Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
Dass Prozesse der Globalisierung die religiöse Landschaft in Deutschland nachhaltig verändern, ist spätestens mit der Zuwanderung von Geflüchteten im Jahr 2015 ins allgemeine Bewusstsein gedrungen. Insofern hat das hier zu besprechende Jahrbuch für Religionspädagogik seit seinem Erscheinen 2014 an Aktualität noch gewonnen. Dass es sich gleichwohl nicht in kurzatmigen Gegenwartsbeschreibungen erschöpft, sondern laufende Transformationsprozesse in den größeren historischen Kontext der Ausdifferenzierung der Moderne stellt, macht es zu einer unabhängig vom Tagesgeschehen lohnenden Lektüre. Wer sich orientieren will, welche Herausforderungen die laufenden Wandlungsprozesse für religionspädagogisches Handeln mit sich bringen, findet in diesem Jahrbuch eine kluge Zusammenschau von religionssoziologischen Beschreibungen, historischen Spurensicherungen, systematisch-theologischen Einordnungen und religionspädagogischen Konsequenzen aus evangelischer wie katholischer Perspektive. Dabei entsteht ein vielfältiges, teils klar konturiertes, teils eher skizziertes und in sich durchaus nicht widerspruchsfreies Bild der gegenwärtigen Situation, das den Leser dazu herausfordert, die eigenen Wahrnehmungen und Deutungen einzutragen und sich an einer Hermeneutik des Religiösen in der Gegenwart sowie den darauf bezogenen religionspädagogischen Überlegungen zu beteiligen. Man kann die Texte durchaus wie Zeitschriftenaufsätze isoliert lesen. Der durchdachte Aufbau und die inhaltliche Abstimmung des überwiegenden Teils der Texte machen es allerdings lohnend, durch eine kursorische Lektüre die Beiträge als unterschiedliche Stimmen in einem (noch unabgeschlossenen) Diskurs zu hören. Sie sind innerhalb des Buches zu vier Kapiteln zusammengefasst, die religiöse Transformationsprozesse im globalen Kontext (Kap. 1), im Christentum (Kap. 2), im Kontext von Schule (Kap. 3) sowie im Blick auf ihre Auswirkungen auf die Theologie (Kap. 4) zusammenfassen und jeweils mit einem bündelnden religionspädagogischen Beitrag abgeschlossen sowie im Blick auf handlungsleitende Konsequenzen befragt werden.
In einem ersten Gesprächsgang wird der „Gestaltwandel von Religion“ in der Moderne dargestellt und mit ersten religionspädagogischen Konsequenzen verbunden. Der neuzeitliche Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung wird von Markus Buntfuß unter reflektiertem Rückgriff auf Max Webers Rationalisierungsbegriff gedeutet und in seinen ambivalenten Folgen für die Theologie beleuchtet. Für alle weiteren Beiträge des Bandes ist damit in doppelter Weise ein Rahmen vorgezeichnet: Erstens macht die historische Vergewisserung deutlich, dass die aktuell zu beobachtenden Veränderungen, mögen sie auch beschleunigt vor sich gehen, in der Dynamik der Moderne wurzeln und insofern keine ganz neue Erscheinung darstellen; zweitens zeigt ein Blick auf die neuzeitliche Theologie, dass die Transformationen nicht nur mit einem öffentlichen Bedeutungsverlust, sondern zugleich mit einem inhaltlichen Profilgewinn von Religion verbunden sind und sich darum nicht in eine schlichte Verfallsgeschichte einzeichnen lassen. Der folgende Beitrag von Henrik Simojoki konkretisiert und differenziert den Blick auf Religion in der Gegenwart, deren weltweite Entwicklungen komplex verlaufen und durch klassische, im europäischen oder nordamerikanischen Kontext entwickelte religionssoziologische Parameter wie „Individualisierung“ oder „Säkularisierung“ nur eingeschränkt erfasst werden können. Ein Religionsunterricht, der Schülerinnen und Schüler zum Leben in einer globalisierten Welt befähigen will, darf sich entsprechend nicht auf eine eurozentrische Perspektive auf Religion beschränken. Die mit der Moderne verbundene Relativierung religiöser Wahrheitsansprüche wird von Ulrich H. J. Körtner theologisch aufgenommen und eindrucksvoll in das inkarnations- bzw. kreuzestheologische Parameter einer „verletzlichen Wahrheit“ eingezeichnet, die niemandes Besitz ist, sondern stets der Dialektik von Gewissheit und Suche unterliegt. In kritischer Auseinandersetzung mit kennzeichnenden Imperativen der Moderne – sei wirksam, sei sichtbar, sei effizient! – erinnert anschließend Philipp Stoellger an ein Evangelium, das mit seinem Sinn für die otiositas, für die anökonomische Gabe und für das dem Blick Entzogene den Horizont der Wirklichkeit für das Mögliche offenhält. Das Kapitel mündet in ersten religionspädagogischen Folgerungen von Friedrich Schweitzer. Während die beschriebenen Transformationen die Bedeutung klassischer religionsdidaktischer Momente wie Erfahrungsbezug und Reflexivität nicht aufheben, sondern unterstreichen, kommt als zusätzliches Ziel von Bildung Pluralitätsfähigkeit verstärkt in den Blick – eine Folgerung, die man angesichts gegenwärtiger Herausforderungen in der bundesdeutschen Gesellschaft nur unterstreichen kann.
