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Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität

Eine italienische Provinzstadt im europäischen Fokus 1922 bis 1927
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Veröffentlicht/Copyright: 1. Januar 2022
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Abstract

Die italienische Kleinstadt Molinella rückte nach der Machtübernahme Mussolinis im Oktober 1922 wiederholt in den Fokus der nationalen und europäischen Öffentlichkeit, da sich die dortigen Landarbeiter besonders resolut gegen den Gleichschaltungsdruck des faschistischen Regimes zur Wehr setzten. Auf diese Weise erlangte Molinella einen doppelten Symbolcharakter: aus Sicht des Regimes als roter Schandfleck, aus der Perspektive der Sozialisten als Lichtblick. Den Arbeiterfamilien sollte die geballte Aufmerksamkeit letztlich zum Verhängnis werden, führte sie doch dazu, dass die Faschisten Ende 1926 zur Deportation der verbliebenen Sozialisten übergingen. Die Sozialistische Arbeiterinternationale bemühte sich darum, diese Repressionsmaßnahmen bekannt zu machen, die, wie Manuel Mork darlegt, Aufschluss über die Natur des italienischen Faschismus geben.

Abstract

The Italian town of Molinella was repeatedly in the European and international spotlight after Mussolini’s coming into power in October 1922, as the local farm workers defied the pressure of the Fascist regime to conform to an exceptional degree. In this manner Molinella acquired a symbolic character for both sides: for the regime, it was a red stain, while from the Socialist perspective, it was a ray of hope. This high degree of attention would ultimately lead to the ruin of these working-class families, since the Fascists ultimately deported the remaining Socialists in late 1926. The Labour and Socialist International tried to publicise these repressive measures, which, as Manuel Mork sets out, provide insight into the nature of Italian Fascism.

Vorspann

Ganz Italien hatte sich 1926 den Schwarzhemden Mussolinis ergeben? Nein, nicht ganz Italien, denn die Landarbeiterschaft in der Kleinstadt Molinella bei Bologna blieb ihren sozialistischen Wurzeln treu und protestierte wiederholt gegen die Zumutungen und den sich verschärfenden Gleichschaltungsdruck des faschistischen Regimes. Gegenmaßnahmen ließen nicht auf sich warten – und sie fielen für diese Phase von Mussolinis Herrschaft radikal aus, ordneten die Behörden doch die Deportation der renitenten Arbeiterfamilien an. Dies ging allerdings nicht geräuschlos von sich, denn Friedrich Adler und der Sozialistischen Arbeiterinternationale gelang es, die Geschehnisse in Molinella ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit zu rücken und das Regime zu diskreditieren. Manuel Mork zeichnet diese Geschichte von Resistenz, Repression und Solidarität auf breiter Quellenbasis nach und knüpft an den Fall Molinella Überlegungen zum Charakter der faschistischen Diktatur.

I. Der Fall Molinella

„Das internationale Proletariat darf die Schandtaten unserer Feinde und das Heldentum eines epi­schen Widerstands nicht ignorieren. Die internationale Solidarität darf nicht ausbleiben. In un­serem Kampf gibt es keine unabhängigen, isolierten Zuschauer: ‚Einer für alle, alle für einen‘, das muss der Marschbefehl der Sozialisten sein.“[1] Mit diesem dramatischen Appell schloss der italienische Sozialistenführer Pietro Nenni eine Abhandlung, mit der er angesichts der faschistischen Gewalt im Juni 1926 die internationale Arbeiterbewegung aufrütteln wollte. In der Tat führten Nennis emphatische Worte dazu, dass der Sekretär der Sozialis­ti­schen Arbei­ter­internationale (SAI), Friedrich Adler, einige Wochen später damit begann, zur Un­terstützung der italienischen Sozialisten eine geheime Aktion in Benito Mussolinis Italien zu organisieren: Der Österreicher ersuchte zunächst eine Reihe von Spitzenfunktionären der europäischen Ar­beiter­bewegung eindringlich um Unterstützung seines Plans, da es sich um ei­ne Situation han­dele, in der „man alle Kraefte anspannen“ müsse.[2] Per Brief und Telegramm wurde wenig später der Albergo Roma in Bologna als konspirativer Treffpunkt für Sozialisten aus verschiedenen Na­tionen verabredet.[3] Allem Anschein nach sollte das marxistische Theo­rem der „prole­ta­ri­schen Solidarität“ einer praktischen Feuerprobe unterworfen werden. Aber was war im Sommer 1926 geschehen, das Nenni zu einem Appell trieb, der auf entschlossene Hand­lungsbereitschaft in den Reihen der internationalen Arbeiterbewegung traf?

Als Nennis Schreiben das Sekretariat der Internationale in Zürich erreichte, stand in Italien ein einschneidendes Ereignis kurz bevor, das die Etablierung der faschistischen Diktatur zu einem vor­läufigen Abschluss bringen sollte: Nach einem Attentat auf Ministerpräsident Mussolini im Zent­rum Bolognas am 31. Oktober 1926 beseitigte das Re­gime die Handlungsmöglichkeiten le­galer Opposition endgültig und setzte einen Meilenstein auf dem Weg zum Stato totalitario.[4] Nen­nis ener­gische Intervention bei der SAI hatte jedoch weniger mit diesen Ereignissen auf der gro­ßen politischen Bühne als mit Geschehnissen zu tun, die wenige Wochen zuvor in Molinella ihren Lauf genommen hatten. Die italienischen So­zia­lis­ten berichteten ihren Genossen in Zü­rich, die faschistischen Behörden seien dabei, aus der unscheinbaren Kleinstadt bei Bologna rund 250 Arbeiterfamilien zu deportieren, de­ren Wi­der­stand gegen den Faschismus auch vier Jahre nach dem „Marsch auf Rom“ un­gebrochen sei.[5] Damit zog das Städtchen, das wohl kaum mehr als 15.000 Einwohner zählte, internationale Aufmerksamkeit auf sich.

Im Folgenden geht es vor allem darum, den Fall Molinella zu rekonstruieren sowie seinen Kon­text und seine Konsequenzen zu erörtern.[6] Dabei stellt sich zunächst die Frage, was hinter dem von Nenni beschworenen „epischen“ Widerstand der Landarbeiter steckte: Welche Vor­ge­­schich­te hatten die Deportationen und wie kam es dazu, dass die faschistischen Behörden ge­rade in die­sem scheinbar bedeutungslosen Städtchen ein Exempel statuierten? Es gilt dabei zu­nächst, die Besonderheiten der lokalen Opposition herauszuarbeiten, die von einem be­mer­kens­wer­ten, viel­leicht sogar einzigartigen Durchhaltvermögen geprägt war, bevor der Ab­lauf der De­­­portationen geschildert wird. Waren die faschistischen Amtsträger tatsächlich bereit, hun­der­te Familien zu deportieren? Und wenn ja, wer war dafür verantwortlich und welche Ab­sich­ten verfolgten die faschistischen Akteure? In einem dritten Schritt soll die von Adler geplante In­­­­tervention untersucht werden, um an einem prägnanten Beispiel die Tätigkeit der SAI, die trans­­nationale Vernetzung der Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit und den zeit­ge­nös­si­­schen Umgang mit dem italienischen Faschismus zu skizzieren.[7] Inwieweit gelang es einer zwi­­schenstaatlichen Organisation wie der SAI in den 1920er Jahren tatsächlich, auf nationale Ge­­­schehnisse einzuwirken? Abschließend ist unter Einbeziehung der neuesten Forschung da­nach zu fragen, was der Fall Molinella über die Beschaffenheit des faschistischen Regimes aus­­zusagen vermag.

Die Zwangsumsiedlungen von Arbeiterfamilien in Molinella sind in der Forschungsliteratur zwar häu­fig erwähnt, jedoch nie ausführlich und quellengestützt beschrieben worden. Die um­fas­­­send­sten Darstellungen finden sich in lokalgeschichtlichen Studien, denen jedoch häu­fig Quel­­len­­nachweise fehlen.[8] Auch größer angelegte Untersuchungen zum italienischen Fa­schis­mus er­wähnen die Deportationen,[9] gehen aber über Nennis Informationen an die SAI kaum hin­aus.[10] Ei­ne gewisse Uneinigkeit herrscht bezüglich der Frage, ob die Zwangsumsiedlungen in der Ge­­schichte des italienischen Faschismus einzigartig waren: Während Michael Ebner den Ver­­gleich zwischen Molinella und den Arbeiterbezirken Oltretorrente in Parma und San Lo­renzo in Rom zog, sprach Marco Poli von einer beispiellosen „politischen Massen­säu­be­rung“.[11] Das Engagement des SAI und ihres Sekretärs Friedrich Adler ist der Forschung bisher gänz­lich ver­borgen geblieben. Dafür wurden Historikerinnen und Historiker nicht müde zu betonen, dass die Geschichte Molinellas ein „einmaliges Beispiel [des Widerstands] nicht nur in der Provinz, sondern in ganz Italien“ darstelle.[12] Auch Adrian Lyttelton sprach von der „heroischen Be­harr­lich­keit“ der Arbeiter Molinellas.[13] Wie aber war es dazu gekommen?

II. Arbeiterhochburg in der Po-Ebene

Im Spätsommer 1922 befanden sich weite Teile Italiens in einem regelrechten Kriegszustand: Die faschistische Gewaltkampagne, die darauf abzielte, die Strukturen der italienischen Ar­beiter­bewegung zu zerschlagen, hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Fasci di combattimento, schwarz gekleidete, paramilitärische Kampfbünde, tyrannisierten die Repräsentanten der po­li­ti­schen Linken, verwüsteten Redaktionsbüros und Gewerkschaftshäuser und schreckten auch vor Mord nicht zurück. Auf dem Weg Mussolinis an die Macht trugen die Faschisten zwischen 1919 und 1922 den politischen Kampf von Ortschaft zu Ortschaft.[14] Molinella, das den Schwarz­hemden als besonders hartnäckige Hochburg des Reformsozialismus galt, wurde im Sep­­tember 1922 im wahrsten Sinne des Wortes belagert. Eine Invasion blieb zunächst nur des­halb aus, weil die Staatsmacht den Einmarsch auswärtiger Milizionäre verhinderte.[15] Bald da­rauf gingen die Faschisten allerdings zu einer Generaloffensive über und stürmten alle Ein­rich­tun­gen, die bis dato unter roter Flagge gestanden hatten.[16] Doch in Molinella bewirkte die Zer­schla­gung der gewachsenen kommunalen Strukturen nicht das Ende der Opposition gegen den Fa­schismus; die Kleinstadt blieb als rote Insel auf der politischen Landkarte Italiens bis zur Mit­te der 1920er Jahre sichtbar.

