Abstract
Die italienische Kleinstadt Molinella rückte nach der Machtübernahme Mussolinis im Oktober 1922 wiederholt in den Fokus der nationalen und europäischen Öffentlichkeit, da sich die dortigen Landarbeiter besonders resolut gegen den Gleichschaltungsdruck des faschistischen Regimes zur Wehr setzten. Auf diese Weise erlangte Molinella einen doppelten Symbolcharakter: aus Sicht des Regimes als roter Schandfleck, aus der Perspektive der Sozialisten als Lichtblick. Den Arbeiterfamilien sollte die geballte Aufmerksamkeit letztlich zum Verhängnis werden, führte sie doch dazu, dass die Faschisten Ende 1926 zur Deportation der verbliebenen Sozialisten übergingen. Die Sozialistische Arbeiterinternationale bemühte sich darum, diese Repressionsmaßnahmen bekannt zu machen, die, wie Manuel Mork darlegt, Aufschluss über die Natur des italienischen Faschismus geben.
Abstract
The Italian town of Molinella was repeatedly in the European and international spotlight after Mussolini’s coming into power in October 1922, as the local farm workers defied the pressure of the Fascist regime to conform to an exceptional degree. In this manner Molinella acquired a symbolic character for both sides: for the regime, it was a red stain, while from the Socialist perspective, it was a ray of hope. This high degree of attention would ultimately lead to the ruin of these working-class families, since the Fascists ultimately deported the remaining Socialists in late 1926. The Labour and Socialist International tried to publicise these repressive measures, which, as Manuel Mork sets out, provide insight into the nature of Italian Fascism.
Vorspann
Ganz Italien hatte sich 1926 den Schwarzhemden Mussolinis ergeben? Nein, nicht ganz Italien, denn die Landarbeiterschaft in der Kleinstadt Molinella bei Bologna blieb ihren sozialistischen Wurzeln treu und protestierte wiederholt gegen die Zumutungen und den sich verschärfenden Gleichschaltungsdruck des faschistischen Regimes. Gegenmaßnahmen ließen nicht auf sich warten – und sie fielen für diese Phase von Mussolinis Herrschaft radikal aus, ordneten die Behörden doch die Deportation der renitenten Arbeiterfamilien an. Dies ging allerdings nicht geräuschlos von sich, denn Friedrich Adler und der Sozialistischen Arbeiterinternationale gelang es, die Geschehnisse in Molinella ins Rampenlicht der internationalen Öffentlichkeit zu rücken und das Regime zu diskreditieren. Manuel Mork zeichnet diese Geschichte von Resistenz, Repression und Solidarität auf breiter Quellenbasis nach und knüpft an den Fall Molinella Überlegungen zum Charakter der faschistischen Diktatur.
I. Der Fall Molinella
„Das internationale Proletariat darf die Schandtaten unserer Feinde und das Heldentum eines epischen Widerstands nicht ignorieren. Die internationale Solidarität darf nicht ausbleiben. In unserem Kampf gibt es keine unabhängigen, isolierten Zuschauer: ‚Einer für alle, alle für einen‘, das muss der Marschbefehl der Sozialisten sein.“[1] Mit diesem dramatischen Appell schloss der italienische Sozialistenführer Pietro Nenni eine Abhandlung, mit der er angesichts der faschistischen Gewalt im Juni 1926 die internationale Arbeiterbewegung aufrütteln wollte. In der Tat führten Nennis emphatische Worte dazu, dass der Sekretär der Sozialistischen Arbeiterinternationale (SAI), Friedrich Adler, einige Wochen später damit begann, zur Unterstützung der italienischen Sozialisten eine geheime Aktion in Benito Mussolinis Italien zu organisieren: Der Österreicher ersuchte zunächst eine Reihe von Spitzenfunktionären der europäischen Arbeiterbewegung eindringlich um Unterstützung seines Plans, da es sich um eine Situation handele, in der „man alle Kraefte anspannen“ müsse.[2] Per Brief und Telegramm wurde wenig später der Albergo Roma in Bologna als konspirativer Treffpunkt für Sozialisten aus verschiedenen Nationen verabredet.[3] Allem Anschein nach sollte das marxistische Theorem der „proletarischen Solidarität“ einer praktischen Feuerprobe unterworfen werden. Aber was war im Sommer 1926 geschehen, das Nenni zu einem Appell trieb, der auf entschlossene Handlungsbereitschaft in den Reihen der internationalen Arbeiterbewegung traf?
Als Nennis Schreiben das Sekretariat der Internationale in Zürich erreichte, stand in Italien ein einschneidendes Ereignis kurz bevor, das die Etablierung der faschistischen Diktatur zu einem vorläufigen Abschluss bringen sollte: Nach einem Attentat auf Ministerpräsident Mussolini im Zentrum Bolognas am 31. Oktober 1926 beseitigte das Regime die Handlungsmöglichkeiten legaler Opposition endgültig und setzte einen Meilenstein auf dem Weg zum Stato totalitario.[4] Nennis energische Intervention bei der SAI hatte jedoch weniger mit diesen Ereignissen auf der großen politischen Bühne als mit Geschehnissen zu tun, die wenige Wochen zuvor in Molinella ihren Lauf genommen hatten. Die italienischen Sozialisten berichteten ihren Genossen in Zürich, die faschistischen Behörden seien dabei, aus der unscheinbaren Kleinstadt bei Bologna rund 250 Arbeiterfamilien zu deportieren, deren Widerstand gegen den Faschismus auch vier Jahre nach dem „Marsch auf Rom“ ungebrochen sei.[5] Damit zog das Städtchen, das wohl kaum mehr als 15.000 Einwohner zählte, internationale Aufmerksamkeit auf sich.
