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„Ich bin ganz aus Disziplin zusammengesetzt!“

Klaus Hildebrand zum 80. Geburtstag
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Veröffentlicht/Copyright: 1. Januar 2022
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„So anregend es sein mag, einer gegenwärtig favorisierten Tendenz der Historiographie zufolge, Geschichte als ein vornehmlich subjektiv verstandenes Ensemble aus Sinneswahrnehmungen und Deutungsmustern, Symbolen und Repräsentationen, sozialer Praxis und Ritualen zu verstehen, geht es [...] darum, Sachverhalte zu rekonstruieren und Entscheidungslagen zu analysieren, also festzustellen, wie es eigentlich gewesen ist und warum es so gewesen ist. Die kulturalistische Tendenz unserer Tage mag, wenn sie den monographischen Test auf verschiedenen Feldern einmal in ausreichender Art und Weise bestanden hat, vielleicht Aufschlüsse geben, die jetzt noch verborgen sind; vorläufig jedenfalls sind die theoretischen Ansprüche ausgeprägter als die tatsächlichen Erträge. Denn auch in methodischer Hinsicht trifft zu, was im allgemeinen seine Geltung hat: Bewegung muß nicht immer mit Fortschritt und Wandel nicht unbedingt mit Verbesserung einhergehen. Diese Feststellung ist beileibe keine Absage an jene erforderliche Erneuerung des methodischen Rüstzeugs, um die sich die Geschichtswissenschaft ohne Unterlaß bemüht. Sie will aber durchaus als eine Warnung davor verstanden sein, nicht angesichts der Tatsache, daß Objektivität zu erreichen ein erkenntnistheoretisches Ideal bleiben muß, dem man sich nur annäherungsweise zu nähern vermag, jedem neuen ,turn‘ umgehend zu folgen und darüber die zentrale Aufgabe der Historiographie zu vernachlässigen, nämlich eine Geschichte darzustellen.“[1]

Dieser Ausschnitt aus dem Vorwort der Geschichte der deutschen Außenpolitik von der Reichsgründung 1871 bis zur „deutsche[n] Katastrophe“ 1945 legt wie in einem Brennglas, pointiert und elegant zugleich, die wissenschaftliche Position Klaus Hildebrands dar. Wer ist dieser Mann, der sich nie gescheut hat, sich – stets mit dem Florett statt mit dem Säbel – in die zentralen Auseinandersetzungen der deutschen und internationalen Historiographie der letzten 50 Jahre einzumischen?

Klaus Hildebrand wurde am 18. November 1941 in eine Kaufmannsfamilie geboren. Über Kindheit und Jugend ist wenig bekannt, aber es liegt nahe, dass sich dem jungen Mann nach dem Besuch des Gymnasiums und dem Abitur 1961 in Kassel neue geistige Welten öffneten. Das von ihm angestrebte Studium der Geschichte, Politischen Wissenschaft und Germanistik nahm er an der Universität Marburg auf, wo er sich noch im selben Jahr einschrieb. Hier begegnete er dem eine halbe Generation älteren Andreas Hillgruber, dessen Forschungsleistung und ungeheure Detailkenntnis vom Kaiserreich bis zum Dritten Reich er bewunderte und dem er bis zu dessen Tod eng verbunden blieb.

In Marburg wurde er 1963 Wissenschaftliche Hilfskraft von Fritz Wagner, einem Universalgelehrten alter Schule. 1965 wechselte Hildebrand als Wissenschaftlicher Assistent von Manfred Schlenke an das Seminar für Neuere Geschichte des Historischen Instituts der damaligen Wirtschaftshochschule Mannheim. Dort wurde er 1967 „summa cum laude“ mit der über 900 Seiten starken Dissertation promoviert, die schon zwei Jahre später unter dem Titel „Vom Reich zum Weltreich. Hitler, NSDAP und koloniale Frage 1919–1945“ im Münchner Wilhelm Fink Verlag als Buch erschien – eine quellengesättigte und auch unter den Aspekten der heutigen postkolonialen Geschichtsschreibung erhellende Studie zu den kolonialpolitischen Ideen in den Jahren nach dem Untergang der Hohenzollernmonarchie und in der NS-Diktatur.

Ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft ermöglichte ihm 1969 einen längeren Aufenthalt in Großbritannien; seine Faszination für die britische Geschichte rührt zweifellos aus dieser Zeit und zieht sich bis heute durch sein Œuvre. Als Frucht dieser Arbeit entstand die umfangreiche Untersuchung „Preußen als Faktor der britischen Weltpolitik 1866–1870. Studien zur Außenpolitik Großbritanniens im 19. Jahrhundert“, mit der sich Hildebrand in Mannheim für das Fach Neuere Geschichte habilitierte.[2]

Danach wechselte er als Wissenschaftlicher Rat und Professor für Allgemeine Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an die noch junge Universität Bielefeld – eine Station auf seinem Karriereweg, die einer gewissen Ironie nicht entbehrt, denn dort lernte er eine ganze Reihe seiner späteren wissenschaftlichen Kontrahenten kennen. Mit manch einem von ihnen duzte er sich sogar, wie der Schriftverkehr verrät – ein durchaus ungewöhnlicher Zug für Hildebrand, der in der Regel auf professionelle Distanz Wert legt.

Zu diesem mit „bürgerlich“ nur unzureichend beschriebenen Auftreten gehört im Übrigen auch der Kleidungsstil. Die Zahl derjenigen, die ihn jemals ohne Anzug und Krawatte gesehen haben, dürfte sich an den Fingern einer Hand abzählen lassen. Das ist keine Attitüde, sondern als Ausdruck des Respekts vor der Institution Universität und ihren Studierenden zu verstehen, vielleicht darf man sogar den etwas schiefen Vergleich zu August Bebel bemühen, der es mit der Institution des Deutschen Reichstags ebenso hielt.

Hildebrand gehört zwar zu einer Generation, in der viele junge Intellektuelle sich revolutionsbegeistert im Laboratorium des Klassenkampfs tummelten, was sie später wortreich zu erklären versuchten. Hildebrand selbst analysierte dieses „Fieber der Veränderung“,[3] in dem die marxistische Ideologie im juste milieu hoffähig wurde. Anstecken ließ er sich von dieser Erregung nicht: Er sah eher die Verführbarkeit des Geistes, die Raymond Aron in seinem „L’opium des intellectuels“ so treffend analysiert hatte.[4] Und Hildebrand zitiert gern Theodor W. Adornos Diktum, dass der Bewegung der 68er „ein Quentchen Wahn beigemischt“ sei, „dem das Totalitäre teleologisch innewohnt“.[5] Gegen jede Liebäugelei mit historischen Moden, die kommen und gehen, ist er spätestens seit dieser Zeit immun, ebenso gegen jegliches Missionarische, gegen das er nüchterne Vernunft und Common Sense setzt.

Die Doktorarbeit zur kolonialen Frage hatte mannigfache Aspekte des totalitären Zeitalters berührt, was Hildebrand in seinen Forschungen nicht mehr losließ: Die Schreckensherrschaft des Dritten Reichs wurde ein Schwerpunkt seiner wissenschaftlichen Arbeit. Die Verbindung zur Dissertation zeigte sich beispielsweise in einem 1971 erschienenen wichtigen Überblick zur NS-Außenpolitik.[6] Von hier war es nicht weit zu dem Werk, das ganze Generationen von Studierenden begleitet hat: Die in der Reihe „Oldenbourg Grundriss der Geschichte“ publizierte Darstellung „Das Dritte Reich“.[7] In der dem Aufbau der Reihe entsprechenden Gliederung in einen darstellenden Teil, einen besonders wichtigen Abschnitt zu den Forschungstendenzen und einen Literaturteil, hat dieser Band wahrscheinlich die größte Wirkung ausgeübt. Es ist nicht allein die weithin anerkannte Souveränität, mit der Hildebrand ein beinahe unüberschaubar gewordenes thematisches Feld überblickt. Es ist vor allem die Fairness und der Respekt vor wissenschaftlichen Positionen, die nicht seine eigenen sind: So entstand ein nach wie vor unverzichtbares Studien- und Arbeitsbuch, das verlässlich über das „Tausendjährige Reich“ und seine Beurteilung durch die Wissenschaft informiert, regelmäßig à jour gebracht und ergänzt sowie zudem in zahlreiche Sprachen, unter anderem ins Japanische, übersetzt wurde – ein Vademekum zum Verständnis des „Age of Extremes“.[8]