Molinella, etwa 35 Kilometer nordöstlich von Bologna in der Po-Ebene gelegen, lebte von der Landwirtschaft. Viele Einwohner verdingten sich als Tagelöhner, arbeiteten während der Saison auf den aus­ge­dehn­ten Reis- und Getreidefeldern[17] – und waren zumeist bitterarm. Es gras­­sierten Malaria und andere Krankheiten, die Lebenserwartung war niedrig, die Analpha­be­tenrate dagegen hoch, Hunger gehörte zum Alltag.[18] Unter diesen Bedingungen entstanden unter den Arbeitern bereits sehr früh Organisationen der Selbsthilfe, die ab den 1890er Jahren vom unangefochtenen Arbeiterführer Molinellas, dem Sozialisten Giuseppe Massarenti, in straff gegliederte Gewerkschaften umgewandelt wurden.[19] Derartig organisiert gelang es den Ar­beitern, das Städtchen zu einer Art nationalem Vorreiter auf dem Gebiet sozialpolitischer Er­­rungenschaften zu machen.

Spektakuläre Protestaktionen machten die Kleinstadt immer wieder landesweit bekannt. Kern der Auseinandersetzung war fast immer die Frage nach der Vermittlung von Arbeitskräften: Be­sonders früh verfügte die sozialistische Gewerkschaft in Molinella über ein eigenes Arbeits­amt – für die Arbeiter jahrzehntelang das zentrale Instrument, um den Gutsbesitzern die Ent­schei­dungsgewalt über Einstellung und Entlassung zu entreißen und einheitliche Arbeits­be­din­gun­gen herzustellen.[20] Als es 1897 in ganz Italien zu Arbeiterprotesten kam, waren es die So­zia­listen in Molinella – und hier insbesondere die Lohnarbeiterinnen –, die die größten Zu­ge­ständ­­nisse erkämpften.[21] Beinahe jedes Jahr forderten die Sozialisten in Molinella erfolgreich zu Streiks auf und riefen so immer wieder das Militär auf den Plan. Ein Echo in der über­regio­na­len Presse blieb nicht aus.[22] Sogar Premierminister Giovanni Giolitti sah sich mehrfach ge­zwun­gen, direkt einzugreifen, um die Eskalation des Klassenkampfs in Molinella zu ver­hin­dern.[23] Als es im Herbst 1914 zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Gewerk­schafts­mit­glie­dern aus Molinella und auswärtigen Arbeitern kam, marschierte das Militär mit 3.000 Sol­da­ten in die Stadt ein. Die lokalen Arbeiterführer mussten entweder fliehen oder wurden ver­bannt.[24]

Obwohl Massarenti offiziell dem gemäßigten Sozialismus Filippo Turatis verpflichtet war, kämp­ften die sozialistischen Bünde Molinellas mit harten Bandagen.[25] Die Ge­werk­schafts­füh­rer und ihre Anhänger schreckten vor öffentlicher Ächtung einzelner Gutsbesitzer und der Ver­nich­­tung ihrer Ernte genauso wenig zurück wie vor handgreiflichen Auseinandersetzungen mit An­­dersdenkenden.[26] Der Erfolg der Landarbeiter um ihren Anführer Massarenti war un­über­seh­bar, und so gewann ihre politische Strategie bald Modellcharakter für weite Teile der Ar­bei­ter­bewegung in der Region.[27] Vor allem war es den Sozialisten Molinellas gelungen, die di­vergierenden Interessen der Kleinpächter und Tagelöhner auf einen Nenner zu bringen und so eine geschlossene Front der Feldarbeiter zu bilden. Dieser spektakuläre Erfolg ließ sich in an­deren Teilen der Po-Ebene erst Jahre später wiederholen.[28] Im Sommer 1919 erzielte die Ar­bei­ter­schaft von Molinella dann ihren vielleicht größten Triumph: Nach einem großangelegten Streik gaben die Großagrarier den seit Jahrzehnten erhobenen Forderungen der Sozialisten nach ei­nem Acht­stundentag und individuellen Arbeitsverträgen vollumfänglich nach.[29] Bei der an­schlie­­ßen­den Parlamentswahl im November 1919 kam der Partito Socialista Italiano (PSI) in Molinella auf kolossale 94 Prozent der Stimmen, während sich die Partei in der Provinz Bo­log­na mit „nur“ 68 Prozent zufriedengeben musste.[30] Wenn Bologna die sozialistische Hochburg Ita­liens war, dann konnte Molinella als ihr Bergfried gelten.

Als Erklärung für die Sonderstellung Molinellas dient immer wieder die Rolle Giuseppe Mas­sa­rentis. Dieser baute ein System von Kooperativen auf, das ausgedehnte Ländereien umfasste, in verschiedenen produzierenden Gewerben tätig war und dessen Vermögen erfolgreich zur Un­­ter­stützung des Gewerkschaftskampfs eingesetzt wurde.[31] Da Massarenti zudem ab 1906 Bür­­germeister war, verschmolzen „Kooperative, Gewerkschaft und Kommune im Dienste der Ar­­beiter zu einer Sache“.[32] Ein führender Sozialist aus Ravenna beschrieb Massarenti als „Apos­­tel und Visionär“. In der Region „wagte es niemand, sich ihm zu widersetzen. [...] Dis­zi­plin und Eintracht; dies zusammen ermöglichte das ‚Wunder‘ des Widerstands in diesem Zen­trum.“[33] Während die italienische Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg an­dern­orts erbitterte Grabenkämpfe ausfocht, blieben die Arbeiter von Molinella beinahe geschlossen dem Reformsozialismus Massarentis treu.[34] Als die Faschisten ihre Gewaltkampagne lostraten, stießen sie in Molinella somit auf eine geschlossene Abwehrfront.

Die zunehmende Radikalität der italienischen Arbeiterbewegung hatte die Großgrundbesitzer Nord­­italiens seit 1920 verstärkt dazu bewogen, Mussolinis Kampfbünde materiell zu un­ter­stüt­zen und so entscheidend zu ihrer Machtübernahme auf lokaler Ebene beigetragen.[35] Die­ser Ko­ali­tion aus alten Eliten und faschistischen Milizen fiel auch die Provinz Bologna er­staun­lich schnell zum Opfer.[36] Molinella und Massarenti wurden damit zwangsläufig zur bevorzugten Ziel­scheibe für Angriffe aller Art.[37] Trotzdem scheiterten die Faschisten gerade hier an ihrem Vor­haben, die sozialistische Opposition dauerhaft auszuschalten.[38]

III. Eine letzte Bastion gegen den Faschismus: Arbeiterprotest in Molinella

Spätestens mit der Ernennung Mussolinis zum Regierungschef im Oktober 1922 begann für die so­zia­listischen Landarbeiter Molinellas ein regelrechtes Martyrium. Arbeiter und ihre po­li­ti­schen Repräsentanten wurden systematisch überfallen, entführt und vereinzelt sogar ermordet. Be­zeichnenderweise enthalten zwei der frühesten und bedeutendsten Dokumentationen zur fa­schistischen Gewalt jeweils ein separates Kapitel, das explizit den brutalen Übergriffen auf die Arbeiter von Molinella gewidmet ist.[39] Dabei waren die Schwarzhemden um ihren berüchtigten An­führer Augusto Regazzi primär darum bemüht, die irriducibili, also die „Unbeugsamen“, zum Übertritt in das faschis­ti­sche Syndikat zu zwingen.[40] Obwohl die Wahl der Gewerkschaft den Arbeitern formell wei­ter­hin frei stand, wurde die Mitgliedschaft in den sozialistischen Bün­den bald zu einem Akt der „Re­sis­tenz“.[41] Die Kooperative sah sich wiederholten Angriffen durch die Kampfbünde ausgesetzt und wurde dabei mehrfach völlig verwüstet.[42] Viele Gewerk­schafts­führer mussten Molinella aus Angst um ihr Leben verlassen.[43] Schließlich wurde von­seiten des Präfekten in Bologna ein Regierungskommissar eingesetzt, der das millionenschwere Ver­mögen der Kooperative be­schlag­­nahmte, Ländereien und Gerätschaften zu Geld machte und die dazugehörigen Kin­der­gär­­ten ebenso schloss wie die Arbeiterbibliothek.[44] Damit war kaum etwas von dem geblieben, was sich die Arbeiterschaft in Jahrzehnten erkämpft hatte.[45]

Dennoch blieb ein harter Kern der Landarbeiter Molinellas dem Sozialismus treu.[46] So be­richtete die britische Journalistin Lina Waterfield, die den Ort 1923 besuchte, Arbeiterinnen hät­ten ihr mit Blick auf Massarenti mit­ge­teilt: „Wenn Ihr ihn seht, sagt ihm von unserer Seite: Sagt ihm, dass ihn das Proletariat nie­mals, niemals im Stich lassen wird; sagt ihm, dass wir eher das Gras der Straße essen werden, als dem faschistischen Syndikat beizutreten.“[47] Dass es sich da­bei nicht um bloßes Pathos han­delte, zeigen die Akten der staatlichen Behörden, die – unter fa­schistischer Kontrolle – Ar­beits­lo­sigkeit als wirksame Waffe einsetzten.[48] Sobald die Mo­no­pol­­stellung der sozialistischen Bün­de gebrochen war, wurden die Gutsbesitzer von den Fa­schis­ten stetig dazu angehalten, unter kei­nen Umständen mehr sozialistische Arbeiter einzustellen. Sys­te­matisch wurden zudem aus­wär­tige Landarbeiter der sogenannten schwarzen Syndikate in die roten Hochburgen ein­ge­schleust.[49] Den renitenten Arbeitern, die ohnehin wenig besaßen, droh­ten nun Hunger und Elend. Besonders den Sozialistinnen blieb nichts anderes, als sich ein be­­scheidenes Aus­kom­men über die Nachlese auf den abgeernteten Feldern zu sichern. Doch die Faschisten werteten auch die spigolatura als Akt des Widerstands, so dass die Milizionäre da­zu übergingen, in den Korn­feldern zu patrouillieren und Frauen festzunehmen, die liegen ge­­bliebene Äh­ren sammelten.[50] Die Schwarz­hemden, so der zuständige Kommandant der Carabinieri, waren darauf aus, den „Geg­nern [...] eine Ressource zu nehmen, die den Widerstand verlängern könnte“.[51]