Im Folgenden geht es vor allem darum, den Fall Molinella zu rekonstruieren sowie seinen Kontext und seine Konsequenzen zu erörtern.[6] Dabei stellt sich zunächst die Frage, was hinter dem von Nenni beschworenen „epischen“ Widerstand der Landarbeiter steckte: Welche Vorgeschichte hatten die Deportationen und wie kam es dazu, dass die faschistischen Behörden gerade in diesem scheinbar bedeutungslosen Städtchen ein Exempel statuierten? Es gilt dabei zunächst, die Besonderheiten der lokalen Opposition herauszuarbeiten, die von einem bemerkenswerten, vielleicht sogar einzigartigen Durchhaltvermögen geprägt war, bevor der Ablauf der Deportationen geschildert wird. Waren die faschistischen Amtsträger tatsächlich bereit, hunderte Familien zu deportieren? Und wenn ja, wer war dafür verantwortlich und welche Absichten verfolgten die faschistischen Akteure? In einem dritten Schritt soll die von Adler geplante Intervention untersucht werden, um an einem prägnanten Beispiel die Tätigkeit der SAI, die transnationale Vernetzung der Arbeiterbewegung in der Zwischenkriegszeit und den zeitgenössischen Umgang mit dem italienischen Faschismus zu skizzieren.[7] Inwieweit gelang es einer zwischenstaatlichen Organisation wie der SAI in den 1920er Jahren tatsächlich, auf nationale Geschehnisse einzuwirken? Abschließend ist unter Einbeziehung der neuesten Forschung danach zu fragen, was der Fall Molinella über die Beschaffenheit des faschistischen Regimes auszusagen vermag.
Die Zwangsumsiedlungen von Arbeiterfamilien in Molinella sind in der Forschungsliteratur zwar häufig erwähnt, jedoch nie ausführlich und quellengestützt beschrieben worden. Die umfassendsten Darstellungen finden sich in lokalgeschichtlichen Studien, denen jedoch häufig Quellennachweise fehlen.[8] Auch größer angelegte Untersuchungen zum italienischen Faschismus erwähnen die Deportationen,[9] gehen aber über Nennis Informationen an die SAI kaum hinaus.[10] Eine gewisse Uneinigkeit herrscht bezüglich der Frage, ob die Zwangsumsiedlungen in der Geschichte des italienischen Faschismus einzigartig waren: Während Michael Ebner den Vergleich zwischen Molinella und den Arbeiterbezirken Oltretorrente in Parma und San Lorenzo in Rom zog, sprach Marco Poli von einer beispiellosen „politischen Massensäuberung“.[11] Das Engagement des SAI und ihres Sekretärs Friedrich Adler ist der Forschung bisher gänzlich verborgen geblieben. Dafür wurden Historikerinnen und Historiker nicht müde zu betonen, dass die Geschichte Molinellas ein „einmaliges Beispiel [des Widerstands] nicht nur in der Provinz, sondern in ganz Italien“ darstelle.[12] Auch Adrian Lyttelton sprach von der „heroischen Beharrlichkeit“ der Arbeiter Molinellas.[13] Wie aber war es dazu gekommen?
II. Arbeiterhochburg in der Po-Ebene
Im Spätsommer 1922 befanden sich weite Teile Italiens in einem regelrechten Kriegszustand: Die faschistische Gewaltkampagne, die darauf abzielte, die Strukturen der italienischen Arbeiterbewegung zu zerschlagen, hatte ihren Höhepunkt erreicht. Die Fasci di combattimento, schwarz gekleidete, paramilitärische Kampfbünde, tyrannisierten die Repräsentanten der politischen Linken, verwüsteten Redaktionsbüros und Gewerkschaftshäuser und schreckten auch vor Mord nicht zurück. Auf dem Weg Mussolinis an die Macht trugen die Faschisten zwischen 1919 und 1922 den politischen Kampf von Ortschaft zu Ortschaft.[14] Molinella, das den Schwarzhemden als besonders hartnäckige Hochburg des Reformsozialismus galt, wurde im September 1922 im wahrsten Sinne des Wortes belagert. Eine Invasion blieb zunächst nur deshalb aus, weil die Staatsmacht den Einmarsch auswärtiger Milizionäre verhinderte.[15] Bald darauf gingen die Faschisten allerdings zu einer Generaloffensive über und stürmten alle Einrichtungen, die bis dato unter roter Flagge gestanden hatten.[16] Doch in Molinella bewirkte die Zerschlagung der gewachsenen kommunalen Strukturen nicht das Ende der Opposition gegen den Faschismus; die Kleinstadt blieb als rote Insel auf der politischen Landkarte Italiens bis zur Mitte der 1920er Jahre sichtbar.
Molinella, etwa 35 Kilometer nordöstlich von Bologna in der Po-Ebene gelegen, lebte von der Landwirtschaft. Viele Einwohner verdingten sich als Tagelöhner, arbeiteten während der Saison auf den ausgedehnten Reis- und Getreidefeldern[17] – und waren zumeist bitterarm. Es grassierten Malaria und andere Krankheiten, die Lebenserwartung war niedrig, die Analphabetenrate dagegen hoch, Hunger gehörte zum Alltag.[18] Unter diesen Bedingungen entstanden unter den Arbeitern bereits sehr früh Organisationen der Selbsthilfe, die ab den 1890er Jahren vom unangefochtenen Arbeiterführer Molinellas, dem Sozialisten Giuseppe Massarenti, in straff gegliederte Gewerkschaften umgewandelt wurden.[19] Derartig organisiert gelang es den Arbeitern, das Städtchen zu einer Art nationalem Vorreiter auf dem Gebiet sozialpolitischer Errungenschaften zu machen.
