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Elementare Wahrheiten – Versuch einer Präzisierung

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Published/Copyright: May 1, 2016
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Abstract:

The aim of this article is to find a deeper and clearer understanding of term „elementary truth“ created by Karl Ernst Nipkow. Reflecting on preparation and planning of courses in religious education Nipkow suggested a four-step-model that is based on elementary structures, experiences, approaches, and above all elementary truths. Later Friedrich Schweitzer added the step of elementary methods. The article shows the sources of the notion of „elementary truths“ and elaborates the question for truth as necessary part of religious learning. It is intensely connected with the question for God and for man. In a situation of radical plurality in society the article argues that religious education should hold a clear position to involve learners in a search for meaning and truth that is of existential importance for their lives. The search for elementary truth today can only be a dialogical learning process, an interaction between persons and positions.

Hinführung

Die Frage nach den ‚elementaren Wahrheiten‘ im Religionsunterricht trifft den Nerv eines Unterrichts, der sich von Religionskunde und neutraler Behandlung religiöser Themen unterscheidet. Denn wenn es um Wahrheit geht, gibt es keine Neutralität, sondern es sind Positionen und Optionen gefragt, die die Lehrenden und Lernenden in ‚elementare Gespräche‘ verwickeln sollen. Der Blick auf die Wahrheitsfrage will nicht nur das ‚grundlegend Einfache‘ im Sinne des Elementaren eines Themas hervorheben, sondern auf einer tieferen Ebene das ‚gewissmachend Wahre‘ in den Mittelpunkt rücken, das Lehrenden und Lernenden Orientierung bieten kann. An dieser Stelle beginnen viele Probleme: Was ist unter dem ‚gewissmachend Wahren‘ zu verstehen, das Karl Ernst Nipkow einst so benannte (siehe unten)? Es kann im Religionsunterricht nicht darum gehen, Wahrheiten zu verkünden, schon gar nicht heutzutage und schon gar nicht im Sinne ‚allgemeingültiger Wahrheiten‘, die alle zu akzeptieren hätten.

Es zeigt sich, dass dieser Pol der „Elementarisierung als Kern der Unterrichtsvorbereitung“[1] der wichtigste ist, zugleich aber ist er der am schwierigsten zu greifende. Auch Studierende der Religionsdidaktik haben damit nicht selten Schwierigkeiten: Ausführlich können sie in Referaten oder Prüfungen über die elementaren Strukturen, Erfahrungen, Zugänge und Lernformen Auskunft geben, neuerdings auch über die elementaren Beziehungen.[2] Die elementaren Wahrheiten indes bleiben vielfach unzugänglich, gar unverstanden oder fremd. Von daher ist ein Versuch einer Präzisierung dringend geboten. Denn um die Wahrheit insgesamt ist es in Zeiten der Pluralität nicht mehr leicht bestellt. Sie scheint durch die Vielzahl der Religionen, Weltanschauungen, Wahrheitsansprüche anderer und vor allem durch die „gezielte Kurzfristigkeit“ und „Mentalität der kurzen Dauer“[3] flüssig oder flüchtig geworden zu sein. Sollten wir deshalb in Zukunft auf elementare Wahrheiten im Religionsunterricht nicht lieber verzichten?

1. Elementare Wahrheiten: Was ist ursprünglich gemeint?

Allgemeine Didaktik und Religionsdidaktik zeichnen sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch eine gemeinsame Suchbewegung aus. Die Frage war, wie der Bildungsgedanke und damit auch der konkrete Unterricht angesichts der Krisen, ja der Katastrophen, Zusammen- und Umbrüche der ersten Hälfte jenes Jahrhunderts völlig neu aufgestellt werden kann. Kann – und soll – die Tradition im Bildungsprozess junger Menschen einfach so weiter gegeben werden, wie es klassisch der Fall war, nämlich durch einen Kanon von Traditionsgütern, die sich im Curriculum widerspiegeln? Gibt es angesichts dessen, was geschehen ist und im Blick auf die aufdämmernde Pluralität von Weltanschauungen und Religionen noch Bildungsinhalte, die allgemeine Geltung beanspruchen können? Kann beim Unterrichten noch von Wahrheit gesprochen werden? Und im Zusammenhang des Religionsunterrichts: Kann das Christentum noch Wahrheit für sich beanspruchen, die den Lernenden plausibel gemacht werden kann – und wenn ja, wie?