Die Frauen Molinellas, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg als „heldenhafte“ Figuren des Kla­ssenkampfs gegolten hatten, wurden in Abwesenheit vieler Männer – aufgrund von Exil, Verbannung oder Haft – zu einer tragenden Säule des Protests.[52] Noch im August 1925 be­richtete der Prä­fekt von Bologna, Arturo Bocchini, von einer „Demonstration klar politischen Cha­rakters“, zu der sich „viele, bekanntermaßen subversive Frauen“ eingefunden hätten.[53] Als die sozialis­ti­sche Gewerkschaft Confederazione Generale di Lavoro (CGdL) im September 1926 zu einer Spen­­denaktion für die Arbeiter von Molinella aufrief, geschah dies mit deutlichen Wor­ten: Die „verbliebenen confederali“ repräsentierten „den Arbeiterprotest; die Frauen, die Kin­der, die Al­­ten, die Familien“ der Gesinnungsgenossen hätten „die tägliche Erniedrigung durch die Pei­ni­­ger“ zu erdulden. „Das alte Dilemma, sich beugen oder keine Arbeit haben“, steige­re sich „bis hin zur Abscheulichkeit“.[54]

Das Exempel der rund tausend Arbeiterinnen und Arbeiter, die auch 1926 noch nicht klein bei­­­gegeben hatten,[55] veranlasste Sympathisanten zu überschwänglichen Formulierungen: Das pro­­­le­tarische Molinella repräsentiere „den besten Teil der Geschichte“ der italienischen Ge­werk­schaften, hieß es am Ende des Spendenaufrufs der CGdL.[56] Offenkundig hatte die Klein­stadt für die Reste der sozialistischen Opposition Symbolcharakter erlangt, und das ent­ging auch den faschistischen Amtsträgern nicht. Bereits im Dezember 1922 war die Führung des Partito Nazionale Fascista (PNF) gewarnt worden, Molinella sei eine „konstante Gefahr“ für die „politische und gewerkschaftliche Bewegung“ im Zeichen Mussolinis.[57]

Die Arbeiter von Molinella wurden so zum nationalen Politikum,[58] zumal sie immer wieder viel­beachtete öffentliche Protestaktionen organisierten. Wie diverse italienische Zeitungen im Früh­jahr 1923 berichteten, waren Mussolini in Rom 3.600 Unterschriften von Arbeitern aus Mo­linella überreicht worden, welche die Rückgabe der Kooperative forderten.[59] In der Folge kam es zu weiteren derartigen Aktionen: Am 4. Dezember 1923 veröffentlichte die sozialis­ti­sche Parteizeitung La Giustizia auf zwei Seiten eine Liste mit 2.384 Namen von Arbeitern Mo­li­nellas, gesammelt zu Ehren des reformsozialistischen Parteiführers Filippo Turati.[60] Kaum ein Jahr später wurde be­richtet, dass sich in den Sümpfen um Molinella mehrere Hundert Land­arbeiter versammelt hätten, um eine schriftliche Forderung nach politischer Freiheit zu ver­fassen.[61] Wer sich an solchen Aktionen beteiligte, musste mit Konsequenzen für Leib und Leben rechnen, zumal die Faschisten ihre politischen Gegner meist persönlich kannten.[62]

Da die italienischen Sozialisten mit Blick auf Molinella keinen Superlativ scheuten, erlangte das Städtchen auch über die Landesgrenzen hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad. Auf dem zweiten Kongress der SAI in Marseille erklärte der ehemalige britische Innenminister Arthur Hen­derson unter „stürmischem Beifall“, es gebe in Italien „Tausende namenloser Arbeiter – wie die Helden und Heldinnen von Molinella – die unerhörte Verfolgungen und Gewalttaten er­­dulden und dennoch der Sache der Freiheit treu bleiben“.[63] Wenige Monate später sprach der Se­kretär der SAI, Friedrich Adler, in Linz von einer „tiefen Sympathie“, welche „die tapferen Land­­arbeiter von Molinella in der gesamten italienischen Arbeiterschaft gefunden“ hätten.[64] Un­gewollt löste Adler damit Protest vonseiten des Partito Socialista Italiano aus, der nicht Teil der Sozialis­ti­schen Ar­beiterinternationale war: Die „gefolterten Heroen von Molinella“, die allein ausreichten, um al­le Schwächen der internationalen Arbeiterbewegung „wiedergut­zu­machen“, hätten ihre „Hart­näckigkeit an der Quelle des italienischen Sozialismus geschöpft“, nämlich beim PSI. Adler, so die italienisch-russische Sozialistin Angelica Balabanoff, habe kein Recht, sich auf die Arbeiter des Ortes zu beziehen.[65] Dabei ignorierte sie freilich die Tat­sache, dass sich die Sozialisten in Molinella – wie auch die SAI – dem Reformsozialismus zu­­­gehörig fühlten.

Die Protestaktionen und ihre weitreichende Resonanz riefen die Behörden des faschistischen Regimes auf den Plan. Sie verboten die gewerkschaftlichen Organisationen, welche die Ar­beiter Molinellas stets aufs Neue gründeten; mit dem letzten einer Reihe von Dekreten löste der Präfekt im Juni 1926 das erst kurz zuvor entstandene „Freie Syndikat der Arbeiter von Mo­li­nella“ auf. Interessanterweise begründete er sein Vorgehen mit der aufrührerischen Wir­kung, die die Existenz einer derartigen Organisation auf die lokalen Faschisten habe. „Eine ern­ste Ge­­fahr für die öffentliche Ordnung“ bestehe, denn das Fortleben eines sozialistischen Syndikats kön­­­ne die Schwarzemden zu ungehemmten Gewalttaten animieren.[66] Einigermaßen unv­er­blümt brachte der Präfekt hier zum Ausdruck, dass sich Repressionsmaßnahmen oft aus dem Wech­­selspiel zwischen dem PNF und dem Behördenapparat ergaben. Die Zusammenarbeit zwis­chen Carabinieri und Squadristi konnte zum Beispiel bedeuten, dass auf willkürliche Über­griffe der Schwarzhemden eine offizielle Untersuchung durch die Sicherheitsorgane folgte – zum Nachteil der Geschädigten, wie sich gemäß der Logik des Regimes versteht.[67]

Protagonist der Gewaltkampagne war Augusto Regazzi, der 1919 die faschistische Partei in Mo­­linella gegründet hatte.[68] In einem Schreiben an Mussolini schilderte Regazzi später, dass er sich anfangs „an der Spitze von neun Kameraden gegen eine Kolonne von Tausenden Geg­nern“ geworfen habe, um „seine Leidenschaft, seinen Traum“ vom Triumph des Faschismus zu verwirklichen.[69] Dieser Selbstdarstellung zum Trotz lässt die Aktenlage keinen Zweifel da­ran, dass es in Molinella nicht anders zuging als in anderen Teilen Italiens; es waren die Fa­schisten, die systematisch auf Gewalt und Terror setzten.[70] Im Sommer 1923 kam bei einer der so­genannten Strafexpeditionen, die Regazzis Männer gegen die Landarbeiter unternahmen, ein junger Tagelöhner ums Leben. Die Präfektur in Bologna setzte sich jedoch mit Erfolg dafür ein, eine effektive Aufklärung des Falls zu verhindern, war sie doch davon überzeugt, dass der Lo­­kaldespot für die politische Kontrolle über Molinella unverzichtbar sei: „Unter diesen Be­din­­gungen“, hieß es in einem Bericht an den Innenminister vom Juni 1924, „würde die Voll­streckung des Haftbefehls gegen Regazzi, der aktuell als einzige Person dazu fähig ist, die un­­er­­lässliche Disziplin in den fasci und den Syndikaten zu erhalten [...], auf unabänderliche Wei­se das Leben dieser Organisationen kompromittieren“.[71] Letztlich ordnete das Innenmini­ste­­­­rium in Rom an, keine „exzessiven Sanktionen“ gegen Regazzi zu erlassen,[72] so dass der „Fa­schis­ten­­häuptling“ von Molinella bis 1928 an der Macht blieb.[73]

Ungeachtet aller Repression war der Widerstand in Molinella noch immer lebendig. Als die Prä­fektur Bolognas im September 1926 einen Bericht über die Sicherheitslage in der Provinz nach Rom schickte, hieß es dort, die Reformsozialisten verfügten „über beachtliche Kräfte, mehr als tausend männliche und weibliche Personen in der Kommune Molinella“. Außer in Mo­­­linella, wo der Widerstand weiterhin „hartnäckig“ sei, könne die Partei im ehemaligen Kern­land des italienischen Sozialismus keinerlei Tätigkeit mehr verzeichnen.[74] Allerdings gelang es von Molinella aus, antifaschistische Propaganda in umliegende Städte und Gemeinden zu tra­gen.[75] Kein Wunder, dass man sich aufseiten des Regimes dazu entschloss, diese auch über­re­­gional bekannte Bastion des Widerstands endgültig zu schleifen. Das Instrument, das dabei zum Einsatz kam, hatte wegen seiner Radikalität in diesen Jahren Seltenheitswert: die De­por­ta­tion ganzer Familien.