Spektakuläre Protestaktionen machten die Kleinstadt immer wieder landesweit bekannt. Kern der Auseinandersetzung war fast immer die Frage nach der Vermittlung von Arbeitskräften: Besonders früh verfügte die sozialistische Gewerkschaft in Molinella über ein eigenes Arbeitsamt – für die Arbeiter jahrzehntelang das zentrale Instrument, um den Gutsbesitzern die Entscheidungsgewalt über Einstellung und Entlassung zu entreißen und einheitliche Arbeitsbedingungen herzustellen.[20] Als es 1897 in ganz Italien zu Arbeiterprotesten kam, waren es die Sozialisten in Molinella – und hier insbesondere die Lohnarbeiterinnen –, die die größten Zugeständnisse erkämpften.[21] Beinahe jedes Jahr forderten die Sozialisten in Molinella erfolgreich zu Streiks auf und riefen so immer wieder das Militär auf den Plan. Ein Echo in der überregionalen Presse blieb nicht aus.[22] Sogar Premierminister Giovanni Giolitti sah sich mehrfach gezwungen, direkt einzugreifen, um die Eskalation des Klassenkampfs in Molinella zu verhindern.[23] Als es im Herbst 1914 zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Gewerkschaftsmitgliedern aus Molinella und auswärtigen Arbeitern kam, marschierte das Militär mit 3.000 Soldaten in die Stadt ein. Die lokalen Arbeiterführer mussten entweder fliehen oder wurden verbannt.[24]
Obwohl Massarenti offiziell dem gemäßigten Sozialismus Filippo Turatis verpflichtet war, kämpften die sozialistischen Bünde Molinellas mit harten Bandagen.[25] Die Gewerkschaftsführer und ihre Anhänger schreckten vor öffentlicher Ächtung einzelner Gutsbesitzer und der Vernichtung ihrer Ernte genauso wenig zurück wie vor handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden.[26] Der Erfolg der Landarbeiter um ihren Anführer Massarenti war unübersehbar, und so gewann ihre politische Strategie bald Modellcharakter für weite Teile der Arbeiterbewegung in der Region.[27] Vor allem war es den Sozialisten Molinellas gelungen, die divergierenden Interessen der Kleinpächter und Tagelöhner auf einen Nenner zu bringen und so eine geschlossene Front der Feldarbeiter zu bilden. Dieser spektakuläre Erfolg ließ sich in anderen Teilen der Po-Ebene erst Jahre später wiederholen.[28] Im Sommer 1919 erzielte die Arbeiterschaft von Molinella dann ihren vielleicht größten Triumph: Nach einem großangelegten Streik gaben die Großagrarier den seit Jahrzehnten erhobenen Forderungen der Sozialisten nach einem Achtstundentag und individuellen Arbeitsverträgen vollumfänglich nach.[29] Bei der anschließenden Parlamentswahl im November 1919 kam der Partito Socialista Italiano (PSI) in Molinella auf kolossale 94 Prozent der Stimmen, während sich die Partei in der Provinz Bologna mit „nur“ 68 Prozent zufriedengeben musste.[30] Wenn Bologna die sozialistische Hochburg Italiens war, dann konnte Molinella als ihr Bergfried gelten.
Als Erklärung für die Sonderstellung Molinellas dient immer wieder die Rolle Giuseppe Massarentis. Dieser baute ein System von Kooperativen auf, das ausgedehnte Ländereien umfasste, in verschiedenen produzierenden Gewerben tätig war und dessen Vermögen erfolgreich zur Unterstützung des Gewerkschaftskampfs eingesetzt wurde.[31] Da Massarenti zudem ab 1906 Bürgermeister war, verschmolzen „Kooperative, Gewerkschaft und Kommune im Dienste der Arbeiter zu einer Sache“.[32] Ein führender Sozialist aus Ravenna beschrieb Massarenti als „Apostel und Visionär“. In der Region „wagte es niemand, sich ihm zu widersetzen. [...] Disziplin und Eintracht; dies zusammen ermöglichte das ‚Wunder‘ des Widerstands in diesem Zentrum.“[33] Während die italienische Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg andernorts erbitterte Grabenkämpfe ausfocht, blieben die Arbeiter von Molinella beinahe geschlossen dem Reformsozialismus Massarentis treu.[34] Als die Faschisten ihre Gewaltkampagne lostraten, stießen sie in Molinella somit auf eine geschlossene Abwehrfront.
Die zunehmende Radikalität der italienischen Arbeiterbewegung hatte die Großgrundbesitzer Norditaliens seit 1920 verstärkt dazu bewogen, Mussolinis Kampfbünde materiell zu unterstützen und so entscheidend zu ihrer Machtübernahme auf lokaler Ebene beigetragen.[35] Dieser Koalition aus alten Eliten und faschistischen Milizen fiel auch die Provinz Bologna erstaunlich schnell zum Opfer.[36] Molinella und Massarenti wurden damit zwangsläufig zur bevorzugten Zielscheibe für Angriffe aller Art.[37] Trotzdem scheiterten die Faschisten gerade hier an ihrem Vorhaben, die sozialistische Opposition dauerhaft auszuschalten.[38]
III. Eine letzte Bastion gegen den Faschismus: Arbeiterprotest in Molinella
Spätestens mit der Ernennung Mussolinis zum Regierungschef im Oktober 1922 begann für die sozialistischen Landarbeiter Molinellas ein regelrechtes Martyrium. Arbeiter und ihre politischen Repräsentanten wurden systematisch überfallen, entführt und vereinzelt sogar ermordet. Bezeichnenderweise enthalten zwei der frühesten und bedeutendsten Dokumentationen zur faschistischen Gewalt jeweils ein separates Kapitel, das explizit den brutalen Übergriffen auf die Arbeiter von Molinella gewidmet ist.[39] Dabei waren die Schwarzhemden um ihren berüchtigten Anführer Augusto Regazzi primär darum bemüht, die irriducibili, also die „Unbeugsamen“, zum Übertritt in das faschistische Syndikat zu zwingen.[40] Obwohl die Wahl der Gewerkschaft den Arbeitern formell weiterhin frei stand, wurde die Mitgliedschaft in den sozialistischen Bünden bald zu einem Akt der „Resistenz“.[41] Die Kooperative sah sich wiederholten Angriffen durch die Kampfbünde ausgesetzt und wurde dabei mehrfach völlig verwüstet.[42] Viele Gewerkschaftsführer mussten Molinella aus Angst um ihr Leben verlassen.[43] Schließlich wurde vonseiten des Präfekten in Bologna ein Regierungskommissar eingesetzt, der das millionenschwere Vermögen der Kooperative beschlagnahmte, Ländereien und Gerätschaften zu Geld machte und die dazugehörigen Kindergärten ebenso schloss wie die Arbeiterbibliothek.[44] Damit war kaum etwas von dem geblieben, was sich die Arbeiterschaft in Jahrzehnten erkämpft hatte.[45]
