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Christoph Weischer, Stabile UnGleichheiten: Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse. Wiesbaden: Springer VS 2022, 786 S., eBook, 44,99 €

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Published/Copyright: December 5, 2024
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Christoph Weischer, Stabile UnGleichheiten: Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse. Wiesbaden: Springer VS 2022, 786 S., eBook, 44,99 €

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Die Monographie „Stabile UnGleichheiten: Eine praxeologische Sozialstrukturanalyse“ von Christoph Weischer stellt einen wichtigen Beitrag zur Sozialstrukturanalyse im Sinne der theoretischen und empirischen Untersuchung sozialer Ungleichheit dar (S. 12), dadurch dass Weischer ein noch weitestgehend ungelöstes Problem aufgreift: Die Erklärung sozialer Ungleichheit (S. V & X) über die Integration von (flexiblen) Prozessen (S. 46–47) bei der Analyse (stabiler) makrostruktureller Phänomene. Als Prozesse sozialer Ungleichheit, über die Determinanten kausal mit Dimensionen sozialer Ungleichheit verknüpft werden (Solga et al., 2009), begreift Weischer abgrenzbare Praktiken, „die in spezifischer Weise soziale Ungleichheiten beeinflussen“ (S. 4). Hiermit grenzt sich Weischer gegen die Perspektive, soziale Ungleichheit nur makrostrukturell zu betrachten, ab, weist jedoch gleichzeitig eine allein mikrostrukturelle Betrachtungsweise zurück. Im Anschluss an Bourdieus praxeologischen Ansatz geht er stattdessen davon aus, dass soziale Ungleichheit über unterschiedliche Sozialebenen hinweg und in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander analysiert werden müsse (S. 15 & 43). Diese Idee ist anschlussfähig an mehrebenenanalytische Ansätze (z. B. Helsper et al., 2013) und ethnographische Ansätze, die Prozesse sozialer Ungleichheit über unterschiedliche Formen der Kontextualisierung in den Blick nehmen (z. B. Diehm et al., 2013). Weischer untersucht unterschiedliche Ebenen mithilfe der Gegenüberstellung von sozialen Positionen und sozialen Lagen (S. 5) – ein Aspekt, der einerseits auf die Unterscheidung horizontaler und vertikaler Merkmale sozialer Ungleichheit (Hradil, 1987), welche u. a. in der relationalen Milieutheorie nach Vester et al. (2001) aufgegriffen wurden und andererseits die Kritik an einem (vermeintlichen) Gegensatz von Prozess und Struktur (Kreckel, 2013) rekurriert. Diese nur scheinbaren Gegensätze zeigen das Bestreben Weischers, „die disziplinären Grenzziehungen in den Sozialwissenschaften zu reflektieren und systematisch Grenzüberschreitungen vorzunehmen“ (S. 17) – ein Aspekt, der z. B. in intersektionalen Ansätzen aufgegriffen wird (S. 366) und sich letztendlich auch in der Integration quantitativer und qualitativer Verfahren bei der Untersuchung sozialer Ungleichheit zeigt (z. B. Emmerich & Hormel, 2017).

Hierzu entwickelt Weischer auf rund 800 Seiten ein Forschungsprogramm, das theoretische Erkenntnisse und empirische Analysen miteinander vermittelt. Ziel des theoretischen Beitrags der Monographie ist die Entwicklung „einer praxeologischen Protheorie sozialer Differenzierung“ (S. XII), der empirische Beitrag zielt einerseits auf die Sichtung und Integration von historischen sozialstrukturanalytischen Ansätzen, die Hinweise für die Untersuchung sozialer Ungleichheit in der Gegenwart geben können (S. XIII) und andererseits „die Analyse gegenwärtiger Sozialstrukturen“ (S. XIII). Hier konzentriert sich Weischer jeweils auf Deutschland als Ort der Entwicklung empirischer Ansätze sowie als Untersuchungsort, anhand dieses Beispiels soll jedoch auch die Analyse ungleichheitsrelevanter Praktiken an anderen Orten ermöglicht werden (S. XIII).