Mit diesen Fragen traten die Lernenden und ihre Voraussetzungen in den Fokus didaktischer und religionsdidaktischer Theorie. Bekanntlich hat Wolfgang Klafki bereits 1958 die „didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung“[4] entworfen und dabei vor allem auf die ‚doppelseitige‘ oder ‚wechselseitige Erschließung‘ der Inhalte für die Person und der Person für die Inhalte bestanden. Bildung kann nur geschehen, wenn bei der Vergewisserung und unterrichtlichen Aufbereitung der Bildungsinhalte die Lernenden mit im Blick sind – oder noch schärfer akzentuiert, wenn die Lernenden und ihre Verstehensvoraussetzungen den Ausgangspunkt für die Reflexion der Inhalte darstellen. Genau an diesem Punkt kamen allgemeindidaktische und religionsdidaktische Überlegungen in engste Berührung. Denn seit den 1960er Jahren war klar, dass die Inhalte von Bibel und Tradition nicht mehr ‚an sich‘ weiter gegeben werden können, sondern nur im Blick auf die konkreten Schülerinnen und Schüler.

Während in der römisch-katholischen Religionsdidaktik in den 1970er Jahren der korrelative Ansatz als Weg zur Vermittlung zwischen Inhalten und Lernenden entwickelt wurde und sich durchsetzte, wobei die theologische Aufwertung der Erfahrung des Menschen eine entscheidende Rolle spielte, setzen wesentliche Kräfte der evangelischen Religionsdidaktik an der von Klafki kommenden Bestimmung des Elementaren an.[5] Schließlich war es Karl Ernst Nipkow, der die verschiedenen Reflexionen und Ansätze in seiner „Theorie der Elementarisierung“ zusammenführte.[6] Bereits hier setzte er sich eingehend mit dem auseinander, was er etwas später als „charakteristisches Gepräge“[7] des Elementarisierungsansatzes bezeichnete: die Frage nach den elementaren Wahrheiten und dem Zueinander aller vier (später fünf) Dimensionen der Elementarisierung: elementare Strukturen, Zugänge, Erfahrungen und schließlich Lernformen.

Die elementaren Wahrheiten stellen die Reflexion auf das, so Nipkow, „gewissmachend Wahre“[8] dar, das hinter den inhaltlichen Strukturen und „tiefer“ als die reine Darstellung der Inhalte liegt. Die Fragen und Zweifel der Jugendlichen dürfen und müssen zur Sprache kommen, doch kann es, schreibt Nipkow weiter, nicht darum gehen, ihnen mit abschließenden Antworten aus der Bibel oder Glaubenstradition zu begegnen. Vielmehr ist ein „gemeinsamer Suchprozess“ erforderlich, der auch den Wahrheitsanspruch der Glaubensüberlieferung in Frage stellen darf. Das „gewissmachend Wahre“ wird also – im Idealfall – in der Begegnung der Lernenden mit der christlichen Überlieferung und der Person, die für diese steht, der Religionslehrkraft, aufleuchten. Am Ende bleibt deshalb nicht Beliebigkeit oder Unbestimmtheit stehen, sondern wird von Seiten der Lehrenden eine klare Positionalität erwartet. „Der Unterricht wird zu einem ‚elementaren Gespräch‘ gedrängt, das auch den Lehrer als Person und Christ, nicht nur als theologischen Fachmann verlangt.“