Dennoch blieb ein harter Kern der Landarbeiter Molinellas dem Sozialismus treu.[46] So berichtete die britische Journalistin Lina Waterfield, die den Ort 1923 besuchte, Arbeiterinnen hätten ihr mit Blick auf Massarenti mitgeteilt: „Wenn Ihr ihn seht, sagt ihm von unserer Seite: Sagt ihm, dass ihn das Proletariat niemals, niemals im Stich lassen wird; sagt ihm, dass wir eher das Gras der Straße essen werden, als dem faschistischen Syndikat beizutreten.“[47] Dass es sich dabei nicht um bloßes Pathos handelte, zeigen die Akten der staatlichen Behörden, die – unter faschistischer Kontrolle – Arbeitslosigkeit als wirksame Waffe einsetzten.[48] Sobald die Monopolstellung der sozialistischen Bünde gebrochen war, wurden die Gutsbesitzer von den Faschisten stetig dazu angehalten, unter keinen Umständen mehr sozialistische Arbeiter einzustellen. Systematisch wurden zudem auswärtige Landarbeiter der sogenannten schwarzen Syndikate in die roten Hochburgen eingeschleust.[49] Den renitenten Arbeitern, die ohnehin wenig besaßen, drohten nun Hunger und Elend. Besonders den Sozialistinnen blieb nichts anderes, als sich ein bescheidenes Auskommen über die Nachlese auf den abgeernteten Feldern zu sichern. Doch die Faschisten werteten auch die spigolatura als Akt des Widerstands, so dass die Milizionäre dazu übergingen, in den Kornfeldern zu patrouillieren und Frauen festzunehmen, die liegen gebliebene Ähren sammelten.[50] Die Schwarzhemden, so der zuständige Kommandant der Carabinieri, waren darauf aus, den „Gegnern [...] eine Ressource zu nehmen, die den Widerstand verlängern könnte“.[51]
Die Frauen Molinellas, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg als „heldenhafte“ Figuren des Klassenkampfs gegolten hatten, wurden in Abwesenheit vieler Männer – aufgrund von Exil, Verbannung oder Haft – zu einer tragenden Säule des Protests.[52] Noch im August 1925 berichtete der Präfekt von Bologna, Arturo Bocchini, von einer „Demonstration klar politischen Charakters“, zu der sich „viele, bekanntermaßen subversive Frauen“ eingefunden hätten.[53] Als die sozialistische Gewerkschaft Confederazione Generale di Lavoro (CGdL) im September 1926 zu einer Spendenaktion für die Arbeiter von Molinella aufrief, geschah dies mit deutlichen Worten: Die „verbliebenen confederali“ repräsentierten „den Arbeiterprotest; die Frauen, die Kinder, die Alten, die Familien“ der Gesinnungsgenossen hätten „die tägliche Erniedrigung durch die Peiniger“ zu erdulden. „Das alte Dilemma, sich beugen oder keine Arbeit haben“, steigere sich „bis hin zur Abscheulichkeit“.[54]
Das Exempel der rund tausend Arbeiterinnen und Arbeiter, die auch 1926 noch nicht klein beigegeben hatten,[55] veranlasste Sympathisanten zu überschwänglichen Formulierungen: Das proletarische Molinella repräsentiere „den besten Teil der Geschichte“ der italienischen Gewerkschaften, hieß es am Ende des Spendenaufrufs der CGdL.[56] Offenkundig hatte die Kleinstadt für die Reste der sozialistischen Opposition Symbolcharakter erlangt, und das entging auch den faschistischen Amtsträgern nicht. Bereits im Dezember 1922 war die Führung des Partito Nazionale Fascista (PNF) gewarnt worden, Molinella sei eine „konstante Gefahr“ für die „politische und gewerkschaftliche Bewegung“ im Zeichen Mussolinis.[57]
Die Arbeiter von Molinella wurden so zum nationalen Politikum,[58] zumal sie immer wieder vielbeachtete öffentliche Protestaktionen organisierten. Wie diverse italienische Zeitungen im Frühjahr 1923 berichteten, waren Mussolini in Rom 3.600 Unterschriften von Arbeitern aus Molinella überreicht worden, welche die Rückgabe der Kooperative forderten.[59] In der Folge kam es zu weiteren derartigen Aktionen: Am 4. Dezember 1923 veröffentlichte die sozialistische Parteizeitung La Giustizia auf zwei Seiten eine Liste mit 2.384 Namen von Arbeitern Molinellas, gesammelt zu Ehren des reformsozialistischen Parteiführers Filippo Turati.[60] Kaum ein Jahr später wurde berichtet, dass sich in den Sümpfen um Molinella mehrere Hundert Landarbeiter versammelt hätten, um eine schriftliche Forderung nach politischer Freiheit zu verfassen.[61] Wer sich an solchen Aktionen beteiligte, musste mit Konsequenzen für Leib und Leben rechnen, zumal die Faschisten ihre politischen Gegner meist persönlich kannten.[62]
Da die italienischen Sozialisten mit Blick auf Molinella keinen Superlativ scheuten, erlangte das Städtchen auch über die Landesgrenzen hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad. Auf dem zweiten Kongress der SAI in Marseille erklärte der ehemalige britische Innenminister Arthur Henderson unter „stürmischem Beifall“, es gebe in Italien „Tausende namenloser Arbeiter – wie die Helden und Heldinnen von Molinella – die unerhörte Verfolgungen und Gewalttaten erdulden und dennoch der Sache der Freiheit treu bleiben“.[63] Wenige Monate später sprach der Sekretär der SAI, Friedrich Adler, in Linz von einer „tiefen Sympathie“, welche „die tapferen Landarbeiter von Molinella in der gesamten italienischen Arbeiterschaft gefunden“ hätten.[64] Ungewollt löste Adler damit Protest vonseiten des Partito Socialista Italiano aus, der nicht Teil der Sozialistischen Arbeiterinternationale war: Die „gefolterten Heroen von Molinella“, die allein ausreichten, um alle Schwächen der internationalen Arbeiterbewegung „wiedergutzumachen“, hätten ihre „Hartnäckigkeit an der Quelle des italienischen Sozialismus geschöpft“, nämlich beim PSI. Adler, so die italienisch-russische Sozialistin Angelica Balabanoff, habe kein Recht, sich auf die Arbeiter des Ortes zu beziehen.[65] Dabei ignorierte sie freilich die Tatsache, dass sich die Sozialisten in Molinella – wie auch die SAI – dem Reformsozialismus zugehörig fühlten.