Das zweite Kapitel nimmt Veränderungen der institutionellen Gestalt des Christentums in den Blick. Es beginnt mit einer umsichtigen Skizze Judith Könemanns zu außerkirchlichen religiösen Sozialisationsinstanzen, die aktuelle Gestalten und Veränderungen von Familie und Peerbeziehungen (die inzwischen mehr in einem Ergänzungs- als einem Ablösungsverhältnis stehen), Schule und Mediennutzung beschreibt und im Blick auf Chancen und Herausforderungen religiöser Sozialisation analysiert. In zwei weiteren Beiträgen werden gesellschaftliche Veränderungen und darauf reagierende Reformprozesse in beiden großen Konfessionskirchen beschrieben, die in Deutschland gleichermaßen von einem öffentlichen Bedeutungsrückgang betroffen sind. Während Uta Pohl-Patalong für die evangelische Kirche primär Strukturveränderungen fokussiert, steht in der Darstellung Norbert Mettes zur römisch-katholischen Kirche das Ringen zwischen Traditionsorientierung und inhaltlichen Neuakzentuierungen im Zentrum. Im Horizont der „Großwetterlage“, die im ersten Teil des Buches umrissen wird, wünschte man freilich den Kirchen eine Verschränkung beider Perspektiven: Der katholischen Seite eine größere Sensibilität für die Lebenswirklichkeit vor Ort; der evangelischen Seite hingegen die Einsicht, dass allfällige Strukturveränderungen nicht schon von der Aufgabe absolvieren, die Theologie sorgfältig einem aggiornamento, einer „Verheutigung“ zu unterziehen. Der folgende Beitrag von Jan Hermelink wendet sich überblicksartig der infolge der Individualisierung von Religion gewachsenen Bedeutung eines Christentums außerhalb der Kirche zu; die Unterscheidung verschiedener Ebenen solchen Christentums (in individueller Prägung, im Kontext anderer Institutionen, in christlichen Gruppen sowie in der Familie) stellt eine hilfreiche Heuristik bereit. Bernd Schröder fasst in seinem das Kapitel abschließenden religionspädagogischen Beitrag die Transformationen innerhalb des Christentums pointiert zusammen und formuliert darauf bezogen Aufgaben für religiöse Bildungsprozesse wie für die religionspädagogische Reflexion – ein im Blick auf Standortbestimmung wie Zukunftsorientierung zentraler Beitrag in dem Band, der sachgerecht in der Mitte des Buches steht.
Das dritte Kapitel umfasst fünf Artikel zur religiösen Bildung in der Schule, deren Zusammenhang untereinander sowie zur leitenden Fragestellung religiöser Transformationen allerdings nicht durchweg deutlich wird. Ein inspirierender Dialog entspannt sich vor allem zwischen dem ersten und dem letzten Beitrag des Kapitels. Burkard Porzelt geht von einer Funktionsbestimmung des Religionsunterrichts im Rahmen des schulischen Bildungsauftrags aus, von wo aus er – mit Recht! – einen Bedarf an religiöser Bildung für alle Schülerinnen und Schüler folgert. Mit Blick auf die zunehmende religiöse Pluralität übt er scharfe Kritik an einer einseitigen Fokussierung binnenreligiöser Logiken und plädiert für eine Wiederaufnahme der korrelationsdidaktischen Frage nach dem Erfahrungsbezug von Religion. Wie der von ihm geforderte Zusammenhang von Außen- und Binnenperspektive (131) allerdings in einem religionskundlichen Unterricht, für den er am Ende votiert, eingelöst werden soll, bleibt offen. Elisabeth Naurath nimmt in ihrem Beitrag diese Frage auf und entwirft das differenzierte Bild eines Religionsunterrichts, der sich nicht auf kognitive Gehalte beschränkt, sondern, im Horizont religiös-weltanschaulicher Pluralität, Standorte und Überzeugungen in authentischer Begegnung sichtbar macht und so als ernstzunehmende Optionen erschließt. Drei weitere Beiträge sind jeweils einem spezifischen Aspekt von Religion in der Schule gewidmet: Der frühere Bürgermeister der Hansestadt Bremen, Henning Scherf, beschreibt in einem kurzen Essay die Entwicklung des religionsbezogenen Unterrichts in Bremen, dessen Bedeutung er primär in der Schärfung des Blicks für die Geschichte, für die Orientierung an Verantwortung und Gewissen sowie am Wohl des Anderen sieht. Dietlind Fischer zeichnet die jüngeren Plädoyers für eine religiöse Schulkultur in das pädagogische Bemühen um eine lebendige Schulkultur ein. Helga Kohler-Spiegel geht in ihrem Beitrag auf die Bedeutung der Lehrperson ein. Damit kommt ein Faktor in den Blick, dem angesichts der beschriebenen Transformationen wohl eine Schlüsselstellung zukommt: Lehrerinnen und Lehrer sollen ihren Unterricht im Horizont der religiösen Pluralität gestalten, einen eigenen Standort diskursiv einbringen – und sind zugleich selbst von der Pluralisierung von Religion betroffen: Spannungen, die eine eingehendere Behandlung verdienten.