IV. Die Deportation der Arbeiterfamilien

Der Plan, die Arbeiterfamilien Molinellas mit Gewalt umzusiedeln, ging von Augusto Regazzi aus.[76] Am 6. Mai 1926 lud der Parteisekretär die Großagrarier der Region zum Gespräch und for­derte sie auf, allen Wohnungsmietern zu kündigen, die weiterhin der linken Gewerkschaft an­gehörten. Solche Kün­digungen waren ein altbewährtes Kampfmittel der Großgrundbesitzer, des­sen Einsatz nach der Machtübernahme Mussolinis noch einmal verstärkt worden war.[77] Doch der Plan, den die Faschisten im Jahre 1926 schmiedeten, besaß eine neue Qualität. In sei­ner Rede gab Regazzi unmissverständlich zu verstehen, dass die Arbeiter nicht nur ihre Woh­nun­gen, sondern auch Molinella verlassen sollten:

„Da es nötig ist, sich darum zu kümmern, längerfristig faschistische Arbeiter aus anderen Ortschaften nach Mo­li­nel­­la zu bringen, muss man zudem, um für diese Platz zu schaffen, den nicht-faschistischen Mietern kündigen und die­­­se zur Abwanderung zwingen. Wegen der Zwangsräumungen seid nicht besorgt [...], im passenden Moment wer­de ich für geeignete Lastwagen sorgen.“[78]

Im August 1926 ging bei der Provinzverwaltung in Bologna ein Bericht des zuständigen Kom­man­­danten der Carabinieri ein, in dem weitere Einzelheiten referiert wurden. Wie der Off­izier be­­richtete, habe der fascio „eine Maßnahme von großer Tragweite ersonnen [...]: die mas­sen­hafte Zwangsausweisung der Subversiven aus ihren Wohnungen“. Die Großgrundbesitzer hät­ten sich allerdings gegen diese Maßnahme ausgesprochen, da „es ihnen im Grund ge­nom­men leidtut, diese guten Arbeitskräfte zu verlieren“.[79] Trotzdem erhob der Kommandant gegen die geplanten Maßnahmen keine grundsätzlichen Einwände; er empfahl den Beamten der Präfektur viel­mehr, die Umsiedlungen nicht Regazzis Schwarzhemden zu überlassen, sondern die staatlichen Behörden damit zu betrauen. Es sei „not­wendig, dass die Betroffenen sofort das deut­liche und klare Gefühl ha­­ben, dass die Räu­mun­gen auf legale Weise, rigide und ohne Aus­nah­men ausgeführt werden“. Der Bericht schloss mit der Bemerkung, „dass die massenhaften Räu­mungen nur das Ziel ha­ben, den letzten subversiven und offenen Widerstand dazu zu zwin­gen, [...] nachzugeben oder zu verschwinden“.[80] Mit dieser Einschätzung zeigten sich die Ver­ant­wortlichen in Bo­logna und Rom offenbar einverstanden: Auf Anfrage des Präfekten von Bo­logna entsandte das römische In­nenministerium im September 1926 120 Carabinieri und Si­cherheitsbeamte aus ver­schie­denen Provinzen nach Molinella, um die Arbeiterfamilien Hand in Hand mit den Faschisten um Au­­gusto Regazzi aus ihren Häusern zu vertreiben und nach Bo­logna zu transportieren.[81]

„Wir befinden uns hier im vollen Kriegszustand. Wachen in Zivil und Carabinieri drehen Runden und durch­su­chen Haus für Haus und nehmen so viele Männer fest, wie sich nur finden lassen, ohne dabei auf ihren Zustand oder ihr Alter Rücksicht zu nehmen. [...] Zehn Familien werden morgen früh zwangsausgewiesen, mit ihren Habse­lig­­keiten auf Lastwagen der Artillerie geladen und dann nach Bologna [...] gebracht.“

Mit diesen Worten berichtete ein anonymer Vertrauensmann den „lieben Genossen“ der CGdL am 30. September 1926, wie es in Molinella zuging.[82] Dem Beobachter – die Polizei vermutete, es handelte sich um einen ortskundigen Sozialisten – gelang es vier Tage lang, die Zwangs­räu­mun­­gen anschaulich zu schildern. Die Gewerkschaft in Mailand verbreitete dann die Nach­rich­ten aus Molinella in ganz Italien.[83] So schrieb der Gewährsmann, der Polizeichef habe den be­trof­fenen Familien mitgeteilt, worum es den Behörden im Kern gehe. Er zitierte ihn mit den Wor­ten: „Hier in Molinella könnt ihr nicht bleiben, wenn ihr euch nicht in die faschistischen Syn­dikate einschreibt.“ Damit blieb nur die Wahl zwischen öffentlicher Kapitulation oder De­por­tation.[84] Am Tag darauf begannen die Carabinieri zusammen mit einer „Truppe von fa­schis­tischen Rüpeln“ mit den Zwangsräumungen und transportierten die Familien auf Mi­li­tär­last­wagen nach Bologna. Wenn man dem anonymen Vertrauensmann Glauben schenken darf, führ­te das Kommando Augusto Regazzi und nicht ein Vertreter der Präfektur. In seinem Bericht schrieb er weiter, dass man die Familien nach ihrer Ankunft in Bologna bis auf Weiteres in ei­ner eigens für diesen Zweck bereitgestellten Kaserne festhielt. Vor allem der Wi­der­­stand der Frau­­en sei „wirklich bewundernswert“, die wie Alte und Kinder besonders von den Zwangs­maß­nahmen betroffen seien, da die meisten Männer Molinella rechtzeitig verlassen hät­ten und nun in den umliegenden Sümpfen ausharrten. Um Flucht und Rückkehr zu verhindern, hätten Si­cher­heitskräfte die Ortschaft hermetisch abgeriegelt.[85]

Aus dem Schriftgut der Behörden ergibt sich ein ganz ähnliches Bild. Der Präfekt von Bo­logna, Raffaele De Vita, hielt das Innenministerium in Rom telegrafisch über die Lage in Mo­linella auf dem Laufenden. Am 25. September hatte er mitgeteilt, Regazzis Männer hätten da­­mit ge­droht, eigenmächtig loszuschlagen, sollten sich die Behörden nicht zum Handeln ent­schließen.[86] Wie so oft diente der Druck lokaler faschistischer Kräfte als Legitimation für Re­pres­­sionsmaßnahmen staatlicher Instanzen. Zwei Tage später telegrafierte De Vita, er habe an­ge­ordnet, die Kaserne SantʼIsaia in Bologna als Übergangsbehausung für die Familien frei­zu­machen. Für den Transport, die Unterbringung und die Verpflegung der Betroffenen in den ersten Tagen nach der Ankunft in Bologna erbat der Präfekt eine Summe von 150.000 Lire.[87] Zuvor hatte De Vita beim Innenministerium in Rom bereits Verstärkung angefordert, um die „öf­fentliche Ordnung“ während der Zwangsräumungen aufrechterhalten zu können.[88] Damit war das Innenministerium direkt in die Maßnahmen eingebunden.[89]

Präfektur und Innenministerium strebten einen geordneten Ablauf der Aktion an. Dadurch ver­suchten die Behörden wohl in erster Linie, einer kritischen Berichterstattung möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten.[90] Am 1. Oktober meldete der Präfekt, die ersten Zwangs­räumungen seien „ohne jeglichen Vorfall“ abgelaufen, wobei bisher hauptsächlich Frauen „ein­ge­wiesen“ worden seien. Zwei Tage später ging in Rom eine Beschwerde über die Bericht­er­stat­tung des fa­schistischen Zentralorgans Il Popolo d’Italia ein, habe die Zeitung doch den Ein­druck er­weckt, als leiste die Provinzverwaltung den Befehlen Augusto Regazzis Folge.[91] In der Tat hat­te Il Popolo d’Italia Regazzis Rolle bei den Zwangsräumungen erwähnt und über­dies erklärt, man könne mit einer Gruppe von „bösartigen und perfiden Gegnern“, ja faulen Ar­beits­­ver­wei­ge­rern „höflicher“ nicht umgehen.[92]

Inzwischen konnte man im Bericht des anonymen Vertrauensmanns vom 2. Oktober lesen, dass in Bo­logna Ausgaben der Zeitungen L’Unità und La Voce Repubblicana wegen ihrer Artikel zu Molinella beschlagnahmt worden seien.[93] Mussolinis Polizeichef in Rom, Arturo Bocchini, bis 1925 als Präfekt in Bologna federführend bei Repressionsmaßnahmen in Molinella, versandte bin­nen weniger Tage drei Telegramme, in denen er anordnete, jegliche Be­richter­stattung über die Geschehnisse in Molinella strikt zu unterbinden.[94] Am 4. Oktober meldete die Präfektur, dass „bisher kein Korrespondent der ausländischen Zeitungen wie auch der italienischen Zei­tun­­gen Molinella erreicht“ habe. Durch die Überwachung des Briefverkehrs wolle man die Über­­mittlung „falscher und tendenziöser Nachrichten“ verhindern.[95] Der Wunsch der Be­hör­den nach Geheimhaltung sollte jedoch unerfüllt bleiben.

Die Deportationen waren bereits im vollen Gange, als zwischen den Beamten in Bologna und Rom und Parteisekretär Regazzi ein grundlegender Interessengegensatz aufbrach: Präfekt De Vita meldete dem Innenministerium, Regazzi habe es einigen Familien untersagt, zum fa­schis­ti­­schen Syndikat überzutreten und so ihren Verbleib in Molinella verhindert. Der Parteichef der Pro­vinz, Leandro Arpinati, ordnete daraufhin an, dass eine derartige „Selektion eine ab­so­lute Aus­nahme“ bleiben müsse.[96] Regazzi war hingegen keinesfalls bereit, ein „Umdenken“ der Ar­beiter in letzter Sekunde zu akzeptieren, und lehnte es auch nach Arpinatis Intervention ab, be­stimmte Familien in die faschistischen Gewerkschaften aufzunehmen.[97] Die un­nach­gie­bige Haltung des Squadristenführers, in der wahrscheinlich auch persönliche Rachegefühle nach lan­gen Jahren des politischen Konflikts zum Ausdruck kamen, kollidierte hier mit den In­ter­essen der überregionalen Verwaltung, die einen möglichst konflikt- und problemfreien Ablauf der Maßnahmen wünschte – und mit denen der vorgesetzten Parteidienststellen, denen auch an propagandistischen Erfolgen gelegen war.