Die Protestaktionen und ihre weitreichende Resonanz riefen die Behörden des faschistischen Regimes auf den Plan. Sie verboten die gewerkschaftlichen Organisationen, welche die Arbeiter Molinellas stets aufs Neue gründeten; mit dem letzten einer Reihe von Dekreten löste der Präfekt im Juni 1926 das erst kurz zuvor entstandene „Freie Syndikat der Arbeiter von Molinella“ auf. Interessanterweise begründete er sein Vorgehen mit der aufrührerischen Wirkung, die die Existenz einer derartigen Organisation auf die lokalen Faschisten habe. „Eine ernste Gefahr für die öffentliche Ordnung“ bestehe, denn das Fortleben eines sozialistischen Syndikats könne die Schwarzemden zu ungehemmten Gewalttaten animieren.[66] Einigermaßen unverblümt brachte der Präfekt hier zum Ausdruck, dass sich Repressionsmaßnahmen oft aus dem Wechselspiel zwischen dem PNF und dem Behördenapparat ergaben. Die Zusammenarbeit zwischen Carabinieri und Squadristi konnte zum Beispiel bedeuten, dass auf willkürliche Übergriffe der Schwarzhemden eine offizielle Untersuchung durch die Sicherheitsorgane folgte – zum Nachteil der Geschädigten, wie sich gemäß der Logik des Regimes versteht.[67]
Protagonist der Gewaltkampagne war Augusto Regazzi, der 1919 die faschistische Partei in Molinella gegründet hatte.[68] In einem Schreiben an Mussolini schilderte Regazzi später, dass er sich anfangs „an der Spitze von neun Kameraden gegen eine Kolonne von Tausenden Gegnern“ geworfen habe, um „seine Leidenschaft, seinen Traum“ vom Triumph des Faschismus zu verwirklichen.[69] Dieser Selbstdarstellung zum Trotz lässt die Aktenlage keinen Zweifel daran, dass es in Molinella nicht anders zuging als in anderen Teilen Italiens; es waren die Faschisten, die systematisch auf Gewalt und Terror setzten.[70] Im Sommer 1923 kam bei einer der sogenannten Strafexpeditionen, die Regazzis Männer gegen die Landarbeiter unternahmen, ein junger Tagelöhner ums Leben. Die Präfektur in Bologna setzte sich jedoch mit Erfolg dafür ein, eine effektive Aufklärung des Falls zu verhindern, war sie doch davon überzeugt, dass der Lokaldespot für die politische Kontrolle über Molinella unverzichtbar sei: „Unter diesen Bedingungen“, hieß es in einem Bericht an den Innenminister vom Juni 1924, „würde die Vollstreckung des Haftbefehls gegen Regazzi, der aktuell als einzige Person dazu fähig ist, die unerlässliche Disziplin in den fasci und den Syndikaten zu erhalten [...], auf unabänderliche Weise das Leben dieser Organisationen kompromittieren“.[71] Letztlich ordnete das Innenministerium in Rom an, keine „exzessiven Sanktionen“ gegen Regazzi zu erlassen,[72] so dass der „Faschistenhäuptling“ von Molinella bis 1928 an der Macht blieb.[73]
Ungeachtet aller Repression war der Widerstand in Molinella noch immer lebendig. Als die Präfektur Bolognas im September 1926 einen Bericht über die Sicherheitslage in der Provinz nach Rom schickte, hieß es dort, die Reformsozialisten verfügten „über beachtliche Kräfte, mehr als tausend männliche und weibliche Personen in der Kommune Molinella“. Außer in Molinella, wo der Widerstand weiterhin „hartnäckig“ sei, könne die Partei im ehemaligen Kernland des italienischen Sozialismus keinerlei Tätigkeit mehr verzeichnen.[74] Allerdings gelang es von Molinella aus, antifaschistische Propaganda in umliegende Städte und Gemeinden zu tragen.[75] Kein Wunder, dass man sich aufseiten des Regimes dazu entschloss, diese auch überregional bekannte Bastion des Widerstands endgültig zu schleifen. Das Instrument, das dabei zum Einsatz kam, hatte wegen seiner Radikalität in diesen Jahren Seltenheitswert: die Deportation ganzer Familien.