Kritiker wie Wolfgang J. Mommsen haben Hildebrand in den 1970er Jahren einen angeblich altmodischen, ja überholten diplomatiegeschichtlichen Ansatz vorgeworfen. Liest man allerdings seine Aufsätze, in denen er sich mit sozialhistorischen Fragen auseinandersetzt, wird augenfällig, wie substanzlos diese Kritik war. Die Beiträge hatten paradoxerweise sogar einen geschichtstheoretischen Charakter, obwohl sich Hildebrand lieber an Fakten und Quellen als an Modellen orientierte. Der 1976 in der Historischen Zeitschrift erschienene Aufsatz „Geschichte oder ‚Gesellschaftsgeschichte‘?“ ist ein Plädoyer für die sinnvolle Verbindung beider Ansätze, die sich allerdings gegen die Indienstnahme der Geschichte wehrte und stattdessen für Unvoreingenommenheit plädierte. Auch der herbeigeschriebene und konstruierte Streit zwischen den sogenannten Intentionalisten und Funktionalisten in der Forschung zur Person Hitler ist heute neige d’antan und interessiert außer Spezialisten in der Zunft niemanden mehr. Dass aber das Dritte Reich ohne Hitler und seine Helfershelfer nicht zu verstehen ist und biografische Studien notwendig sind, um totalitäre Regimes zu verstehen, zeigt der bis heute ungebrochene Boom der Täterforschung. Und warum müsste es eine vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebene, zweibändige kritisch kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ geben,[9] wenn Hitler für das Verständnis der NS-Herrschaft nicht unerlässlich wäre?

Die wissenschaftliche Karriere hatte inzwischen ihren Fortgang genommen: Im Wintersemester 1973/74 vertrat Hildebrand den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität München, 1974 lehnte er einen Ruf an seine alte Universität Marburg ab und nahm stattdessen einen Ruf als Ordentlicher Professor an die Universität Frankfurt am Main an. Dort blieb er drei Jahre und wurde 1977, im Alter von 36 Jahren, auf einen Lehrstuhl für Neuere Geschichte nach Münster berufen. Ein verlockendes Angebot aus dem Jahr 1978, den Krupp Chair of Modern History am Department of History der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) zu übernehmen, schlug er aus, weil ihn dies zu sehr auf die Geschichte des Dritten Reichs festgelegt hätte, wie er gegenüber Lothar Gall bekannte.[10] Mit diesem pflegte er seit dieser Zeit so etwas wie eine „Männerfreundschaft“, ein Typus von Verbundenheit, zu dem bekanntlich auch strategische Elemente zählen.

Die wissenschaftlich fruchtbaren Jahre in Westfalen blieben allerdings ein Intermezzo. Hildebrands Wanderleben endete 1981, als er dem Ruf auf den Lehrstuhl für Mittelalterliche und Neuere Geschichte an der Universität Bonn folgte, wo er inzwischen Emeritus ist – eine nachvollziehbare und zugleich erklärungsbedürftige Standortentscheidung. Das Historische Seminar der Universität Bonn war seit langem geprägt von einer epochenübergreifend streng quellenkritischen Grundlagenforschung, was sich in zahlreichen Editions- und anderen Forschungsprojekten niederschlug. Durchwirkt war das Historische Seminar, das im ehemaligen Preußischen Oberbergamt am Ufer des Rheins residiert, aber auch durch einen nur schwer zu bestimmenden Katholizismus, der durch Persönlichkeiten wie Max Braubach und Konrad Repgen weitergetragen worden war. Hildebrand steht dem Katholizismus als religiösem Bekenntnis neutral gegenüber. Mit dem rheinischen Geist, seiner oberflächlichen Leichtigkeit und bisweilen plumpen Vertraulichkeit kann er zwar bis heute persönlich nicht viel anfangen, akzeptiert diesen aber mit dem notwendigen Humor. In der Bonner universitären Habitusgemeinschaft fühlte er sich jedenfalls sogleich zu Hause und ist der Stadt bis heute treu geblieben. Einen Ruf nach München als Nachfolger von Thomas Nipperdey schlug er 1993 aus, obwohl ihm ein Forschungsaufenthalt am Historischen Kolleg in der idyllischen Kaulbachstraße gut gefallen hatte.

In Bonn galt es, nun auch eine stetig wachsende Doktorandenschar zu betreuen. „Hildebrand-Schüler“ zu sein, diese Bezeichnung wurde von den Betroffenen nicht als Signum der Unselbstständigkeit, sondern als Auszeichnung betrachtet. Sie sind stolz darauf, ihre eigene wissenschaftliche Souveränität dadurch gewonnen zu haben, bei ihm das „Handwerkszeug des Historikers“ und den kritischen Blick auf die Quellen gelernt zu haben. Und sie merkten rasch, dass sein distinguiertes Auftreten nicht Unnahbarkeit oder gar Gleichgültigkeit bedeutete, denn Klaus Hildebrand kümmerte sich stets um das Gedeihen der Keimlinge, die im fruchtbaren Boden seiner Lehre sprossen. Anders als viele seiner Kollegen legte er hingegen weniger Wert auf Schul- und Netzwerkbildung. Das hat vielleicht dazu beigetragen, dass viele der von ihm promovierten Schüler heute nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in Politik, Wirtschaft und Medien tätig sind.