Das vierte Kapitel ist mit „Was leistet Theologie für Gesellschaft und Religionsunterricht?“ etwas unspezifisch überschrieben. Es versammelt unterschiedliche systematisch-theologische wie religionspädagogische Überlegungen zur gegenwärtigen Theologie, die – mehr oder minder deutlich – auf die beschriebene Transformation von Religion reagieren. Ralf Miggelbrink weist in seinem Aufsatz auf einige grundlegende Einsichten des christlichen Glaubens hin, die die wissenschaftliche Theologie mit Gewinn in den öffentlichen Diskurs einspielen kann. Sabine Pemsel-Maier beleuchtet auf instruktive Weise den wechselseitigen Zusammenhang zwischen Religionsunterricht und Theologie. Ihrem Plädoyer, dass der Religionsunterricht eine gedanklich durchdrungene, auf elementare Erfahrungen und Gehalte fokussierbare Theologie benötigt, um diskursfähig zu sein, kann nur unterstrichen werden – und lässt (selbst)kritisch nachfragen, welchen Beitrag zum Erwerb einer solchen Theologie die gegenwärtige akademische Religionslehrerbildung leistet. Magnus Striet stellt in seinem Beitrag fundamentaltheologische Überlegungen zur Wahrheitsfähigkeit und Vernunftförmigkeit des christlichen Glaubens an – Überlegungen, die, ohne ihre grundsätzliche Bedeutung zu schmälern, im vorliegenden Sammelband aus Sicht des Rezensenten einen erratischen Block mit begrenztem diskursivem Anschluss bilden. Demgegenüber schließt das Interview mit Martin Laube zu einer Theologie im Horizont der Transformationskrise plausibel an Pemsel-Maiers Plädoyer für eine angeeignete Theologie an. In luzider Weise skizziert Laube die Aufgabe gegenwärtiger Dogmatik, angeleitet von klassischen Diskursen zentrale theologische Herausforderungen und Zusammenhänge zu identifizieren, um sie anschließend in einem neuzeitlichen Denkrahmen reformulieren zu können. Einer solchen Transformation der Dogmatik von einem Lehrgebäude zu einem Bildungsprogramm, das den Einzelnen selbst theologisch denken lehrt, dürfte insbesondere im Blick auf die Religionslehrerbildung eine Schlüsselrolle zukommen. Das gilt insbesondere, wenn man der von Rudolf Englert empirisch festgestellten und in einem kurzen Beitrag eindrücklich skizzierten Tendenz zur „Versachlichung“ des Religionsunterrichts, der zunehmend auf Wahrheits- und Relevanzfragen zugunsten einer „Sachkunde Religion“ verzichtet, entgegentreten will: Ein engagiertes Ringen um die potentielle Relevanz des Glaubens ist im Unterricht nach dem Ende der großen Erzählungen und Geltungsansprüche wohl nur auf Basis einer angeeigneten, selbst durcharbeiteten Theologie leistbar.
Das Buch mündet in zwölf Thesen zur „Religionspädagogik inmitten der Transformationskrise“ aus der Feder von Bernd Schröder. Sie erweisen sich als eine kluge Mischung aus Zusammenfassung und darauf bezogenen religionspädagogischen Konsequenzen. Man kann das Buch von hier aus lesen und bucht damit gewissermaßen eine Führung zu wichtigen Highlights. Man kann aber das Buch auch mit Gewinn ganz durchlesen: Es ist, gerade weil es viele offene Fragen und unabgeschlossene Diskurse enthält, eine inspirierende Seh- und Denkschulung für eine Religionspädagogik, die sich der Gegenwart entschlossen stellen möchte.
© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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- Gott sei Dank, die Wahrheit
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- Die Wahrheitsfrage als Herausforderung Interreligiösen Lernens
- „Wahrheitsfähigkeit“ als professionelles Können – Implikationen für die Religionslehrer/innenbildung
- Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
- Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
- Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
- Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
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- Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
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