IV. Die Deportation der Arbeiterfamilien
Der Plan, die Arbeiterfamilien Molinellas mit Gewalt umzusiedeln, ging von Augusto Regazzi aus.[76] Am 6. Mai 1926 lud der Parteisekretär die Großagrarier der Region zum Gespräch und forderte sie auf, allen Wohnungsmietern zu kündigen, die weiterhin der linken Gewerkschaft angehörten. Solche Kündigungen waren ein altbewährtes Kampfmittel der Großgrundbesitzer, dessen Einsatz nach der Machtübernahme Mussolinis noch einmal verstärkt worden war.[77] Doch der Plan, den die Faschisten im Jahre 1926 schmiedeten, besaß eine neue Qualität. In seiner Rede gab Regazzi unmissverständlich zu verstehen, dass die Arbeiter nicht nur ihre Wohnungen, sondern auch Molinella verlassen sollten:
„Da es nötig ist, sich darum zu kümmern, längerfristig faschistische Arbeiter aus anderen Ortschaften nach Molinella zu bringen, muss man zudem, um für diese Platz zu schaffen, den nicht-faschistischen Mietern kündigen und diese zur Abwanderung zwingen. Wegen der Zwangsräumungen seid nicht besorgt [...], im passenden Moment werde ich für geeignete Lastwagen sorgen.“[78]
Im August 1926 ging bei der Provinzverwaltung in Bologna ein Bericht des zuständigen Kommandanten der Carabinieri ein, in dem weitere Einzelheiten referiert wurden. Wie der Offizier berichtete, habe der fascio „eine Maßnahme von großer Tragweite ersonnen [...]: die massenhafte Zwangsausweisung der Subversiven aus ihren Wohnungen“. Die Großgrundbesitzer hätten sich allerdings gegen diese Maßnahme ausgesprochen, da „es ihnen im Grund genommen leidtut, diese guten Arbeitskräfte zu verlieren“.[79] Trotzdem erhob der Kommandant gegen die geplanten Maßnahmen keine grundsätzlichen Einwände; er empfahl den Beamten der Präfektur vielmehr, die Umsiedlungen nicht Regazzis Schwarzhemden zu überlassen, sondern die staatlichen Behörden damit zu betrauen. Es sei „notwendig, dass die Betroffenen sofort das deutliche und klare Gefühl haben, dass die Räumungen auf legale Weise, rigide und ohne Ausnahmen ausgeführt werden“. Der Bericht schloss mit der Bemerkung, „dass die massenhaften Räumungen nur das Ziel haben, den letzten subversiven und offenen Widerstand dazu zu zwingen, [...] nachzugeben oder zu verschwinden“.[80] Mit dieser Einschätzung zeigten sich die Verantwortlichen in Bologna und Rom offenbar einverstanden: Auf Anfrage des Präfekten von Bologna entsandte das römische Innenministerium im September 1926 120 Carabinieri und Sicherheitsbeamte aus verschiedenen Provinzen nach Molinella, um die Arbeiterfamilien Hand in Hand mit den Faschisten um Augusto Regazzi aus ihren Häusern zu vertreiben und nach Bologna zu transportieren.[81]
„Wir befinden uns hier im vollen Kriegszustand. Wachen in Zivil und Carabinieri drehen Runden und durchsuchen Haus für Haus und nehmen so viele Männer fest, wie sich nur finden lassen, ohne dabei auf ihren Zustand oder ihr Alter Rücksicht zu nehmen. [...] Zehn Familien werden morgen früh zwangsausgewiesen, mit ihren Habseligkeiten auf Lastwagen der Artillerie geladen und dann nach Bologna [...] gebracht.“
Mit diesen Worten berichtete ein anonymer Vertrauensmann den „lieben Genossen“ der CGdL am 30. September 1926, wie es in Molinella zuging.[82] Dem Beobachter – die Polizei vermutete, es handelte sich um einen ortskundigen Sozialisten – gelang es vier Tage lang, die Zwangsräumungen anschaulich zu schildern. Die Gewerkschaft in Mailand verbreitete dann die Nachrichten aus Molinella in ganz Italien.[83] So schrieb der Gewährsmann, der Polizeichef habe den betroffenen Familien mitgeteilt, worum es den Behörden im Kern gehe. Er zitierte ihn mit den Worten: „Hier in Molinella könnt ihr nicht bleiben, wenn ihr euch nicht in die faschistischen Syndikate einschreibt.“ Damit blieb nur die Wahl zwischen öffentlicher Kapitulation oder Deportation.[84] Am Tag darauf begannen die Carabinieri zusammen mit einer „Truppe von faschistischen Rüpeln“ mit den Zwangsräumungen und transportierten die Familien auf Militärlastwagen nach Bologna. Wenn man dem anonymen Vertrauensmann Glauben schenken darf, führte das Kommando Augusto Regazzi und nicht ein Vertreter der Präfektur. In seinem Bericht schrieb er weiter, dass man die Familien nach ihrer Ankunft in Bologna bis auf Weiteres in einer eigens für diesen Zweck bereitgestellten Kaserne festhielt. Vor allem der Widerstand der Frauen sei „wirklich bewundernswert“, die wie Alte und Kinder besonders von den Zwangsmaßnahmen betroffen seien, da die meisten Männer Molinella rechtzeitig verlassen hätten und nun in den umliegenden Sümpfen ausharrten. Um Flucht und Rückkehr zu verhindern, hätten Sicherheitskräfte die Ortschaft hermetisch abgeriegelt.[85]
Aus dem Schriftgut der Behörden ergibt sich ein ganz ähnliches Bild. Der Präfekt von Bologna, Raffaele De Vita, hielt das Innenministerium in Rom telegrafisch über die Lage in Molinella auf dem Laufenden. Am 25. September hatte er mitgeteilt, Regazzis Männer hätten damit gedroht, eigenmächtig loszuschlagen, sollten sich die Behörden nicht zum Handeln entschließen.[86] Wie so oft diente der Druck lokaler faschistischer Kräfte als Legitimation für Repressionsmaßnahmen staatlicher Instanzen. Zwei Tage später telegrafierte De Vita, er habe angeordnet, die Kaserne SantʼIsaia in Bologna als Übergangsbehausung für die Familien freizumachen. Für den Transport, die Unterbringung und die Verpflegung der Betroffenen in den ersten Tagen nach der Ankunft in Bologna erbat der Präfekt eine Summe von 150.000 Lire.[87] Zuvor hatte De Vita beim Innenministerium in Rom bereits Verstärkung angefordert, um die „öffentliche Ordnung“ während der Zwangsräumungen aufrechterhalten zu können.[88] Damit war das Innenministerium direkt in die Maßnahmen eingebunden.[89]
Präfektur und Innenministerium strebten einen geordneten Ablauf der Aktion an. Dadurch versuchten die Behörden wohl in erster Linie, einer kritischen Berichterstattung möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten.[90] Am 1. Oktober meldete der Präfekt, die ersten Zwangsräumungen seien „ohne jeglichen Vorfall“ abgelaufen, wobei bisher hauptsächlich Frauen „eingewiesen“ worden seien. Zwei Tage später ging in Rom eine Beschwerde über die Berichterstattung des faschistischen Zentralorgans Il Popolo d’Italia ein, habe die Zeitung doch den Eindruck erweckt, als leiste die Provinzverwaltung den Befehlen Augusto Regazzis Folge.[91] In der Tat hatte Il Popolo d’Italia Regazzis Rolle bei den Zwangsräumungen erwähnt und überdies erklärt, man könne mit einer Gruppe von „bösartigen und perfiden Gegnern“, ja faulen Arbeitsverweigerern „höflicher“ nicht umgehen.[92]
Inzwischen konnte man im Bericht des anonymen Vertrauensmanns vom 2. Oktober lesen, dass in Bologna Ausgaben der Zeitungen L’Unità und La Voce Repubblicana wegen ihrer Artikel zu Molinella beschlagnahmt worden seien.[93] Mussolinis Polizeichef in Rom, Arturo Bocchini, bis 1925 als Präfekt in Bologna federführend bei Repressionsmaßnahmen in Molinella, versandte binnen weniger Tage drei Telegramme, in denen er anordnete, jegliche Berichterstattung über die Geschehnisse in Molinella strikt zu unterbinden.[94] Am 4. Oktober meldete die Präfektur, dass „bisher kein Korrespondent der ausländischen Zeitungen wie auch der italienischen Zeitungen Molinella erreicht“ habe. Durch die Überwachung des Briefverkehrs wolle man die Übermittlung „falscher und tendenziöser Nachrichten“ verhindern.[95] Der Wunsch der Behörden nach Geheimhaltung sollte jedoch unerfüllt bleiben.