Der Hörsaal VIII im Hauptgebäude, dem ehemaligen Kurfürstlichen Schloss, war bei Hildebrand regelmäßig überfüllt. Dies führte immer wieder zu Unmut unter den Jüngeren, die sich von den zahlreichen Seniorenstudenten um ihre Sitzplätze gebracht sahen. Hildebrands Eloquenz, Stilsicherheit und seine perfekt ausformulierten Vorträge, die von virtuosen Handbewegungen unterstrichen wurden, fesselten seine Zuhörer: „In langen Sätzen legte Hildebrand die ineinandergreifenden Bedingungen auseinander, um sie wieder zusammenzuführen. Das Komma, nicht der Punkt, muss das liebste Satzzeichen des Dialektikers sein.“[11] Unvergessen bleibt allen Teilnehmern seiner Haupt- und Oberseminare seine Meisterschaft der Synthese. Zum Ende einer Sitzung oder als Zusammenfassung einer Diskussion formulierte er ebenso kurz wie präzise die gewonnenen Erkenntnisse und benannte zugleich das, was noch zu leisten blieb. Geschichte, so mahnt Hildebrand zudem immer wieder, sei auch eine literarische Wissenschaft – und von diesem Anspruch her erklärt sich wohl der schon früh geäußerte Wunsch, irgendwann einen Roman schreiben zu wollen (aus verlässlicher Quelle heißt es dazu, dass John Updikes Bücher dafür ein Vorbild sein könnten). Geschraubte Theoriesprache ist ihm fremd; die theoretische Fundierung ist vielmehr die Basis für die Durchdringung und Präsentation quellenorientierter Erkenntnisse. Perspektivwechsel, die Beachtung neuer und bisweilen überraschender Forschungsergebnisse, fortwährende wissenschaftliche Auseinandersetzungen auf Quellenbasis: das ist das Lebenselixier Hildebrands, der immer auch das Fluide und die Grautöne der Geschichte betont sowie die Janusköpfigkeit der Moderne und ihre Ambivalenzen. In einem Interview in einer Studentenzeitschrift erwähnte er seine Abneigung gegenüber Menschen, „die immer sofort wissen, wo es langgeht“.[12]

Der weitverbreitete Kulturpessimismus ist Hildebrand übrigens fremd. Um die Zukunft der Hochschulen solle man sich beispielsweise keine allzu großen Sorgen machen: An der Universität sei in den letzten beiden Jahrhunderten zwar unendlich viel „reformiert“ worden, sie habe aber als Bildungsinstitution im Humboldtschen Geist gleichwohl überlebt. Die bürokratischen Eigenwilligkeiten der Massenuniversität trug Hildebrand mit Fassung; die bisweilen lästige Gremienarbeit ließ sich kaum umgehen, langatmige Vorstands- und Fakultätsratssitzungen galt es mit stoischer Ruhe zu ertragen. Fast ein geflügeltes Wort ist sein Hinweis, dass manche Ärgerlichkeit „mit dem Gehalt“ abgegolten sei. Lothar Gall hat mit dem ihm eigenen kritischen Blick bemerkt, dass Hildebrand sich der „an ihn herangetragenen Aufgaben und Funktionen geduldig und sozusagen pflichtschuldig unterzogen“ habe, „ohne doch darin den Kern seines Daseins als Gelehrter zu sehen“.[13]