Der entscheidende Punkt der elementaren Wahrheiten ist für Nipkow die Gottesfrage selbst, die sich in eine kleine Anzahl einzelner Grundfragen auffächert, um die sich der Religionsunterricht drehen soll. Es sind die Fragen nach der „Existenz und Wirklichkeit“ Gottes, nach dem „Rätsel des Anfangs allen Seins“, dem „Rätsel des Endes“, wozu auch der individuelle Tod gehört und die Frage nach einem Weiterleben nach dem Tod, sowie das Geheimnis des „Lebens zwischen Anfang und Ende als Leid“, also die Theodizeefrage. Später wird Nipkow – im Autorenkollektiv mit anderen – von einem „elementaren Ringen“[9] sprechen, das im christlichen Unterricht erfolgen soll, damit die Schülerinnen und Schüler in eine persönliche Auseinandersetzung verwickelt werden.

An diesem Punkt wird ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal deutlich, das den christlichen Religionsunterricht von ‚neutralem‘ Reden über Religion, etwa einer Religionskunde, die ihre Bezugswissenschaft in der Religionswissenschaft hat, abhebt. Denn mit den elementaren Wahrheiten ist nicht eine Aneinanderreihung von Einzelinformationen, sondern die Tiefendimension der religiösen Themen in ihrem Bedeutungsgehalt für die Lernenden gemeint: Welche existentielle Wahrheit kann sich durch das Thema für die Lernenden eröffnen? Die Lernenden sollen ermutigt werden zu fragen: Welche Bedeutung hat die Frage nach Gott für mich? Was bedeuten die Themen Schöpfung, Tod, Leid etc. für mich? Die Suche nach elementaren Wahrheiten im Prozess des Religionsunterrichts stellt im Kern die Suche nach den elementaren Bedeutungen für die Beteiligten dar – Lehrende wie Lernende.

In der weiteren Darstellung und Entfaltung der Elementarisierung wurde genau dieser Punkt immer wieder betont: Bei den elementaren Wahrheiten geht es um das, „worauf es letztlich ankommt“.[10] Friedrich Schweitzer akzentuiert diesen Pol der Elementarisierung in seiner auf das Leben der Schülerinnen und Schüler bezogenen Bedeutung: „Anders als beim religionskundlichen Unterricht können Wahrheitsfragen im konfessionellen Religionsunterricht auch eine glaubensbezogene, personale Dimension gewinnen.“[11]

Von der Genese und der weiteren Präzisierung der Elementarisierungsdidaktik wird deutlich, dass sie stets an den Bildungsbegriff rückgebunden ist. Sowohl bei Karl Ernst Nipkow wie auch bei Friedrich Schweitzer ist der allgemeine Bildungsbegriff zentral für die Überlegungen zur religiösen Bildung und Religionsdidaktik.[12] Und wie die Elementarisierung kommt auch die Bildung ohne Wahrheit nicht aus, ja sie ist notwendig auf Wahrheit bezogen, da sie immer orientiert ist an der Frage „Was aus Menschen werden soll: Die Bestimmung des Menschen“,[13] also letztlich am Humanum. Bildung im umfassenden Sinne – nicht verkürzt auf Ausbildung – meint lebensbedeutsame Bildung. Von hier aus kann Elementarisierung im Ganzen und die Frage nach den elementaren Wahrheiten im Speziellen vor allem als Suche nach Lebensbedeutsamkeit der biblischen und theologischen Inhalte sowie der religionsbezogenen Themen für die Lernenden verstanden werden.

2. Vergewisserung: Religiöse Wahrheit angesichts der Pluralität

Die Rede von der Wahrheit ist angesichts religiöser und weltanschaulicher Pluralität und unter den Bedingungen der Postmoderne bzw. „flüchtigen Moderne“[14] alles andere als selbstverständlich, mehr noch, ist in höchstem Maße angefragt. Wahrheit ist „verletzlich“[15] geworden, insbesondere ist die christliche Wahrheit im ehemals christlichen Abendland keineswegs mehr von allen akzeptiert. Das Christentum hat sein Monopol auf Interpretation von Welt und Wirklichkeit verloren, seine ‚Groß- oder Metaerzählungen‘ – Gott hat die Welt erschaffen; in Jesus Christus sind wir erlöst etc. – sind keineswegs mehr Allgemeingut. Hat sich damit die Wahrheitsfrage erledigt[16] und ist sie in die Beliebigkeit der Vielstimmigkeit übergegangen? Haben radikalpluralistische und postmoderne Stimmen endgültig Recht, wonach es keine Wahrheit mehr im Singular, sondern nur noch Wahrheiten im Plural gibt? Und was bedeutet dies für religiöse Bildung?