Einführend erklärt Weischer die für sein Forschungsprogramm zentralen Begrifflichkeiten (Kap. 1), bevor er sich im Hauptteil (Kap. 2 & 3) auf „die Entstehung und Veränderung von sozialen Positionen“ sowie die (Re-)Produktion daraus resultierender sozialer Lagen in vergangenen und Gegenwartsgesellschaften (S. 9) konzentriert, die er über die Verbindung mit Ranking- und Sorting-Prozessen im Kontext von Prozessen sozialer Ungleichheit betrachtet. Damit könnte – so Weischer – „an theoretische Konzepte der Intersektionalität, der rassismuskritischen Forschung, der sozialen Schließung und des Habitus angeknüpft werden“ (S. 3). Kapitel 2 und 3 baut Weischer systematisch auf, indem er beide Kapitel mit dem Fokus auf das 19. und 20. Jahrhundert beginnt, um dann (im zweiten Teil) zur Gegenwartsgesellschaft überzugehen. In beiden Kapiteln finden sich außerdem Abschnitts- und Endzusammenfassungen („Verdichtungen“), die die wichtigsten Erkenntnisse noch einmal gebündelt darstellen. In beiden Kapiteln wird (disziplinär) unterschiedliche Literatur umfassend aufgearbeitet. So greift Weischer auf Klassentheorien, Intersektionalitätsansätze, Sozialraummodelle und sozialgeschichtliche Ansätze zurück (S. 384). Teilweise verschwindet in dieser ausführlichen (Makro-)Darstellung jedoch ein wenig Weischers Fokussierung auf das Zusammenspiel von Praktiken und Strukturen zur Erklärung sozialer Ungleichheit. Im vierten, abschließenden Kapitel fasst Weischer die theoretischen und empirischen Erkenntnisse zusammen und ergänzt sie um gesellschaftspolitische Prognosen entlang des Konzepts der Marktgesellschaft (S. XIV & 11–12). Interessant hierbei ist der (vermeintliche) Widerspruch, den Weischer zwischen dieser neuen, dynamischen Gesellschaftsform und der Stabilität der in ihr vorherrschenden Ungleichheiten aufzeigt (S. 707) und die Anführung möglicher Interventionen, die über Pauschalerklärungen und Güterumverteilungen hinausgehen, indem sie auf strukturelle und praxisbezogene, prozessuale Veränderungen abzielen (S. 713, 721 & 727), die soziale Ungleichheit als Phänomen mit positionalen, kumulativen und personalen Komponenten ernstnehmen (S. 356). Demzufolge erfordere eine praxeologische Analyse eine sozialhistorische Aufarbeitung von Strukturen und Prozessen und ihrer Veränderung über die Zeit, bei der auch Unterschiede zwischen einzelnen Nationen und Typen von Arbeit, Lebens- und Generationen(ver)läufen sowie Machtstrukturen in (nicht fest vorgegebenen) Gruppen eine zentrale Rolle spielen (S. 383–384).

Insgesamt erscheint mir als Rezensentin die Monographie trotz der Leseempfehlungen zu Beginn des ersten Kapitels (S. 11–12) sehr bzw. stellenweise zu dicht. Zwar ist die Kombination einer ausführlichen theoretischen wie empirischen Darstellung mit dem Ziel, ein Forschungsprogramm in Angriff zu nehmen völlig nachvollziehbar, möglicherweise hätten jedoch Erklärungen zentraler Begrifflichkeiten aus Bourdieus praxeologischem Ansatz im Hauptteil der Monographie (z. B. die unterschiedlichen Kapitalsorten und das Habitus-Konzept) mit dem Verweis auf entsprechende Literatur gekürzt werden können. Denkbar wäre aus meiner Sicht auch eine Unterteilung in zwei (oder mehrere) Bände oder aber die Fokussierung auf einen gesellschaftlichen Teilbereich, in dem Prozesse sozialer Ungleichheit analysiert werden. Auch vor dem Hintergrund, dass die Pro-Theorie als Andockstelle für andere, spezifischere Theorien gedacht ist und Weischer das Ziel verfolgt, „systematisch Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern oder Teilsystemen herzustellen“ (S. 50), sind die Arenen bzw. Gruppierungen sozialer Positionierungen und Lagen m. E. für Analysezwecke zu groß. Es würde aus meiner Sicht helfen, kleinere Teilbereiche der Gesellschaft für die (Re-)Produktion sozialer Ungleichheit zu fokussieren oder aber eine „große“ Arena überblickshaft darzustellen und dann eine „kleine“ Arena ausführlich bzw. prozessual in den Blick zu nehmen bzw. zu beschreiben, wie eine „kleine“ Arena in den drei von Weischer genannten Haupt-Arenen agiert (S. 52–69).