Für Hildebrand war die Universität als Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden keine Floskel. So verlockend die Tätigkeit an einem reinen Forschungsinstitut auch sein mochte, bevorzugte er den Austausch mit dem akademischen Nachwuchs. Die jeweils am Donnerstagabend stattfindenden Oberseminare im Großen Übungsraum des Historischen Seminars in der Bonner Konviktstraße waren geradezu legendär: Wer sich in diesem Kreis nicht nur der Beurteilung des Professors aussetzte, sondern auch die bisweilen noch kritischeren Nachfragen mancher Kommilitonen parierte, konnte sich sicher sein, durch Hildebrands autoritativen Stil etwas fürs Leben und den eigenen wissenschaftlichen Fortgang gelernt zu haben. Die Teilnehmer lernten ihn als Ironiker kennen, über dessen scheinbar „lakonisch dahingesprochenes Wort“ man immer wieder „nachgrübeln“ musste.[14] Ehrfurcht und Begeisterung gehören in einer bezeichnenden Mischung zu dieser Essenz. Einer seiner Schüler schrieb in der Danksagung seiner Dissertation zur preußischen Staatlichkeit in der Zeit der Französischen Revolution, ihn habe ebenso die Liberalität wie das profunde Faktenwissen Hildebrands beeindruckt: „Mit Vornamen kennt er manchen Legationsrat, dessen Nachnamen man kaum je gehört hat!“[15] Hildebrand machte die Arbeit Spaß. Natürlich gehörten der Urlaub und das Feierabendbier dazu, aber mit Lebensentwürfen, die eine Work-Life-Balance vorschlagen, brauchte man ihm nicht zu kommen, auch wenn er sie anderen durchaus zubilligte. Die „Selbstkontrolle“ und „Arbeitsdisziplin“ wirkte auf viele Kollegen faszinierend, auf manche sogar einschüchternd: „Wo Jüngere die Logik der fortschreitenden Arbeitsteilung durch Halbierung der Lebensarbeit exekutieren und sich in der Phase zwischen Ruf und Emeritierung nur noch als Forschungsmanager verstehen“, legte Hildebrand immer wieder große Bücher vor.[16]

Die „Bonner Republik“, die Hildebrand vom Seminar am Rheinufer aus wissenschaftlich begleitete und kommentierte, war Anfang der 1980er Jahre ein politisches Machtzentrum, weil der „Abschied vom Provisorium“[17] noch nicht zu erkennen war. Es ist kein Zufall, dass Hildebrand in seinen Veranstaltungen gerne die „bundesdeutsche Ideologie“ zitierte, die der schweizerische Publizist und Historiker Jean Rudolph von Salis einmal treffend so beschrieben hatte: Diese sei bestimmt durch ihren „scharfe[n] Antikommunismus, ihr[en] katholische[n] Konservatismus; ihr abendländisches Europäertum, ihr Bekenntnis zum Rechtsstaat, ihre kapitalistische Bürgerlichkeit, ihr tiefes Misstrauen gegen alles, was im Osten liegt, aber auch ihre Furcht vor der nationalistischen Hybris, die Hitlers Diktatur gekennzeichnet hatte“.[18] Hildebrand legte, wie zum Beweis dieser These, 1984 eine wichtige aus dem Archivmaterial geschöpfte Studie zur Bundesrepublik in den 1960er Jahren vor: „Von Erhard zur Großen Koalition“ war eine Pionierarbeit, weil diese wichtige Übergangsperiode bis dahin nur journalistisch erschlossen worden war. Selbst heute ist das Werk noch ein Lesevergnügen, weil es sich eben nicht auf die große Politik beschränkt, sondern mit Feingefühl jene Stimmung gesellschaftlicher Veränderungen beschreibt und analysiert, die wir heute als Wertewandel bezeichnen.

In jenen Jahren war Hildebrand an zentraler Stelle an dem Vorhaben beteiligt, die junge Republik erstmals durch ein innovatives historisches Museum gleichsam auszustellen. In diesem Projekt für ein Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland arbeitete er seit 1983 als Mitglied der Sachverständigenkommission mit, seit 1986 war er Mitglied des Gründungsdirektoriums und schließlich für viele Jahre Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats. Dass das Haus der Geschichte heute ein Publikumsmagnet ist und als Vorbild für zahlreiche ähnliche Einrichtungen gedient hat, ist nicht zuletzt Hildebrands Verdienst. Diese Beratungstätigkeit brachte Hildebrand stärker als je zuvor in die Öffentlichkeit. Er fungierte als Berater bei zahlreichen TV-Dokumentationen und als historischer Experte in Fernseh-Diskussionen.

Es konnte nicht ausbleiben, dass Hildebrand auch im sogenannten Historikerstreit eine Stimme hatte. Diese heute kaum noch verständliche Debatte um die Singularität der Judenvernichtung im Dritten Reich, die als geschichtspolitisches Scharmützel vornehmlich im westdeutschen Feuilleton ausgetragen wurde, war durch eine bislang unbekannte polemische Note gekennzeichnet. Hildebrand hätte sich möglicherweise gar nicht in diese wissenschaftlich unergiebige Diskussion begeben, wenn nicht sein Mentor Andreas Hillgruber im Juli 1986 in der Zeit von Jürgen Habermas frontal attackiert worden wäre. Hinter Hillgrubers robust erscheinendem Auftreten verbarg sich eine sensible Persönlichkeit, die den unerwarteten schweren persönlichen Angriff kaum verwand. Habermas gab zwar zu, dass ihm selbst die „fachliche Kompetenz“ des Historikers fehle,[19] aber das hielt ihn in seinem Vorstoß nicht davon ab, sich auch gegen die Konzeption des geplanten Geschichtsmuseums zu wenden, deren Förderern er unterstellte, Gedanken eines „in der Zeitgeschichtsschreibung aufgekommenen Revisionismus“ umsetzen zu wollen.[20]