„Mag auch die Kritik an einer Metaphysik berechtigt sein, welche nach theoretischen Letztbegründungen sucht, so wäre es doch erkenntnistheoretisch, wie ethisch und politisch verhängnisvoll, die Frage nach der Wahrheit nicht mehr zu stellen.“[17] Beispiele, die insbesondere die Ethik betreffen, können das Verhängnisvolle des Verzichts auf die Wahrheitsfrage sehr plastisch illustrieren. Wenn etwa ein Satz wie „Flüchtlinge sind menschlich zu behandeln“ nicht mehr als wahrheitsfähig erkannt und in seiner unbedingten Geltung anerkannt werden kann, ist die Humanität der Gesellschaft in Frage gestellt. Damit wird von einem anthropologischen Standpunkt aus gesehen die Notwendigkeit einer ernsthaften Diskussion um die Wahrheit sichtbar.

Doch auch aus theologischer Perspektive ist die Wahrheitsfrage unumgänglich – gerade in der Situation der Pluralität. „Eine Theologie, die sich ernst nimmt, wird kaum umhin können, von Wahrheit zu reden. Wer von Gott redet, redet auch von Wahrheit. Jedenfalls einer möglichen Wahrheit.“[18] Letztlich kann man die Wahrheit nicht objektiv setzen, sondern sie nur als mögliche und vernünftige Wahrheit in den Diskurs einbringen und zwar als Wahrheit, die man als mögliche Wahrheit erhofft. Hoffnung wird zur Begleiterin des ‚gewissmachend Wahren‘, analog zur paulinischen Formulierung: „Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung.“ (Röm 8,24). Dabei steht die Hoffnung auf Gott und seine rettende Gnade im Zentrum aller Hoffnung. Das entscheidende Kriterium der Rede von Wahrheit ist demnach die Frage nach Gott und seinem Verhältnis zur Welt. In Gottes Selbstoffenbarung, in seinem Willen zum Heil aller Menschen, in seiner Liebe, können die Glaubenden Wahrheit erkennen – stets in Hoffnung und auf Hoffnung hin.

Damit ist aber noch ein weiteres zur Frage nach der Wahrheit impliziert, das zwar immer schon Geltung hatte, aber in Zeiten der Pluralität besonders virulent ist: Wahrheit ist nicht statisch, sondern dynamisch. Sie kann nicht einfach ein für alle Mal gesetzt und formuliert werden, um dann Gültigkeit für ‚immer und ewig‘ zu haben, sondern muss, je kontextgebunden, immer wieder neu re-formuliert, neu modelliert und im Blick auf die sich stets verändernden Verständnishorizonte der Menschen ausgedrückt werden. Dies erfordert einen immer wieder neuen Suchprozess nach der vernünftigen und angemessenen Form, wie Wahrheit sich in menschlichen Worten mitteilt. Wahrheit ist ein Weg. Ein Weg, den Menschen wandern und gehen, wobei sich Wahrheit im Gehen und Wandern zeigt und erprobt.