Den Arbeiterfamilien von Molinella nutzten diese Unstimmigkeiten im faschistischen Macht­ap­­parat wenig. Am 7. Oktober zog die Präfektur Zwischenbilanz: Eine „erste Liste“ sei bereits ab­­­gearbeitet. Insgesamt habe man bisher 74 Personen in die Bologneser Kaserne transportiert, ei­nige wenige hätten sich zum faschistischen Syndikat bekannt und seien in Molinella ge­blie­ben.[98] Fortgesetzt werde die Suche nach den männlichen „Familienoberhäuptern“, die „bis­her un­­auffindbar“ seien.[99] In der Tat wurden im Oktober und November dut­zende Arbeiterführer und einfache Landarbeiter aus Molinella festgenommen, wobei viele Aktivisten – unter ihnen Giuseppe Massarenti – zu Verbannungstrafen in Süditalien verurteilt wurden.[100] Seit November 1926 waren hierfür Provinzkommissionen aus Beamten und Parteifunktionären zuständig, die Bür­­ger auf bloßen Verdacht hin und ohne Gerichtsverfahren für Jahre in den confino, also in die Verbannung, schicken konn­ten.[101]

Anders verhielt es sich mit den deportierten Arbeiterfamilien. Die Verwaltung beabsichtige of­­fen­sicht­lich, die ausgewiesenen Familien so bald wie möglich fest einzuquartieren, was sich im Oktober al­­lerdings noch schwierig gestaltete: „Alle in Bologna eingelieferten Familien wei­gern sich, an­­derswo Arbeit anzunehmen oder Angaben über den Aufenthalt ihrer entfernten Ver­wandten zu machen.“[102] Der passive Widerstand setzte sich also auch jetzt noch fort, und der Präfekt meldete, er gehe von einem „eventuellen Versuch der Rückkehr nach Molinella“ aus, sofern sich keine end­gül­tige Unterbringung für die Familien finden lasse. Gut zwei Wo­chen nach Beginn der Aktion wur­­den die ersten Familien aus der Kaserne in Bologna entlassen, nach­dem sie eine „formelle War­­nung“ hinsichtlich der Rückkehr in ihren Heimatort erhalten hat­ten. Einige hatten sich in die weit entfernten Orte Ascoli Piceno in den Marken und Cantù in der Nähe des Comer Sees zu begeben, wo die Präfektur über das Patronato Nazionale – ein staat­liches Hilfswerk für Ar­­beiter – eine Beschäftigung für sie gefunden hatte.[103] Präfekt De Vi­ta betrachtete die Su­che nach Unterkunft und Arbeit für die Deportierten offenbar als Chefsache,[104] schien dies doch der bes­te Weg zu sein, ein Wiederaufleben der Proteste oder un­liebsame Berichterstattung zu ver­hin­dern. Allzu weitreichend scheinen die Initiativen des Prä­fekten dann aber doch nicht gewesen zu sein: Der Darstellung zweier Zeitzeugen zufolge wa­ren viele Familien nach der Ent­lassung aus der Kaserne geradezu stigmatisiert und hatten größ­te Schwierigkeiten, Unter­kunft und Arbeit zu finden.[105] Auch ein Blick in die Akten der Politischen Polizei Bolognas zeigt, dass es den betroffenen Arbeitern schwerfiel, sich außerhalb von Molinella eine neue Exi­stenz aufzubauen.[106]

Akribisch arbeitete der Präfekt jedenfalls auf die gezielte Verteilung der Dissidenten hin, um ihre sozialen Netz­werke dauerhaft zu zerstören. Eine zweite Welle von Zwangsausweisungen zog sich durch den ganzen November, so dass Präfekt De Vita Ende des Monats von bisher 180 Per­sonen sprach, die Molinella hätten verlassen müssen und für deren „rigorose Überwachung“ er in Rom nochmals mehr Personal anforderte.[107] Vermutlich war die Ausweisung der wider­stän­digsten Ar­beiter­fa­milien aus Molinella damit bereits weit fortgeschritten, denn in den Ar­chi­ven finden sich keine Belege für eine dritte Deportationswelle. Die in der Forschungs­lite­ratur häufig kolportierte Zahl von 250 bis 300 betroffenen Familien ist also mit ziemlicher Si­cherheit zu hoch gegriffen.[108] Einzig der Historiker Marco Poli ging von 70 Familien aus, verstand die Deportationen des Jahrs 1926 jedoch als Teil ei­nes längeren Prozesses, in dessen Ver­lauf zwischen 1923 und 1926 insgesamt 300 sozia­lis­ti­sche Familien aus Molinella ihre Woh­nungen unter Zwang verlassen mussten.[109] Ohne die Kontinuität politisch moti­vier­ter Kün­digungen in Abrede zu stellen, muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die or­ga­ni­sierte Verschleppung von rund 200 Personen im Herbst 1926 eine deutliche Zuspitzung der Re­pressionsmaßnahmen darstellte. Es waren dann auch die Deportationen von 1926, die sich als fataler Schlag gegen eine der letzten Hochburgen des Arbeiterwiderstands in Italien er­weisen sollten – nicht jedoch ohne einen internationalen Aufschrei auszulösen, für den die So­zia­lis­ti­sche Arbeiterinternationale den Anstoß gab.

V. Der Antifaschismus der SAI und die Intervention Friedrich Adlers

Molinella bewegte auch außerhalb Italiens die Gemüter. Auf den Kongressen der SAI, wo sich De­legierte von Parteien aus aller Welt versammelten,[110] war der Widerstand der Land­ar­beiter­in­nen und Landarbeiter immer wieder aufgegriffen worden. Gegründet im Mai 1923 in Ham­burg, sollte die SAI nach dem Ersten Weltkrieg die internationale Zusammenarbeit der re­for­mistischen sozialistischen Parteien wieder aufleben lassen.[111] Treibende Kraft dieser Wie­der­an­­näherung waren die Vertreter des Austromarxismus um Friedrich Adler. So nahm der beken­nen­de Marxist Adler, der 1916 einen Mordanschlag auf den öster­reichischen Ministerpräsi­den­ten Karl Graf Stürgkh verübt hatte und bei Kriegsende amnestiert worden war, maßgeblichen Ein­fluss auf die Statuten der Internationale. Danach fungierte ein internationaler Kongress als höchste Entscheidungsinstanz, der von Delegierten der Mitgliedsparteien beschickt wurde und al­le drei Jahre zusammentreten sollte. Einstimmig gefasste Beschlüsse der Exekutive hatten „in al­­len internationalen Fragen“ bindenden Charakter, während den einzelnen Parteien in in­nen­po­­litischen Angelegenheiten umfassende Autonomie verblieb.[112] Ein Weggefährte Adlers, der His­­­toriker Julius Braunthal, nannte die SAI deshalb eine „Föderation autonomer Parteien“ des de­mokratischen Sozialismus.[113]

Die Geschichtsschreibung sieht in der SAI vornehmlich ein Forum des transnationalen Aus­tauschs, in dem in der Zwischenkriegszeit drängende Fragen der Frie­denssicherung und zwi­schen­staat­lichen Annäherung diskutiert wurden.[114] In den Hin­tergrund rückte dagegen die Tat­sa­che, dass die SAI nicht nur als Austauschplattform fungierte, sondern dass sie mit dem von Fried­rich Adler geleiteten Sekretariat auch über eine Institution verfügte, der dank Adlers Tatendrang wesentlich mehr als nur bürokratische Bedeutung zukam.[115] Im Fall Molinella agierte das Sekretariat weitestgehend eigenständig,[116] so dass sich zunächst die Frage nach der Motivation und nach dem Faschismusverständnis Friedrich Adlers stellt.

Prominente Stimmen in der italienischen Geschichtswissenschaft haben die Bemühungen der SAI im Kampf gegen den italienischen Faschismus dezidiert negativ beurteilt.[117] So kamen Bru­no Tobia und Leonardo Rapone zu dem Urteil, die internationalen Kader der SAI hätten den italienischen Faschismus systematisch unterschätzt und als Ausdruck südeuropäischer Rück­­­ständigkeit abgetan.[118] Die westeuropäischen Spitzenfunktionäre hätten sich aufgrund des hö­­­heren technisch-industriellen Entwicklungsstands ihrer Länder in Sicherheit gewähnt, und dies habe ein entschiedenes Eintreten gegen den Faschismus verhindert.[119] In der Tat finden sich in den Protokollen der SAI-Kongresse Aussagen europäischer Sozialisten, die darauf hin­deu­­ten, dass sie den Faschismus als „exzeptionelles und marginales Phänomen“ wahr­nah­men.[120]

Und doch: Das sozialistische Faschismusverständnis der 1920er Jahre war keineswegs so ein­heit­lich, wie es Tobia und Rapone glauben machen wollten. Bereits auf dem Gründungs­kon­gress der SAI hatte Otto Bauer Italien als das „schlimmste Gefahrenzentrum“ Europas be­zeichnet und den Faschismus als globale Gefahr beschrieben: „Wir sprechen davon nicht nur in dem blo­ßen Gefühl der Solidarität, sondern auch wegen der Bedrohung des Proletariats in der gan­zen Welt.“[121] Spätestens mit dem dritten Kongress der SAI, der 1928 in Brüssel stattfand, avancierte der Faschismus zu einem zentralen Gegenstand der Debatte.[122] Die Spitzen der euro­päi­­schen Arbeiterbewegung bekundeten den italienischen Genossen ihre Solidarität und hoben zugleich das weltweite Gefahrenpotential hervor, das vom Faschismus ausgehe. So be­schrieb Louis de Brouckère in seiner Rede das Schicksal der Verbannten auf den ita­lie­nischen Gefangeneninseln, um dann vor dem Trugschluss zu warnen, dass „diese Schrecken auf Italien oder Rußland beschränkt“ blieben. „Das Übel“, so der belgische Sozialist weiter, „ist leider viel wei­ter über die ganze Welt verbreitet.“[123]