Sekundiert wurde er dabei von Hans-Ulrich Wehler, mit dem Hildebrand seit dem Dissens über den Stellenwert der Gesellschaftsgeschichte über Kreuz lag. Habermas erläuterte seine Vorwürfe zwar nicht näher, aber Hildebrand nahm den Fehdehandschuh auf und replizierte in einer Schärfe, die man von ihm bis dahin noch nicht kannte. Er argumentierte unter Rückgriff auf die Notwendigkeit der Quellenkritik; seine Replik wirkte sicherlich auch deswegen unerschrocken und souverän, weil er – anders als seine älteren Kontrahenten Habermas und Wehler – nicht zur Generation gehörte, die noch die Hitlerjugend durchlaufen hatte. Er betonte, dass Geschichte auf Sachkenntnis beruhe und nicht Politik sei, „wo ein anderer das nachplappere oder widerlege, was ein anderer von sich gegeben habe“.[21] Gegen Geschichtspolitik bezog er sich auf Alexander Solschenizyn: „Der Stoff der Geschichte sind nicht die Ansichten, sondern die Quellen.“ In der Sache plädierte er für weitere Forschungen zum Problem der Singularität und Vergleichbarkeit des nationalsozialistischen Völkermords:

„Da es aber keine liberalen oder reaktionären Forschungsergebnisse gibt, ist nicht einzusehen, warum wir mit den Füßen im Zement irgendeines Geschichtsbildes stehen und uns Frageverbote auferlegen sollen, die es untersagen, nach Parallelen zwischen der Vernichtungsqualität des Kommunismus und des Nationalsozialismus zu fragen beziehungsweise den Vorbildern und Spuren des ‚Judenmords‘ in der Geschichte nachzugehen.“

Schon wenige Jahre später, nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen, wäre der Historikerstreit in dieser Form gar nicht mehr ausgetragen worden. Aber bemerkenswerterweise wird der Streit um die Vergleichbarkeit von Genoziden in der aktuellen Kolonialismus-Debatte – wenn auch unter einem ganz anderen Blickwinkel – weitergeführt, was einmal mehr zeigt, wie fragwürdig das Merkmal der Singularität als geschichtswissenschaftliches Kriterium ist.

Der Rauch dieses Historiker-Gefechts verflüchtigte sich ebenso rasch, wie er aufgezogen war. Hildebrands Forschungsschwerpunkte blieben auch nach dem Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs die Geschichte der europäischen Staatenwelt und der internationalen Beziehungen. Großbritannien vornehmlich des 18. und 19. Jahrhunderts stellte unverändert einen Schwerpunkt seiner Arbeit dar. Hildebrand gehört damit zu der selten gewordenen Spezies von Historikern, die, wie man heute sagt, „breit aufgestellt“ sind: Anders als viele, die sich ihr ganzes wissenschaftliches Leben nur mit einem Spezialgebiet – beispielsweise dem „Tausendjährigen Reich“ – beschäftigen, ist Hildebrand dieses Spezialistentum fremd. Die Geschichte des britischen Empire – und der Balance of Power – ermöglichte ihm den Vergleich mit der Entwicklung auf dem Kontinent. Der Blick aus dieser Perspektive führte ihn zu dem Ergebnis, die Geschichte des deutschen Kaiserreichs von 1871 nicht als „Sonderweg“, sondern als „Eigenweg“ zu bezeichnen – eine Interpretation, die sich angesichts der vielfältigen und ambivalenten Moderne des Kaiserreichs als tragfähig erweist. Dass er für die komplexe Gleichgewichtspolitik Otto von Bismarcks, deren Begrenzungen er als „System der Aushilfen“[22] in seinen Werken betont, mehr Verständnis hat als für das unstete Agieren „Wilhelms des Plötzlichen“, wird in allen seinen Werken deutlich. Der „Aufbruch der Deutschen ins Maß- und Ziellose“, der sich in charakteristischen Entscheidungslagen mit „kennzeichnender Regelmäßigkeit“ zu wiederholen scheint,[23] erfordert stets eine achtsame und verantwortliche Politik, jenseits des von Hans-Peter Schwarz einmal beschriebenen Oszillierens zwischen „Machtbesessenheit“ und „Machtvergessenheit“.[24] Außenpolitik und das Verhältnis von Gleichgewicht und Hegemonie sind ein ständiges Thema und die wichtigen Beiträge von Ludwig Dehio, Hermann Oncken, Siegfried A. Kaehler, Raymond Aron, Gerhard Ritter und Henry Kissinger, to name just a few, sind ständige geistige Begleiter, die im Œuvre Hildebrands regelmäßig ihren Auftritt haben.