Die Deportationen waren bereits im vollen Gange, als zwischen den Beamten in Bologna und Rom und Parteisekretär Regazzi ein grundlegender Interessengegensatz aufbrach: Präfekt De Vita meldete dem Innenministerium, Regazzi habe es einigen Familien untersagt, zum faschistischen Syndikat überzutreten und so ihren Verbleib in Molinella verhindert. Der Parteichef der Provinz, Leandro Arpinati, ordnete daraufhin an, dass eine derartige „Selektion eine absolute Ausnahme“ bleiben müsse.[96] Regazzi war hingegen keinesfalls bereit, ein „Umdenken“ der Arbeiter in letzter Sekunde zu akzeptieren, und lehnte es auch nach Arpinatis Intervention ab, bestimmte Familien in die faschistischen Gewerkschaften aufzunehmen.[97] Die unnachgiebige Haltung des Squadristenführers, in der wahrscheinlich auch persönliche Rachegefühle nach langen Jahren des politischen Konflikts zum Ausdruck kamen, kollidierte hier mit den Interessen der überregionalen Verwaltung, die einen möglichst konflikt- und problemfreien Ablauf der Maßnahmen wünschte – und mit denen der vorgesetzten Parteidienststellen, denen auch an propagandistischen Erfolgen gelegen war.
Den Arbeiterfamilien von Molinella nutzten diese Unstimmigkeiten im faschistischen Machtapparat wenig. Am 7. Oktober zog die Präfektur Zwischenbilanz: Eine „erste Liste“ sei bereits abgearbeitet. Insgesamt habe man bisher 74 Personen in die Bologneser Kaserne transportiert, einige wenige hätten sich zum faschistischen Syndikat bekannt und seien in Molinella geblieben.[98] Fortgesetzt werde die Suche nach den männlichen „Familienoberhäuptern“, die „bisher unauffindbar“ seien.[99] In der Tat wurden im Oktober und November dutzende Arbeiterführer und einfache Landarbeiter aus Molinella festgenommen, wobei viele Aktivisten – unter ihnen Giuseppe Massarenti – zu Verbannungstrafen in Süditalien verurteilt wurden.[100] Seit November 1926 waren hierfür Provinzkommissionen aus Beamten und Parteifunktionären zuständig, die Bürger auf bloßen Verdacht hin und ohne Gerichtsverfahren für Jahre in den confino, also in die Verbannung, schicken konnten.[101]
Anders verhielt es sich mit den deportierten Arbeiterfamilien. Die Verwaltung beabsichtige offensichtlich, die ausgewiesenen Familien so bald wie möglich fest einzuquartieren, was sich im Oktober allerdings noch schwierig gestaltete: „Alle in Bologna eingelieferten Familien weigern sich, anderswo Arbeit anzunehmen oder Angaben über den Aufenthalt ihrer entfernten Verwandten zu machen.“[102] Der passive Widerstand setzte sich also auch jetzt noch fort, und der Präfekt meldete, er gehe von einem „eventuellen Versuch der Rückkehr nach Molinella“ aus, sofern sich keine endgültige Unterbringung für die Familien finden lasse. Gut zwei Wochen nach Beginn der Aktion wurden die ersten Familien aus der Kaserne in Bologna entlassen, nachdem sie eine „formelle Warnung“ hinsichtlich der Rückkehr in ihren Heimatort erhalten hatten. Einige hatten sich in die weit entfernten Orte Ascoli Piceno in den Marken und Cantù in der Nähe des Comer Sees zu begeben, wo die Präfektur über das Patronato Nazionale – ein staatliches Hilfswerk für Arbeiter – eine Beschäftigung für sie gefunden hatte.[103] Präfekt De Vita betrachtete die Suche nach Unterkunft und Arbeit für die Deportierten offenbar als Chefsache,[104] schien dies doch der beste Weg zu sein, ein Wiederaufleben der Proteste oder unliebsame Berichterstattung zu verhindern. Allzu weitreichend scheinen die Initiativen des Präfekten dann aber doch nicht gewesen zu sein: Der Darstellung zweier Zeitzeugen zufolge waren viele Familien nach der Entlassung aus der Kaserne geradezu stigmatisiert und hatten größte Schwierigkeiten, Unterkunft und Arbeit zu finden.[105] Auch ein Blick in die Akten der Politischen Polizei Bolognas zeigt, dass es den betroffenen Arbeitern schwerfiel, sich außerhalb von Molinella eine neue Existenz aufzubauen.[106]
Akribisch arbeitete der Präfekt jedenfalls auf die gezielte Verteilung der Dissidenten hin, um ihre sozialen Netzwerke dauerhaft zu zerstören. Eine zweite Welle von Zwangsausweisungen zog sich durch den ganzen November, so dass Präfekt De Vita Ende des Monats von bisher 180 Personen sprach, die Molinella hätten verlassen müssen und für deren „rigorose Überwachung“ er in Rom nochmals mehr Personal anforderte.[107] Vermutlich war die Ausweisung der widerständigsten Arbeiterfamilien aus Molinella damit bereits weit fortgeschritten, denn in den Archiven finden sich keine Belege für eine dritte Deportationswelle. Die in der Forschungsliteratur häufig kolportierte Zahl von 250 bis 300 betroffenen Familien ist also mit ziemlicher Sicherheit zu hoch gegriffen.[108] Einzig der Historiker Marco Poli ging von 70 Familien aus, verstand die Deportationen des Jahrs 1926 jedoch als Teil eines längeren Prozesses, in dessen Verlauf zwischen 1923 und 1926 insgesamt 300 sozialistische Familien aus Molinella ihre Wohnungen unter Zwang verlassen mussten.[109] Ohne die Kontinuität politisch motivierter Kündigungen in Abrede zu stellen, muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass die organisierte Verschleppung von rund 200 Personen im Herbst 1926 eine deutliche Zuspitzung der Repressionsmaßnahmen darstellte. Es waren dann auch die Deportationen von 1926, die sich als fataler Schlag gegen eine der letzten Hochburgen des Arbeiterwiderstands in Italien erweisen sollten – nicht jedoch ohne einen internationalen Aufschrei auszulösen, für den die Sozialistische Arbeiterinternationale den Anstoß gab.