Der Faschismus wurde im Umfeld der SAI also durchaus als gravierende internationale Bedrohung wahr­ge­nom­men. Ein Blick in Friedrich Adlers Korrespondenz der 1920er Jahre zeigt zudem, dass Tobia und Rapone in ihrem Negativurteil ein weiterer Aspekt entgangen ist: Als die Sozialdemokratische Ar­beit­er­partei Österreichs im November 1926 auf ihrem Parteitag in Linz ein neues Programm dis­ku­tierte, entschied sich Adler vor dem Hintergrund der De­por­ta­tionen, den „faschistischen Ter­ror“ in Italien und die „tiefe Sympathie [...] in der gesamten Arbeiterbewegung“ für die „tap­feren Landarbeiter[...] von Molinella“ ins Zentrum seiner Rede zu stellen.[124] Adler hatte sich schon im Vorfeld des Linzer Parteitags für die italienischen Ge­nos­sen eingesetzt und seinen al­ten Weggefährten Otto Bauer aufgefordert, einen Passus aus dem neuen Parteiprogramm zu strei­chen, der für den Fall von Diktaturbestrebungen des Bür­ger­tums mit einer gewaltsamen Re­aktion des Proletariats drohte. Adler kam es dabei darauf an, „nicht die Anhänger Turatis ge­genüber den Maximalisten zu desavouieren“.[125] Angesichts der schar­fen Kluft zwischen Re­form und Revolution, die den italienischen Sozialismus seit Langem durch­zog, versuchte Ad­ler mit Hilfe des österreichischen Parteiprogramms, die Reform­so­zia­lis­ten um Filippo Turati in ihrer strategischen Ausrichtung zu bestärken.[126] Ohnehin sei „die Wahr­scheinlichkeit [...], dass dieser Passus für Österreich aktuell werden könnte“, gering. Rech­te Diktaturbestrebungen, so Adlers Begründung, seien in seinem Heimatland aufgrund der „oeko­nomischen Not­wen­dig­keiten und der durch sie bedingten geistigen Entwicklungsstufe der Volks­massen“ ohnehin zum Scheitern verurteilt.[127] Hier scheint die von der italienischen For­schung betonte Rückständigkeitsthese durch – das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Als be­­kennender Marxist war Adler von einem materialistisch unterleg­ten Fortschrittsdenken ge­prägt, und so hielt er italienische Verhältnisse in Mittel- und West­eu­ropa für un­wahr­schein­lich.[128] Doch anders als von Rapone und Tobia angenommen, ver­weiger­te Adler den italie­ni­schen Sozialisten deswegen keineswegs die praktische Solidarität. Er war im Gegenteil sogar da­zu bereit, in ihrem Sinne auf die österreichische Programmdebatte einzuwirken. Otto Bauer hat­te dafür jedoch kein Verständnis und beschied seinem Parteifreund: „Wir können das Pro­gramm nur für uns machen, nicht für die Italiener.“[129] Doch dies blieb nicht die letzte In­tervention Adlers zugunsten der italienischen Sozialisten.

Im Frühjahr 1927 flammte zwischen Adler und dem sozialistischen Literaten George Bernard Shaw eine hitzige Debatte auf, die in ganz Europa Wiederhall finden sollte. Shaw, berühmt ge­worden durch seine Sozialdramen, für die er 1925 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, ver­öffentlichte nach einer Italienreise im Frühjahr 1927 eine „Verteidigung“ Benito Mussolinis in den britischen Daily News.[130] Offenbar völlig entrüstet über diese Parteinahme eines be­ken­nenden Anhängers der Arbeiterbewegung, schrieb Adler unverzüglich einen Protestbrief an Shaws Adresse in London, in dem er ausführlich darlegte, warum es unabdingbar sei, „aktiv die ‚Tatsache‘ des Terrorregimes zu bekämpfen“.[131] Unter den zahllosen Einwänden, die Adler der Apologie Shaws entgegenhielt, sticht der Vorwurf hervor, der Schriftsteller sei „ernstlich in die bedenkliche Nähe jenes britischen Herrenstandpunktes“ geraten, „für den die eigene Frei­heit und deren Behauptung selbstverständlich ist, der es aber für durchaus möglich hält, den na­tives zuzumuten, die faschistische Unterdrückung faute de mieux zu acceptieren“.[132] Die An­spie­lung auf das britische Kolonialdenken verdeutlicht, dass es Adler ganz besonders missfiel, die Situation in Italien von einem Standpunkt der zivilisatorischen Überlegenheit aus zu baga­tel­lisieren.

Als Shaw dem Sekretär der SAI Monate später in rechtfertigender Absicht antwortete, holte Adler er­­neut zum rhetorischen Angriff aus. Der Faschismus werde getragen durch die „skandalöse Un­­terstützung des ‚zivilisierten‘ Europas“. Dass eine solche ideologische Hilfsstellung nun auch vom sozialistischen Lager ausging, führte Adler dazu, einen seiner Briefe mit bitterer Ironie zu schlie­ßen: „In Ihrem Lande wäre es nun üblich zu sagen[,] wie hoch ich Sie schätze, aber als Eingeborener eines weniger zivilisierten Landes verzichte ich darauf.“[133] Der marxistische Fort­schritts­­optimismus, der in Adlers Weltanschauung zweifelsohne eine zentrale Stellung ein­nahm, ging mit einer dezidierten Ablehnung zivilisatorischen Überlegenheitsdenkens einher. Ad­lers Debatte mit Shaw fand sowohl in der italienischen Presse als auch in dutzenden in­ter­na­tionalen Zeitungen Beachtung; mancherorts wurde der Briefwechsel sogar vollständig ab­ge­druckt.[134] Adler erschien dabei als Repräsentant eines resoluten Antifaschismus.[135] Es war diese Haltung, auf deren Grundlage Adler im Fall Molinella zur Tat schritt.

Als der italienische Sozialistenführer Pietro Nenni das Sekretariat der SAI im Juli 1926 über die geplanten Deportationen informierte, war Molinella den Repräsentanten der internationalen Ar­­beiterbewegung bereits wohlbekannt. Nennis Appell an „die internationale Solidarität“ traf auf offene Ohren.[136] Bald darauf erfuhren die Behörden in Rom und Bologna, dass Nennis Aus­füh­rungen unter dem Titel „Martyrdom of the Italian Workers“ in der Zeitschrift der SAI, den In­ternationalen Informationen, erschienen waren.[137] In den nächs­­ten sechs Wochen gingen bei der SAI in Zürich weitere Meldungen zu Molinella ein. Ein Be­richt der CGdL, der Adler vorlag, schloss mit den Worten: „Niemals, in keinem Ort der Welt, wussten Arbeiter Widerstand zu leisten wie sie. Es lebe das Proletariat von Molinella.“[138] Adler konnte sogar Einzelheiten in Er­fahrung bringen, denn am 19. September 1926 sah er sich dazu in der Lage, dem Sekretariat des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) zu melden, die „Exmittierungen“ würden am 29. September beginnen. Auf diese Information baute er seinen Plan auf: „Der Fall, dass eine fas­zistische Greultat für einen bestimmten Tag im Voraus angesagt ist und daher öffentlich kon­trolliert werden koennte[,] ist so selten, dass ich glaube, man sollte alle Kraefte anspannen und hinreisen.“[139]

In diesen Tagen schlug der Sekretär der SAI an mehreren Orten Alarm. So schrieb er dem IGB in Amsterdam und seinem Vertrauten bei der Labour Party, William Gillies, um zu veranlassen, dass „auswaertige Journalisten für diesen Tag hinzukommen, um Zeugen der Vorgänge zu sein“. Er sei darum „von absolut verlässlicher Seite im Namen der Genossen von Molinella ge­­­beten worden“. Des Weiteren zitierte Adler einen Brief aus Italien, in dem detaillierte Vor­schläge bezüglich des weiteren Vorgehens gemacht wurden: „Wenn auch nur ein Auslaen­der zu­­gegen ist (womoeglich mit einem photographischen Apparat) maessigt man sich“, hieß es da­­rin. Am besten wäre es, fügte Adler hinzu, „dass Journalisten von solchen Nationen kommen, wo keine Passschwierigkeiten bestehen und auch ein gewisser Respekt vor einer diploma­ti­schen Intervention“ zu erwarten sei. Adler leitete das Hilfegesuch aus Italien auch „nach Eng­land“ und an Albert Thomas vom Internationalen Arbeitsamt weiter. „Der mo­ra­lische Ein­druck“ einer geglückten Aktion, „nicht nur bei den Genossen in Molinella, die schon so Furcht­ba­res erduldet haben, sondern in ganz Italien und weit darüber hinaus, wird ein großer sein“.[140] Mit ei­­­ner bemerkenswerten Tatkraft mobilisierte Friedrich Adler also sein internationales Netz­werk.

Der Plan, den Adler in Abstimmung mit Sozialisten in Italien entwarf, nahm im Laufe des Monats September konkretere Formen an: Die auswärtigen Journalisten sollten sich am Mor­gen des 29. September in Bologna einfinden, um dann von den dortigen Sozialisten mit dem Auto nach Molinella gebracht zu werden. Per Brief und Telegramm bestimmte man wenige Tage vor dem arrangierten Termin den Albergo Roma in Bologna als Treffpunkt, zu dem auch Oda Ler­da-Olberg, die Italien-Korrespondentin des Berliner Vorwärts, kommen sollte.[141] Offenbar hatte sich die Journalistin bereit erklärt, die Aktion in Bologna zu ko­or­di­nie­ren. Aus Groß­bri­tan­nien erhielt Adler die telegrafische Nachricht, dass sich mit Lorimer Ham­mond sogar ein Kor­respondent der Chicago Tribune in Italien befinde.[142] Am Tag darauf wur­den in Molinella die ersten Familien aus ihren Häusern verwiesen und nach Bologna de­portiert. Mussolinis Po­li­zeichef Arturo Bocchini informierte unterdessen den Präfekten, dass sich aus­län­­dische Kor­res­pondenten in Molinella einfinden würden, und bat darum, die „Übermittlung von falschen und tendenziösen Nachrichten“ zusammen mit den Postbehörden zu unter­bin­den.[143] Dennoch ge­lang es Teilen der internationalen Presse, ebenso aktuelle wie ausführliche Artikel über Mo­li­nella zu drucken, was Adler und seine Mitstreiter unzweifelhaft als Erfolg ver­buchen konnten. So berichtete Lorimer Hammond am 4. Oktober 1926 in der Chicago Tri­bune:

„On Oct. 1 the deportation of the remaining members of the families – old folks, women and children – began. During the night one company of carabinieri arrived secretly from Bologna, accompanied by 100 police officers in plain clothes. [...] The police herded the old men and women and children, who were handcuffed, into closed vans.“[144]

Der präzise und erstaunlich detailreiche Bericht weist darauf hin, dass der amerikanische Jour­nalist dank der Vermittlung Adlers offenbar nach Bologna oder gar nach Molinella gelangen konn­te. Dass dies zumindest der Plan war, zeigt Adlers Korrespondenz mit William Gillies: „Ich hoffe, dass Mr. Laurie Hammond vom Chicago Tribune Molinella sicher erreicht hat“, schrieb Gillies nach Zürich.[145] Adler erwiderte am 7. Oktober: „Mein lieber Gillies, lassen Sie mich Ihnen danken für Ihre Unterstützung, die sehr effektiv gewesen zu sein scheint, in der Mo­linella Affäre. Wie Sie sehen werden, haben wir in den letzten I[nternationalen] I[nfor­ma­tio­nen] einen Teil des Daily Herald Berichts platziert.“[146]

Der Daily Herald, der mit ziemlicher Sicherheit einen Korrespondenten vor Ort hatte, widmete den Geschehnissen am 4. Oktober sogar die Schlagzeile der Titelseite: „Fascist Outrage on Wo­­­men and Children. Taken from Homes in Handcuffs. War of Extermination on Socialist Land Workers. Driven Out to Starve. Men Hiding in Swamps, while Families are herded in Barracks.“[147] Mittlerweile hatte sich die Nachricht in ganz Europa verbreitet. Der Vorwärts schrieb bereits am 27. September, dass das Internationale Arbeitsamt gegen die „Vertreibungen von 250 italienischen Landarbeiterfamilien“ protestiert habe.[148] Einen Tag später folgte ein de­tail­lierter Bericht zu „Mussolinis neuester Heldentat“, deren Einzelheiten der Redaktion vom Se­kretariat der SAI übermittelt worden seien.[149] In den folgenden Tagen berichteten zahlreiche weitere Zeitungen über die faschistische Offensive gegen Molinella, so etwa die französischen Blätter Le Siècle (3. Oktober 1926), Le Matin (16. Oktober 1926) und Le Temps (17. Oktober 1926) sowie die deutschen Zeitungen Hamburger Anzeiger (5. Oktober 1926) und Hamburger Nach­richten (19. Oktober 1926).[150]

Mitte Oktober kam es dann zum Eklat im Internationalen Arbeitsamt in Genf, wo man den ita­lienischen Repräsentanten öffentlich mit dem „Skandal von Molinella“ konfrontierte.[151] Trotz des unüberhörbaren Echos monierte William Gillies Ende Oktober jedoch gegenüber Ad­ler, dass eine eigene Nachrichtenagentur – ein „sozialistisches Reuters“ – fehle, dem der „Korr­es­­­­pondent von Molinella“ seine Berichte hätte zuschicken und von wo aus die „ganze sozia­lis­ti­­sche Presse“ hätte informiert werden können.[152] Offensichtlich dachten die beiden Sozialisten über die Verbesserung der in Molinella erprobten Methode internationaler Beobachtung nach. Kurz vor Jahresende erschien dann eine vorläufig letzte – und gewagte – Behauptung aus der SAI zu Molinella: Aufgund der Berichterstattung „der sozialistischen Presse aller Länder“ hät­ten sich die Faschisten dazu gezwungen gesehen, „ihre Missetat für den Moment zu beenden, und auf einen günstigeren Augenblick zu warten, in dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit viel­­leicht getäuscht werden kann“. Aber hatte die „Aufmerksamkeit der ganzen Welt für die hel­­­denhaften Kämpfer von Molinella“[153] den Deportationen tatsächlich ein vorläufiges Ende ge­setzt?

VI. Auswirkungen und Schlussfolgerungen

Welche konkreten Auswirkungen die internationale Pressekampagne zu Molinella auf das weitere Vorgehen der Behörden hatte, ist schwer zu sagen. Weder in der Forschungsliteratur noch in den italienischen Akten finden sich Hinweise, die das positive Fazit der SAI bestätigen oder widerlegen. Da die archivalische Überlieferung zu den Deportationen aus Molinella Ende November 1926 abreißt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Aktion in diesen Tagen mit der zweiten Deportationswelle ihr Ende fand.

Auch wenn die von Zeitgenossen und Historikern so häufig genannte Größenordnung von 200 bis 300 deportierten Familien wohl deutlich zu hoch gegriffen ist, erreichten die faschistischen Be­hörden dennoch ihr Ziel, eine der letzten sozialistischen Bastionen Italiens zu schleifen. In diesem Sinne ging bereits im April 1927 eine erste Erfolgsmeldung im In­nen­ministerium ein: In Mo­linella sei das Klima in letzter Zeit ungewöhnlich friedlich – die hohe Anzahl an Kir­chen­be­suchern und das vollständige Ausbleiben von Protestaktionen müsse „in Verbindung ge­setzt wer­den mit der energischen Säuberung“, die von den Behörden mit Hilfe der Zwangs­räu­mun­gen und der Verhängung von Verbannungsstrafen durchgeführt wurde und die „die Atmosphäre in Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung vollkommen verwandelt“ habe, so der stell­vertretende Polizeipräsident. Statt subversiver Demonstrationen fänden nun re­ligiöse Pro­zessionen unter reger Anteilnahme der Bevölkerung statt.[154] Zwar befassten sich die Behörden um die Jahreswende 1927/28 noch einmal mit einer Handvoll Wohnungs­räu­mungen, doch mit den Aktionen von 1926 war dies nicht zu vergleichen.[155]

Was wurde aus den deportierten Landarbeitern Molinellas? Wirft man einen Blick in die Per­so­nalakten der Sektion „Gefährliche Personen für die Sicherheit des Staats“ im Archivio di Sta­to di Bologna, deuten die hier dokumentierten Biografien darauf hin, dass die erzwungene Um­­­siedlung zur vollständigen Unterdrückung subversiven Handelns führte.[156] Isoliert von Schau­platz und Milieu ihres Protests gaben viele Betroffene offenbar jegliche politische Be­tätigung auf. Ungeachtet der kritischen internationalen Berichterstattung war es den faschis­ti­schen Behörden somit gelungen, auch die resistentesten Arbeiterinnen und Arbeiter in die Knie zu zwingen. Doch was sagt uns dies über den Charakter des italienischen Faschismus?

Ein gutes halbes Jahr nach den Deportationen von Molinella verkündete Mussolini in seiner viel­­beachteten Rede an Christi Himmelfahrt 1927, dass die Faschisten eine „enorme, mo­nu­men­­tale Jahrhundertaufgabe“ vollbracht hätten: die Schaffung eines „einheitlichen ita­lie­ni­schen Staats“. Anschließend wiederholte Mussolini die 1925 geprägte Glaubensformel „alles im Staat, nichts gegen den Staat, nichts außerhalb des Staats“ und behauptete, dass für den Einzelnen ein Leben außer­halb des faschistischen Staats undenkbar geworden sei.[157] Bedeutete dies, dass der Dik­ta­tor tatsächlich davon überzeugt war, alle Italiener seien nur wenige Jahre nach seiner Macht­über­nahme zu entschlossenen Faschisten geworden? Für den Moment gab sich Mussolini je­denfalls mit einer wenngleich oberflächlichen, so doch umfassenden Gleich­schal­tung des öf­fent­­lichen Lebens zufrieden: Mit Hilfe „sozialer Hygiene“ habe man bestimmte In­dividuen aus dem „Kreislauf“ entfernt; alle ehemals abseits stehenden „Elemente“ seien „ein­ge­gliedert“ wor­den, denn Opposition sei „überflüssig in einem totalitären Regime wie dem fa­schis­ti­schen“.[158]

Der Duce proklamierte damit nichts anderes als die Umsetzung seiner Utopie von der totalen In­tegration der Ge­sellschaft in den faschistischen Staat.[159] Diese Vision eines wahrlich geeinten Lands, in dem man die mannigfaltigen gesellschaftlichen Brüche und die als Egoismus ver­un­glimpfte Individualität endlich überwunden habe, war in Italien seit den Tagen Garibaldis und Maz­zinis virulent.[160] Von Anbeginn besaß die nationale Einheit ei­nen zu­tiefst mythischen Charakter, zumal seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Fort­be­stehen der Na­tion auf dem Spiel zu stehen schien. Während die Opposition die vermeintliche Einig­keit als Friedhofsruhe brandmarkte, reklamierte Mussolini den Erfolg für sich und seine Partei, das Ri­sorgimento endlich zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht zu haben. Dieser Mission war Molinella zum Op­fer ge­­fallen.