Im Sinne des neuen Verständnisses für die theologische Bedeutung des besonderen Verhältnisses zum Judentum lohnt sich zur christlichen Selbstvergewisserung ein Blick auf jüdisches Wahrheitsverständnis. „In Judaism truth is primarily an ethical notion: it demands not what is but what ought to be.“[19] Die biblische In-eins-Setzung von Gott und Wahrheit ('emet), die eng mit Treue und Verlässlichkeit verbunden ist, nimmt den Menschen in die Verantwortung, auf Gottes Treue und Verlässlichkeit zu antworten, was nur in menschlicher Wahrhaftigkeit erfolgen kann. „Human truthfulness is to be faithful to God and man.“[20] Damit wird das menschliche Leben zum Bewährungsraum für eine an der Tora und an Gottes Wahrheit orientierte Existenz. Dieser „mainstream of Jewish thinking“ kann sowohl in der rabbinischen Tradition, als auch in der mittelalterlichen jüdischen Philosophie, u. a. bei Maimonides bis hin zu Hermann Cohen, Eliezer Berkovits, Abraham Joshua Heschel, Martin Buber, Franz Rosenzweig und vielen andern entdeckt werden. Um nur zwei Beispiele zu nennen: In Blick auf Rosenzweig schreibt Stéphane Mosès: „In der Wirklichkeit der Existenz wird die Wahrheit nicht bewiesen, sondern erprobt: wahr ist, was auf die Probe gestellt werden kann. […] Vom Standpunkt des Menschen ist wahr, wofür er lebt; indem er seinen Glauben lebt, bewährt er ihn, zeugt er als für seinen Teil Wahrheit.“[21] Wahrheit wird hier und in vielen weiteren jüdischen Zeugnissen als Weg verstanden, der im menschlichen Tun gemäß der Tora gegangen wird. ‚Halacha‘ heißt bekanntlich: gehen, wandern. Im Leben, in der menschlichen Geschichte vollzieht und realisiert sich Wahrheit, sodass „Geschichte als Erfüllung der Wahrheit“[22] verstanden werden kann.

Damit ist der Blick geöffnet für ein tieferes Verständnis von Wahrheit, das im Gegensatz zu ‚Satzwahrheiten‘ steht und für ein besseres Verstehen der ‚elementaren Wahrheiten‘ fruchtbar gemacht werden kann. Denn auch für sie ist der Weg-Charakter entscheidend, der einerseits in einem gemeinsamen Suchprozess nach Wahrheit und Verlässlichkeit, andererseits im Horizont der Bewährung von Wahrheit im Leben virulent wird. So unterscheidet auch Karl Ernst Nipkow zwei Ebenen der Wahrheitsfrage, was insbesondere für den Dialog der Religionen zu beachten ist: „Die erste Ebene ist die kognitiv-lehrhafte. Sie prägt den ‚dogmatischen Charakter‘ einer Religion.“[23] Doch in der interreligiösen Begegnung ebenso wie im Blick auf Lehr-Lern-Prozesse ist das, was wahr und gültig ist, nicht in erster Linie auf die Durchsetzung einer bestimmten Lehre zu gewichten, sondern auf die Haltung der Beteiligten, ihre Art und Weise und ihr gemeinsames Tun.[24]

Um Wahrheit – in kognitiver wie in praktischer Hinsicht – muss demnach gerade angesichts religiöser Pluralität immer wieder neu gerungen werden. Für junge Leute kann der Religionsunterricht in der Schule zu einem Forum der Auseinandersetzung mit Fragen nach der ‚Wahrheit für mich?‘ – ‚Was gilt für mich?‘ – Was kann ich glauben?‘ – ‚Welche Religion hat denn nun recht?‘ etc. werden, denn: „Religionsunterricht, wie er in der Bundesrepublik normalerweise vorgesehen ist, hat nun gerade wegen seiner jeweiligen Einbettung in christliche, jüdische oder islamische Theologie, den ‚Grundsätzen‘ der einzelnen ‚Religionsgemeinschaften‘ folgend (Art. 7,3 GG), die einmalige Chance, positionell und dialogisch zugleich ausgestaltet zu werden…“[25] Dieser dialogische Charakter der Beschäftigung mit der Wahrheitsfrage ist für die Präzisierung der Rede von den ‚elementaren Wahrheiten‘ von besonderem Interesse.