Einen solchen prozessual-kleinschrittigen Analysefokus nimmt Weischer jedoch in den Exkursen ein (Kap. 2.1.3.3, 2.2.4 & 3.2.4.4). Die Themen Geschlecht/Gender und Migration, die Weischer mehrmals zur Erläuterung heranzieht, könnten sich hier für weitergehende prozessual-kleinschrittige Analysen eignen, für mich als Rezensentin bleibt jedoch offen, warum Weischer genau diese beiden Themen fokussiert (und nicht bzw. weniger Bezüge z. B. zu Gesundheit/Behinderung macht). Etwas unklar bleibt für mich darüber hinaus, was das genuin Praxeologische an Weischers Forschungsprogramm ist. Zwar verweist und arbeitet Weischer stringent mit Bourdieus praxeologischer Soziologie (u. a. S. 342), dennoch entsteht für mich an mehr als einer Stelle der Eindruck, dass nicht Praktiken, sondern Akteur:innen und ihre Positionen im Zentrum seines Forschungsprogramms stehen (u. a. S. 378 & 665). Auch in method(olog)ischer Hinsicht erschließt sich mir als Rezensentin nicht immer, warum Weischer auf bestimmte Zugänge rekurriert. So fokussiert er stark auf quantitativ-statistische Zugänge, allen voran Sekundärdatenanalysen, qualitative Zugänge kommen aus meiner Sicht etwas zu kurz, werden jedoch u. a. bei der Beschreibung von und Einordnung in soziale Lagen über die Darstellung von Ergebnissen aus Interviews berücksichtigt (S. 628). Beobachtungsstudien oder auch hermeneutische Analysen, die z. B. implizites Wissen (z. B. vgl. Honer, 1993) oder Praktiken, die zum Habitus gehören, sich jedoch sprachlich nicht umfassend erfassen lassen, aufdecken könnten (Bremer & Teiwes-Kügler, 2013), hätten hier eine wertvolle Ergänzung darstellen können. Insgesamt handelt es sich bei Weischers Monographie aus meiner Sicht um ein gut strukturiertes Buch, das einen bedeutsamen Ansatz für die Vermittlung von Prozessen und Strukturen sozialer Ungleichheit liefert und aufgrund der Thematisierung zentraler Begrifflichkeiten und Ansätze auch zur (vgl. Solga et al., 2009) Einführung in die Sozialstrukturanalyse dienen kann.

Literatur

Bremer, H., & Teiwes-Kügler, C. (2013). Zur Theorie und Praxis der „Habitus-Hermeutik“. In A. Brake, H. Bremer & A. Lange-Vester (Hrsg.), Empirisch arbeiten mit Bourdieu. Theoretische und methodische Überlegungen, Konzeptionen und Erfahrungen (S. 93–129). Beltz Juventa. Search in Google Scholar

Diehm, I., Kuhn, M., & Machold, C. (2013). Ethnomethodologie und Ungleichheit? Methodologische Herausforderungen einer ethnographischen Differenzforschung. In J. Budde (Hrsg.), Unscharfe Einsätze: (Re-)Produktion von Heterogenität im schulischen Feld (S. 29–51). Springer VS.10.1007/978-3-531-19039-6_2Search in Google Scholar

Emmerich, M., & Hormel, U. (2017). Soziale Differenz und gesellschaftliche Ungleichheit: Reflexionsprobleme in der erziehungswissenschaftlichen Ungleichheitsforschung. In I. Diehm, M., Kuhn & C. Machold (Hrsg.), Differenz – Ungleichheit – Erziehungswissenschaft. Verhältnisbestimmungen im (Inter-)Disziplinären (S. 103–121). Springer VS.10.1007/978-3-658-10516-7_6Search in Google Scholar

Helsper, W., Hummrich, M., & Kramer, R.-T. (2013). Qualitative Mehrebenenanalyse. Fritz Schütze zum 65. Geburtstag. In B. Friebertshäuser, A. Langer, & A. Prengel (Hrsg.), Handbuch Qualitative Forschungsmethoden in der Erziehungswissenschaft (S. 119–136). Beltz.Search in Google Scholar

Honer, A. (1993). Lebensweltliche Ethnographie. Ein explorativ-interpretativer Forschungsansatz am Beispiel von Heimwerker-Wissen. Deutscher Universitäts-Verlag. 10.1007/978-3-663-14594-3Search in Google Scholar

Kreckel, R. (2013). Vorwort. In S. Siebholz, E. Schneider, S. Busse, S. Sandring & A. Schippling (Hrsg.), Prozesse sozialer Ungleichheit. Bildung im Diskurs (S. 9–11). Springer VS.Search in Google Scholar

Solga, H., Berger, P. & Powell, J. (2009). Soziale Ungleichheit – Kein Schnee von gestern! Eine Einführung. In H. Solga, J. Powell & P. Berger (Hrsg.), Soziale Ungleichheit. Klassische Texte zur Sozialstrukturanalyse (S. 11–45). Campus.Search in Google Scholar

Vester, M., von Oertzen, P., Geiling, H., Hermann, T. & Müller, D. (2001). Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Suhrkamp.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2024-12-05
Erschienen im Druck: 2025-03-05

© 2025 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 11.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2024-2076/html
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