Zu Hildebrands bedeutendsten Werken, die sich mit diesem Problemkomplex beschäftigen, zählt die erstmals 1995 erschienene und anfangs bereits zitierte Darstellung „Das vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler“, die wohl als das Opus magnum gelten kann. Darin warnt Hildebrand mit dem Blick auf die deutsche Geschichte davor, heute in einen neuen Wilhelminismus zu verfallen und in allem und jedem den Vorreiter spielen zu wollen. Friedensstiftend und friedenserhaltend könne Deutschland als vergleichsweise großer Staat in der Mitte Europas nur dann wirken, wenn es auf eine „Politik der Offensive“[25] verzichte. Das abschließende Kapitel über „Das Deutsche Reich oder die Versuchung des Unendlichen“ ist geradezu ein Appell, sich dieser Gefahren auch in der heutigen Staatenwelt bewusst zu sein.[26] Bedenklich stimmt ihn daher immer wieder, dass Historiker bisweilen ihren wichtigsten Gegenstand, die Macht, ihre Verführungskräfte sowie die Modernisierungsgewalt, aus den Augen verlieren.

Das bezog sich nicht nur auf das Kaiserreich, sondern auch auf das Dritte Reich, dessen Anfänge bereits von einer „gesetzmäßigen Rechtsunsicherheit“ gekennzeichnet waren.[27] Der NS-Staat erfasste mit seinen Mechanismen totalitärer Herrschaft die ganze Gesellschaft: Diese sind, so hat Hildebrand eindrücklich beschrieben,

„nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, daß sie zum Schuldigwerden kaum Alternativen übrig lassen. Denn bekanntlich öffnen sie die Grenzen zwischen gut und böse, erklären letztlich selbst das Gute für böse und das Böse für gut; sie sind, weil sie Geist und Gemüt verwirren, in einem ganz wörtlichen Sinne diabolisch. Daher wird seinem Gewissen zu folgen, ganz anders als unter rechtsstaatlichen Verhältnissen, leicht zu einer existentiellen Probe für das materielle und persönliche Überleben. Sie verlangt über Gebühr oft einen ausnehmend starken Charakter und erfordert je nachdem sogar Heldenmut. Weil man im totalitären Unrechtsstaat, diametral verschieden vom demokratischen Rechtsstaat, auch nicht annähernd abzusehen vermag, was einen bei abweichendem, oppositionellem, gar widerständigem Verhalten erwartet – unter Umständen nichts Ernstes, aber mit gleicher Ungewißheit auch das Schlimmste –, [...] werden Bürger, weil sie nun einmal Menschen sind, leicht zu Feiglingen aus Instinkt. Daher beschreibt Kollaboration eher die Regel des Verhaltens als Widerstand; treibt Angst um Status und Pension zur Anpassung; verführen die verlockenden Gelegenheiten des Regimes zum Mitmachen; gilt alles in allem das, was ist, als das Richtige, das Zeitgemäße und das Überlegene.“[28]

Durch seinen Weitblick wurde er ein gefragter Mann. In wissenschaftlichen Beiräten historischer Institute und akademischen Forschungseinrichtungen war er ausgesprochen gerne tätig, weil er hier konzeptionell arbeiten und wirken konnte. Es wäre ermüdend, eine vollzählige Aufzählung vorzunehmen, nur die wichtigsten Institutionen seien erwähnt: Otto-von-Bismarck-Stiftung, Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, die Deutschen Historischen Institute in London, Paris und Washington, die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften. Eine besondere Bedeutung hatte für ihn immer die Mitgliedschaft im Wissenschaftlichen Beirat (1983 bis 2007) und im Beiratsausschuss (1984 bis 2007) des Instituts für Zeitgeschichte, mit deren führenden Persönlichkeiten ihn ein enges Verhältnis verband und verbindet: von Karl Dietrich Bracher und Hans-Peter Schwarz bis zu Horst Möller, der als Direktor des Instituts auch ein Freund wurde. Im Fachbeirat für die Errichtung der Dokumentation Obersalzberg war sein Rat ebenfalls gefragt. In den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte publizierte er 1995 einen längeren Essay zu den Machtfaktoren im Staatensystem. Dass er in diesem Überblick die Linien von „Richelieu bis Kissinger“ zog, zeigt die Bedeutung, die Hildebrand der longue durée der europäischen und internationalen Staatenbeziehungen beimisst.[29] 2004 erschien ein ebenso wichtiger Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung 1989/90, in dem er die Bedeutung der Nation und des Nationalstaats als verbindlichen Maßstab staatlichen und internationalen Handelns hervorhob – jenseits aller Globalisierungstendenzen. Die Rahmenbedingungen des Staatensystems beschrieb er unter dem Signum von „Macht“ und Idee“: „Macht ohne Idee ist blind, Idee ohne Macht bleibt wirkungslos.“[30]