3. Weiterführung: Elementare Wahrheiten – dialogisch und relational

Einer der wichtigsten Grundsätze der Elementarisierungsdidaktik ist: Das Elementare gibt es nicht ‚an sich‘, es ist stets bezogen auf die konkreten Lernenden. „Es geht immer um das Verhältnis zwischen einem Inhalt oder Thema und bestimmten Personen, für die etwas einfach, überzeugend oder verständlich ist oder denen etwas Gewissheit schenkt.“[26] Lehrende können demnach bei der Vorbereitung von Unterricht nicht am Schreibtisch die elementaren Strukturen oder elementaren Wahrheiten ermitteln und sich danach fragen: Welche Schülerinnen und Schüler habe ich eigentlich? Oder welche Konfirmations- bzw. Firmgruppe oder welchen Erwachsenenkreis werde ich vor mir haben? Elementare Wahrheiten (und Strukturen) können nur in Bezug auf, genauer: in Beziehung mit den Lernenden ermittelt werden, sind also relational. Das Gegenteil von ‚an sich‘ ist ‚für jemand‘. Das Ermitteln der Wahrheit kann nur in einem Kommunikationsprozess erfolgen, bei dem sich die Beteiligten ‚wahrhaftig‘ einbringen und die Bedeutung der Inhalte und Themen – im Idealfall auch der Wahrheit – ‚für sich‘ erkennen, zumindest erahnen. Wie die „Kommunikative Theologie“[27] in ihren verschiedenen Entfaltungen klar gemacht hat, gilt für die Wahrheit allgemein, dass sie stets „Wahrheit in Beziehung“[28] ist, wobei Gott selbst ebenso wie der Mensch konsequent als Beziehungswesen verstanden wird. In ihren Beziehungen, in deren Reflexion und gelebter Wirklichkeit, leuchtet Wahrheit auf – oder vorsichtiger – kann sie zum Vorschein kommen. Voraussetzung ist ein kommunikativer Lehr-Lernprozess, in dem Personen miteinander und mit dem Thema in Beziehung treten und in dem es deshalb möglich ist, an manchen Stellen existentielle, lebensbedeutsame Fragen bis hin zur Gottesfrage aufrichtig zu thematisieren. Für diesen Unterricht gilt: „Es kann nicht nur über solche Fragen gesprochen werden (3. Person-Perspektive), sondern sie können zwischen den Personen verhandelt werden (2. Person-Perspektive: Ich und Du).“[29]

Elementare Wahrheiten stehen nicht subjektlos, satzhaft isoliert, sondern sind Wahrheiten in ihrer elementaren Bedeutung für konkrete Menschen. Elementarisierung bedeutet, den subjektiven Zugängen und menschlichen Erfahrungen der Lernenden die gleiche Würde zuzuerkennen wie den Inhalten der biblischen und christlichen Überlieferungsgeschichte. Beide, Lernende und Tradition, stehen ‚auf gleicher Augenhöhe‘ im Dialog, ja, sind miteinander verschränkt, da die Frage nach den elementaren Strukturen und Wahrheiten immer schon die elementaren Verstehensvoraussetzungen der Menschen im Bildungsprozess impliziert. Ohne jeden Zweifel ist die Stärke der Elementarisierung eine anthropologisch-theologische Grundentscheidung, nämlich die Aufwertung der Lernenden in ihrer religiösen Dignität, ja in ihrer Würde zur Wahrheitsfähigkeit. Es wird ihnen zugesprochen, dass sie ‚in Beziehung‘ zur Wahrheit, ‚in Beziehung‘ zum lebendigen Gott der Glaubenstradition treten können, dass sie „gottfähig“ und „gottbegabt“ sind.[30]

Am Beispiel christologischer Glaubenssätze kann dies besonders illustriert werden. Sie sind wertlos, wenn sie irgendwo niedergeschrieben sind, aber für niemanden bedeutsam werden. Erst wenn diese Glaubensinhalte zur Wahrheit für bestimmte Menschen werden, wenn sie, wie Karl Rahner sagt, als „existentielle Christologie“[31] Realität gewinnen, also wenn die Menschen ihre Beziehung zu Jesus und zu Gott reflektieren, sich für sie sensibilisieren und am Ende vielleicht öffnen, kommt Christologie als theologische Reflexion an ihr Ziel. Das gleiche Beispiel könnte mit vielen anderen grundlegenden theologischen Themen buchstabiert werden. Ein elementarisierender Religionsunterricht, der die ‚elementaren Wahrheiten‘ als ‚elementare Beziehungen‘ ins Spiel bringt, kann solche existentiell bedeutsamen Lehr-Lernprozesse eröffnen.

