezugsproblem öffentlicher Wissenschaft unverstanden geblieben? Gesellschaft braucht bessere Problemlösungen in kürzerer Zeit. Um dazu beizutragen, sollten der kommenden akademischen Generation mehr (Weiter-)Bildungsangebote gemacht werden. Dazu braucht es angstfreie Räume an Hochschulen, in der jenseits sozial kopierter Rückzugsgesten die dringend notwendige Kunst des Perspektivwechsels erlernt und erprobt werden kann, um aus disziplinären Eremiten öffentlich engagierte Flaneure zu machen. Im Kern ist Wissenschaft eine sich selbst reproduzierende Suchbewegung. Es dürfte also kaum verwundern, dass sich als Ergebnis dieser Suche neue Subdisziplinen herausbilden. Zwangsläufig kommt es dabei zu Brüchen mit Wissensbeständen, zu Zweifeln an Methoden und Kämpfen um Legitimation. Mehr Lockerheit und Toleranz wären dabei äußerst hilfreich. Denn die Kunst des Perspektivwechsels ist kein Sonderfall, sondern der Normalfall von Wissenschaft.
© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Zur Geschichte gesellschaftlicher Klassifikationen
- Durkheims Kategorienprojekt und die Kollektivierung der Klassiker
- Die Kategorien des Denkens als Gegenstand des Kulturvergleichs
- Essay
- Was Sie schon immer über Solidarität wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
- Themenessay
- Kunst des Perspektivwechsels. Öffentliche Wissenschaften zwischen gönnerhafter Vernunftanwendung und empathischem Wissenstransfer
- Doppelbesprechung
- Protest simulieren, Affekte ausleben: Zwei aktuelle Polizeiethnographien
- Zum Verhältnis von Soziologie und Krise – Zur Standortbestimmung in herausfordernden Zeiten
- Einzelbesprechung Geschichte der Sozialphilosophie und Soziologie
- Peter Fischer, Kosmos und Gesellschaft: Wissenssoziologische Untersuchungen zur Frühen Moderne. Weilerswist: Velbrück 2023, 323 S., br., 49,90 €
- Einzelbesprechung Kapitalismus
- Sarah Lenz / Martina Hasenfratz (Hrsg.), Capitalism unbound: Ökonomie, Ökologie, Kultur. Mit Illustrationen von Maren Flößer. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 342 S., gb., 54,00 €
- Einzelbesprechung Normative Entscheidungstheorie
- Uwe Schimank, Entscheiden: Ein soziologisches Brevier. Wiesbaden: Springer VS 2022, 176 S., eBook, 22,99 €
- Einzelbesprechung Organisationssoziologie
- André Armbruster / Christina Besio (Hrsg.), Organisierte Moral: Zur Ambivalenz von Gut und Böse in Organisationen. Wiesbaden: Springer VS 2021, 473 S., eBook, 69,99 €
- Einzelbesprechung Sozialstrukturanalyse
- Christoph Weischer, Stabile UnGleichheiten: Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse. Wiesbaden: Springer VS 2022, 786 S., eBook, 44,99 €
- Einzelbesprechung Soziologie des Wertens und Bewertens
- Reiner Keller / Martin Blessinger, Positionierungsmacht: Über Formierung und Regierung der Marktakteure. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023, 162 S., br., 29,00 €
- Einzelbesprechung Visuelle Soziologie
- Sebastian W. Hoggenmüller, Globalität sehen: Zur visuellen Konstruktion von »Welt«. Frankfurt/New York: Campus 2022, 236 S., br., 39,95 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2025
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
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- Editorial
- Symposium
- Zur Geschichte gesellschaftlicher Klassifikationen
- Durkheims Kategorienprojekt und die Kollektivierung der Klassiker
- Die Kategorien des Denkens als Gegenstand des Kulturvergleichs
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- Was Sie schon immer über Solidarität wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten
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- Kunst des Perspektivwechsels. Öffentliche Wissenschaften zwischen gönnerhafter Vernunftanwendung und empathischem Wissenstransfer
- Doppelbesprechung
- Protest simulieren, Affekte ausleben: Zwei aktuelle Polizeiethnographien
- Zum Verhältnis von Soziologie und Krise – Zur Standortbestimmung in herausfordernden Zeiten
- Einzelbesprechung Geschichte der Sozialphilosophie und Soziologie
- Peter Fischer, Kosmos und Gesellschaft: Wissenssoziologische Untersuchungen zur Frühen Moderne. Weilerswist: Velbrück 2023, 323 S., br., 49,90 €
- Einzelbesprechung Kapitalismus
- Sarah Lenz / Martina Hasenfratz (Hrsg.), Capitalism unbound: Ökonomie, Ökologie, Kultur. Mit Illustrationen von Maren Flößer. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2021, 342 S., gb., 54,00 €
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- Christoph Weischer, Stabile UnGleichheiten: Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse. Wiesbaden: Springer VS 2022, 786 S., eBook, 44,99 €
- Einzelbesprechung Soziologie des Wertens und Bewertens
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