Der nervöse Blick des Duce reichte bis ins „letzte Dorf Italiens“.[161] Dabei müssen sich die Fa­schisten sehr wohl bewusst gewesen sein, dass die proklamierte Beseitigung gesellschaftlicher Plu­ra­lität nur dem Schein nach eine politische und gesellschaftliche Einigung des Lands be­deutete. Da­­für spricht nicht zuletzt, dass in der großen faschistischen Parteiorganisation für Frei­zeit und Sport, Ju­gend und Frauen ein umfassender Umerziehungsprozess auf immer grö­ßere Teile der Be­­­völ­ke­rung ausgedehnt wurde; 1942 waren rund zwei Drittel aller Italiener Mit­glieder der Par­­tei bezie­hungs­weise ihrer Ableger.[162] Das „totalitäre Experiment“ gipfelte in dem Versuch, ei­­nen „neuen Italiener“ heranzuziehen.[163]

Der zivile Widerstand der Landarbeiter Molinellas war nicht illegal oder zielte gar auf den Um­sturz des Regimes; er stellte nicht einmal auf lokaler Ebene eine unmittelbare Bedrohung der politischen Ordnung dar.[164] Der von den Amtsträgern verspürte Handlungsdruck war aber der Idee des totalitären Staats inhärent. Denn gemessen am umfassenden Anspruch der Fa­schis­ten musste der Widerstand von Molinella als staatliches Versagen aufgefasst werden – ein Ver­sa­gen im kleinen Rahmen, doch auch ein Versagen im Hinblick auf die zentrale Ordnungs­vor­stellung des Faschismus. Die „Un­duldsamkeit gegenüber einer echten Opposition“[165] bestand also unabhängig von ihrer tatsächlichen Dimension. Dies galt schon deshalb, weil Molinella ei­ner breiten Öffentlichkeit vor­führte, dass ziviler Widerstand in Italien weiterhin möglich war. Be­sonders schwerwiegend dürfte sich die internationale Resonanz des Falls Molinella aus­ge­wirkt haben, war das fa­schis­ti­sche Regime doch peinlich auf seine Wirkung im Ausland be­dacht.[166] „Prestigepolitik“, kom­men­tierten bereits Zeitgenossen, war „das Schlagwort des Du­ce“.[167] Bezeichnenderweise war es im Fall Molinella erst die internationale Berichterstattung, die mit Arturo Bocchini den höchs­ten Amtsträger des faschistischen Repressionsapparats auf den Plan rief. Insofern hatte Fried­rich Adler mit seiner Strategie, die Geschehnisse von Mo­linella ins Licht einer in­ter­na­tio­na­len Öffentlichkeit zu setzen, einen neuralgischen Punkt der Herr­schaftslogik Mussolinis ge­trof­fen.

Der Fall Molinella zeigt exemplarisch auf, dass die Funktionäre des frühen faschistischen Re­gimes gerade dann bereit waren, außerordentliche Repressionsmaßnahmen zu ergreifen, wenn die Aussicht bestand, die für In- und Ausland aufgezogene Fassade politischer Homogenität zu kom­­­plementieren.[168] Hier diente Gewalt sozusagen dazu, die Illusion von Einheit zu er­zeu­gen. Wäh­rend in der Vergangenheit gesellschaftliche Zustimmung und staatliche Unterdrückung als Er­klärung für die langjährige Stabilität des faschistischen Regimes oft als konkurrierende Fak­toren diskutiert wurden, zeigt der Fall Molinella also auf eindrückliche Weise auf, dass sich die bei­den Aspekte in keiner Weise ausschließen mussten und sogar komplementär zu verstehen sind.[169] Insofern untermauern die Geschehnisse in der Emilia-Romagna einige aktuelle In­ter­pre­tationsangebote der Faschismusforschung.[170]

In den seltenen Momenten, in denen der totalitäre Herrschaftsanspruch der faschistischen Amts­­­träger Mitte der 1920er Jahre noch öffentlich in Frage gestellt wurde, zögerten die ita­lie­ni­­schen Faschisten nicht, Recht und Gesetz beiseite zu schieben.[171] Dann bl­itzte unter der Fas­sade des auf die vorfaschistische Zeit zurückgehenden „Normenstaats“ – die Verfassung von 1848 blieb de jure in Kraft – kurzzeitig ein „Maßnahmenstaat“ auf, der nicht länger an recht­­li­che Vorgaben und Einschränkungen gebunden war.[172] Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Arbeiterfamilien ohne konkrete Rechtsgrundlage deportiert wurden. In einem Te­le­gramm be­rief sich der Präfekt von Bologna lediglich auf Artikel 3 des Testo unico della legge co­mu­nale e provinciale, der allgemein die Exekutivgewalt der Präfekten in der Provinz re­gelte.[173] Und so be­schwerten sich bereits Zeitgenossen darüber, dass man den Betroffenen nicht ein­mal die Rechte herkömmlicher Gefangener zugestand und sie in Bologna unter ungeklärtem Sta­­tus fest­hielt.[174] Die Deportationen stellten also eine Maßnahme dar, die zumindest in Teilen noch der fa­schistischen Maxime der „direkten Aktion“ aus Zeiten des Squadrismo entsprach.[175]

Doch die faschistischen Behörden gingen gegenüber Oppositionellen auch nicht völlig un­ge­hemmt ans Werk. Wie immer, wenn sich die Faschisten in der Regimephase auf das Terrain au­ßer­ordentlicher Maß­nahmen begaben, handelte es sich um eine strategische Gratwanderung zwi­­schen der zu erwartenden Rufschädigung und der effektiven Beseitigung von Gegen­stim­men. In der Praxis bedeutete dies vor allem, dass Repression dann als exzessiv gebrandmarkt wur­de, wenn sie zu viel (internationale) Aufmerksamkeit hervorrief oder bei der Bevölkerung auf erkennbare Ablehnung stieß.[176] Angesichts des doppelten Symbolcharakters von Molinella – ein Schandfleck aus Sicht des Regimes, ein Lichtblick für die Opposition – wird die drohende Ruf­­schädigung aber zu verschmerzen gewesen sein. Dementsprechend entschieden sich die Be­hör­den dafür, drohende Gewalt seitens der faschistischen Basis zu kanalisieren und dem Wi­der­stand in Molinella auf geregelte Weise ein Ende zu setzen.

In seinem totalitären Herrschaftsanspruch versuchte das faschistische Regime, auch die alten classes dangereuses, das ursprüngliche Hauptziel faschistischer Militanz, zu integrieren.[177] Die Re­pression gegen Arbeiter beschränkte sich deshalb zumeist auf politisch aktive Einzel­per­sonen, auch wenn dies mit Nachdruck und System geschah.[178] Insofern stellte Molinella eine Ausnahme dar: Die Kleinstadt zählte zu den wenigen Orten, in denen es dem Regime nicht gelang, dem zivilen Widerstand mit dem bewährten Instrumentarium des Polizeistaats Herr zu werden. In seiner Studie zum Unterdrückungsapparat des faschistischen Regimes hat Michael Ebner einige wenige „Rückzugsgebiete“ des Widerstands benannt, zu denen neben Turin, Rom und Parma auch Molinella zählte. Im Angesicht dieser „Härtefälle“ habe sich der Staat aufgemacht, auch „den sozialen Bindungen [...] der Arbeiterklasse und den nach außen ge­­richteten Bekundungen zum Sozialismus“ ein Ende zu setzen. Betrachtet man die ein­schlägigen Lokalstudien, lassen sich lediglich für den Arbeiterstadtteil Oltretorrente in Parma er­­zwungene Umsiedlungen nach dem Muster Molinellas nachweisen, die auch hier dazu führ­ten, dass „eine große Bevölkerungsgruppe, die der Macht feindlich gegenüberstand, frag­men­tiert, verbannt und überwacht“ werden konnte.[179] Im Kampf gegen die sizilianische Mafia sind eben­falls Deportationen verdächtigter Familienverbände bekannt.[180] Gewiss aber stellten Zwangs­umsiedlungen im faschistischen Italien der 1920er Jahre eine exzeptionelle Maßnahme dar. Andererseits muss betont werden, dass die Aktion im Prinzip auf die bewährteste repressive Stra­tegie des italienischen Faschismus zurückgriff: Wie schon die Squadristi zwangen die Be­hör­den unliebsamen Bürgern durch Verbannung oder die sogenannte ammonizione – Mel­depflicht und Ausgangssperre – einen bestimmten Aufenthaltsort auf.[181] In Molinella wur­de die­ser vielleicht wichtigste Sanktionsmechanismus des italienischen Faschismus mit seltener Kon­s­equenz umgesetzt.

Auch in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Partei – eine weitere, bis heute viel diskutierte Frage der Faschismusforschung – stellt der Fall Molinella ein interessantes Beispiel dar: So­lan­ge es einen gemeinsamen Gegner gab, waren die Interessen der lokalen Squadristi um Augusto Re­gazzi und der Amtsträger in Bologna und Rom trotz gewisser Unstimmigkeiten in Einklang zu bringen. Chronologisch stehen die Deportationen von Molinella kurz vor der endgültigen Ab­lösung der Straßengewalt durch staatliche Repression in geregelten Bahnen: Ab November 1926 wurde der Handlungsspielraum staatlicher Behörden noch einmal massiv erweitert; nun war es ihnen unter anderem möglich, die bekannten Oppositionellen Molinellas in die Ver­ban­nung zu schicken. Angesichts dieser Entwicklungen ist es kein Zufall, dass Regazzi 1928 selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden geriet und schließlich für fünf Jahre verbannt wur­de.[182] Der faschistische „Profi der Gewalt“ wurde nach der brutalen Pazifizierung des Orts nicht mehr benötigt.[183]

Doch die hier exemplarisch abgebildete Verdrängung der Squadristi stellt nicht – wie von der äl­­teren Forschung behauptet – eine „Niederlage der Partei“ dar, sondern war eher ein Ne­ben­pro­­dukt der fortgeschrittenen Faschisierung des Staats.[184] Die impulsive Gewalt der Schwarz­hem­den war für das Streben dieses Staats nach Einheit schlicht hinderlich geworden, konnten die mit faschistischen Amtsträgern durchsetzten Behörden die erzwungene Integration der Gesellschaft doch viel geregelter betreiben. Der Präfekt von Bologna und Hauptorganisator der Deportationen, Raffaele De Vita, war beispielsweise ein frühes Mitglied der faschistischen Partei, den Mussolini 1927 aufgrund seiner Verdienste öffentlich als „Helden“ bezeichnete.[185] Auch wenn sich die Behörden anderer Mittel bedienten als die Schwarzhemden – die totalitäre Ziel­setzung blieb die gleiche. Denn wie schon die squadristischen Milizen keinerlei politische Konkurrenz toleriert hatten, ließ der faschistische Staat diese ebenso wenig zu.[186] Dieser Staat konnte von nun an sicherstellen, dass die nationale Gemeinschaft von Molinella aus nicht mehr her­aus­ge­for­dert werden würde. Dieser Erfolg der Faschisten erreichte seinen propagandistischen Höhe­punkt, als Mussolini der Kleinstadt in der Emilia-Romagna 1936 einen Besuch abstattete und die staatliche Filmgesellschaft Istituto Luce den Duce in­mitten euphorisch applaudierender Land­arbeiter in Szene setzte.[187]

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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