4. Religionsdidaktische Konsequenzen

Das Gesagte kann in vier ‚elementaren‘ Punkten zusammengefasst werden, die helfen sollen zu präzisieren, was unter ‚elementaren Wahrheiten‘ im Kontext einer elementarisierenden Religionsdidaktik verstanden werden kann.

Elementare Wahrheiten für mich/ für uns. Religionsunterricht will nicht an der Oberfläche bleiben, sondern jungen Menschen Orientierung bieten und Positionen anbieten, an denen sie sich reiben können, um ihren eigenen Standpunkt zu finden. Indem Lehrende mit den Lernenden über Fragen in Austausch, gelegentlich auch ins konstruktive Streiten kommen, Fragen, die für sie Bedeutung haben, zumindest für einige Schülerinnen und Schüler Bedeutung gewinnen können, kann religiöse Bildung „Orientierungskompetenz“[32] fördern. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn Religionsunterricht rückgebunden an die Glaubensinhalte von Religionsgemeinschaften unterrichtet wird (Wahrheit für uns), in dem die Lehrenden ihre Positionen einbringen können, um sie den Lernenden als Angebot und als Möglichkeit vorzulegen. Wenn die Lernenden dann manche der Themen und Inhalte in ihrer Bedeutung für sich erkennen und aneignen, aber auch, wenn sie Kritik und Zweifel daran äußern, um für sich einen eigenen Weg zu wählen, wäre Religionsunterricht an sein Ziel gekommen, nämlich religiöse Mündigkeit zu fördern und eigene Entscheidungskompetenz in religiösen Dingen zu entwickeln. Dann wäre Wahrheit in ihrem Biografiebezug erkennbar.[33] Beispielsweise können innovative bibeldidaktische Ansätze die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler so einbeziehen, dass sie in Begegnung mit den biblischen Texten merken können ‚hier geht es um mich‘.[34]

Elementare Wahrheit auf Hoffnung hin. Religiöse Wahrheiten können immer nur auf Hoffnung hin formuliert und artikuliert werden. Jedes Glaubensbekenntnis, jede Äußerung über Gottes Existenz, seinen Willen zum Heil aller Menschen, die Heilsbedeutung Jesu Christi, aber auch das, was andere Religionen für wahr und heilig halten, kann nicht bewiesen werden, wie das Scheitern aller philosophisch-theologischen Gottesbeweise zeigte, sondern kann ehrlicherweise nur als Hoffnung bekannt werden. Bekenntnis ist Hoffnung. Religionsunterricht, der die elementaren Wahrheiten eines Themas berührt, kann sich dadurch entlasten, dass diese Wahrheiten nicht bewiesen werden müssen, sondern dass sie in ihrer Hoffnungsgestalt zum Tragen kommen. Insofern ist eine „Religionspädagogik der Hoffnung“ in der Spätmoderne aktueller denn je.[35]

Elementare Wahrheit als Weg. Religionsdidaktik kann sich immer wieder als Initiatorin für Suchprozesse, Religionsunterricht als suchende Bewegung begreifen. Wenn die Tiefenstruktur des Themas, also eine elementare Wahrheit ins Gespräch gebracht wird, ist der Lehr-Lernprozess nicht an sein Ende gekommen, sondern eröffnet für die Lernenden Anfänge. Beispielsweise können kinder- und jugendtheologische Didaktiken die Sichtweisen der jungen Menschen stark machen, indem es gelingt, Theologie mit den Lernenden zu betreiben, wobei dann unter ‚Lernenden‘ die Schülerinnen und Schüler, aber auch die Lehrerinnen und Lehrer zu verstehen sind.