Die für manche Gelehrte seines Alters üblichen Festschriften sucht man bei Hildebrand vergeblich. Dieses Jubilars-Genre hat er nie geschätzt, manche dieser bisweilen recht disparat ausfallenden Sammlungen als reine Pflichtübungen betrachtet, sich gelegentlich über eitle Kollegen lustig gemacht und im engeren Kreis sehr ernsthaft darum gebeten, ihn mit derlei zu verschonen. Ganz gelungen ist ihm das nicht, denn anlässlich seines 70. Geburtstags erschien eine 21 Beiträge umfassende Sammlung, die, soweit möglich, alle Facetten seiner Weltbetrachtung abzudecken bemüht war. Hier findet sich auch das beeindruckende Schriftenverzeichnis, das neben den Monografien, Herausgeberschaften und kleineren Schriften weit über 100 Aufsätze, Forschungsberichte und Miszellen aufführt.[31] Zusätzlich noch die Rezensionen aufzulisten, hätte den Rahmen des Bands gesprengt.

Dank seiner Expertise in außenpolitischen Fragen war er für entsprechende Editionsprojekte prädestiniert. Fast zwei Jahrzehnte lang – zwischen 1990 und 2009 – war er Mitherausgeber der „Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland“. Als das Auswärtige Amt eine behördengeschichtliche Arbeit zu seiner Geschichte in der NS-Zeit in Auftrag gab,[32] war es fast eine Selbstverständlichkeit, ihn 2005 in die hierfür gebildete Unabhängige Historikerkommission aufzunehmen. Ein schwerer Schlaganfall im Frühjahr 2008 kam dazwischen. Die Studie, die jetzt ohne seine Mitarbeit auskommen musste, ist in mancherlei Hinsicht fehlerbehaftet und in ihrer Schwerpunktsetzung umstritten.[33] Wäre sie anders geschrieben worden, wenn er sich daran beteiligt hätte? Das muss Spekulation bleiben – und spekulieren, so lautet ein Diktum Hildebrands, darf der Historiker höchstens einmal, nicht zweimal.

Klaus Hildebrand zeichnete sich schon immer durch Gelassenheit aus; weder im persönlichen Umgang noch in den Werken gibt es ein Aus-der-Haut-Fahren. Erst nach seiner Erkrankung zog er sich aus dem wissenschaftlichen Tagesgeschäft zurück. Was blieb, war die Selbstdisziplin, die eher an einen Preußen als an einen Westfalen erinnert. Die Wissenschaft und ihre Moden, die er zur Genüge kennt, verfolgt er mit einer Art amüsierter Altersweisheit, ohne sein Interesse an der Forschung zu verlieren. Es ist also eine Art Kennerblick von der Seitenauslinie, mit der Hildebrand als bekennender Fan von Borussia Dortmund (zu den Spielen seines Vereins im Westfalenstadion, dem heutigen Signal Iduna Park, fährt er gelegentlich noch heute) die geschichtswissenschaftlichen Debatten verfolgt.

Wenn man sich alleine seine gewaltigen und ehrfurchtgebietenden Werke vor Augen hält, gerät bisweilen die dahinterstehende Persönlichkeit in den Hintergrund. Beim Jubilar ist das anders: Seine Höflichkeit, seine Selbstironie, sein feiner Humor, der die Kenntnis der britischen Mentalität erkennen lässt – diese Eigenschaften ergänzen den ernsthaften und selbstdisziplinierten Historiker Klaus Hildebrand, ja, machen ihn letztlich aus. Die bewundernswerte Tapferkeit, mit der er damit umgeht, nicht mehr selbst an den historischen Debatten teilnehmen zu können, passt genau in dieses Bild. Zu seinem 80. Geburtstag sei ihm daher mit allen guten Wünschen herzlich gratuliert!

Joachim Scholtyseck

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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