Elementare Wahrheit in Dialog und Begegnung. Alles oben Angedeutete verweist auf den dialogischen Charakter religiöser Bildung. Letztlich wird Religion (und schon gar Glaube) nicht abstrakt gelernt, sondern in Begegnung und Beziehung. Im elementaren Gespräch, in elementarer Begegnung und Beziehung, die auf gleicher Augenhöhe erfolgt, können sich auf beiden Seiten, bei Lernenden und Lehrenden, kreative Neuentwicklungen ereignen. „Die Frage nach der Wahrheit ist immer auch ein interpersonales Geschehen. Sie sorgt dafür, dass der Religionsunterricht ein besonders spannendes Fach sein kann.“[36]

Die Suche nach der Wahrheit hat die Menschen bereits zu biblischen Zeiten umgetrieben. Nicht von ungefähr ist in der Bibel an Hunderten von Belegstellen von ‚Wahrheit‘ (͗emet oder ǎlétheia) die Rede und wurde in der Glaubensgeschichte um die Wahrheit so energisch gerungen und gestritten. Sie in Zeiten der Pluralität fallen zu lassen, könnte in Beliebigkeit, Relativismus oder gar in Gleichgültigkeit münden, die sowohl das Humanum als auch die Gottesfrage verfehlen. Christlicher Religionsunterricht hingegen kann Wahrheiten ins Gespräch bringen, die elementar mit Jesus Christus verbunden sind, von dem theologisch gesagt werden kann „Wahrheit ist Person“[37] und der biblisch als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ geglaubt wird (Joh 14,6).

Als Jesus von Pilatus gefragt wird „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38), sagt er bekanntlich nichts. Er schweigt. Er zeigt ihm – und damit auch uns heute – auf die Frage nach der ‚elementaren Wahrheit‘ nichts anderes als sein Antlitz.


Anmerkung:

Diesen Beitrag widme ich Karl Ernst Nipkow (1928–2014), der in meiner religionspädagogischen Biografie ein Bildungsereignis darstellte und dem ich nicht nur Fachliches, sondern viele kreative Begegnungen verdanke. Vgl. Reinhold Boschki/Claudia Schlenker, Brücken zwischen Pädagogik und Theologie. Mit Karl Ernst Nipkow im Gespräch, Gütersloh 2001.


Online erschienen: 2016-5-1
Erschienen im Druck: 2016-3-1
Erschienen im Druck: 2016-5-1

© 2016 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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  14. Ahmad Mansour, Generation Allah: Warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen. Frankfurt am Main: S. Fischer. 2015, 270 S., € 19,99. Kurt Edler, Islamismus als pädagogische Herausforderung. Stuttgart: Kohlhammer. 2015, 116 S., € 22,99.
  15. Zimmermann, Mirjam: Interreligiöses Lernen narrativ. Feste in den Weltreligionen, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 142 S., € 18,00 Zimmermann, Mirjam: Feste in den Weltreligionen. Narratives Unterrichtsmaterial für die Sekundarstufe I, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 95 S., € 23,00
  16. Rudolf Englert, Helga Kohler-Spiegel, Elisabeth Naurath, Bernd Schröder, Friedrich Schweitzer (Hg.): Religionspädagogik in der Transformationskrise: Ausblicke auf die Zukunft religiöser Bildung (JRP 30), Neukirchen-Vluyn, Neukirchner 2014, 222 S., € 32,00.
  17. Warnke, Silvia: Religiöse Bildung mit Elementen aus der Popularkultur. Praktische Unterrichtskonzeptionen für den Religionsunterricht an Realschulen in Bayern (Studien zur Kirchengeschichte und Theologie, Bd. 10), Gabriele Schäfer Verlag, Herne 2015. 428 S., kartoniert, mit fünf farbigen Tabellen und einem Farbfoto, 27,90 €.
Downloaded on 13.12.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/zpt-2016-0008/html?lang=en
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