V. Der Antifaschismus der SAI und die Intervention Friedrich Adlers
Molinella bewegte auch außerhalb Italiens die Gemüter. Auf den Kongressen der SAI, wo sich Delegierte von Parteien aus aller Welt versammelten,[110] war der Widerstand der Landarbeiterinnen und Landarbeiter immer wieder aufgegriffen worden. Gegründet im Mai 1923 in Hamburg, sollte die SAI nach dem Ersten Weltkrieg die internationale Zusammenarbeit der reformistischen sozialistischen Parteien wieder aufleben lassen.[111] Treibende Kraft dieser Wiederannäherung waren die Vertreter des Austromarxismus um Friedrich Adler. So nahm der bekennende Marxist Adler, der 1916 einen Mordanschlag auf den österreichischen Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh verübt hatte und bei Kriegsende amnestiert worden war, maßgeblichen Einfluss auf die Statuten der Internationale. Danach fungierte ein internationaler Kongress als höchste Entscheidungsinstanz, der von Delegierten der Mitgliedsparteien beschickt wurde und alle drei Jahre zusammentreten sollte. Einstimmig gefasste Beschlüsse der Exekutive hatten „in allen internationalen Fragen“ bindenden Charakter, während den einzelnen Parteien in innenpolitischen Angelegenheiten umfassende Autonomie verblieb.[112] Ein Weggefährte Adlers, der Historiker Julius Braunthal, nannte die SAI deshalb eine „Föderation autonomer Parteien“ des demokratischen Sozialismus.[113]
Die Geschichtsschreibung sieht in der SAI vornehmlich ein Forum des transnationalen Austauschs, in dem in der Zwischenkriegszeit drängende Fragen der Friedenssicherung und zwischenstaatlichen Annäherung diskutiert wurden.[114] In den Hintergrund rückte dagegen die Tatsache, dass die SAI nicht nur als Austauschplattform fungierte, sondern dass sie mit dem von Friedrich Adler geleiteten Sekretariat auch über eine Institution verfügte, der dank Adlers Tatendrang wesentlich mehr als nur bürokratische Bedeutung zukam.[115] Im Fall Molinella agierte das Sekretariat weitestgehend eigenständig,[116] so dass sich zunächst die Frage nach der Motivation und nach dem Faschismusverständnis Friedrich Adlers stellt.
Prominente Stimmen in der italienischen Geschichtswissenschaft haben die Bemühungen der SAI im Kampf gegen den italienischen Faschismus dezidiert negativ beurteilt.[117] So kamen Bruno Tobia und Leonardo Rapone zu dem Urteil, die internationalen Kader der SAI hätten den italienischen Faschismus systematisch unterschätzt und als Ausdruck südeuropäischer Rückständigkeit abgetan.[118] Die westeuropäischen Spitzenfunktionäre hätten sich aufgrund des höheren technisch-industriellen Entwicklungsstands ihrer Länder in Sicherheit gewähnt, und dies habe ein entschiedenes Eintreten gegen den Faschismus verhindert.[119] In der Tat finden sich in den Protokollen der SAI-Kongresse Aussagen europäischer Sozialisten, die darauf hindeuten, dass sie den Faschismus als „exzeptionelles und marginales Phänomen“ wahrnahmen.[120]
Und doch: Das sozialistische Faschismusverständnis der 1920er Jahre war keineswegs so einheitlich, wie es Tobia und Rapone glauben machen wollten. Bereits auf dem Gründungskongress der SAI hatte Otto Bauer Italien als das „schlimmste Gefahrenzentrum“ Europas bezeichnet und den Faschismus als globale Gefahr beschrieben: „Wir sprechen davon nicht nur in dem bloßen Gefühl der Solidarität, sondern auch wegen der Bedrohung des Proletariats in der ganzen Welt.“[121] Spätestens mit dem dritten Kongress der SAI, der 1928 in Brüssel stattfand, avancierte der Faschismus zu einem zentralen Gegenstand der Debatte.[122] Die Spitzen der europäischen Arbeiterbewegung bekundeten den italienischen Genossen ihre Solidarität und hoben zugleich das weltweite Gefahrenpotential hervor, das vom Faschismus ausgehe. So beschrieb Louis de Brouckère in seiner Rede das Schicksal der Verbannten auf den italienischen Gefangeneninseln, um dann vor dem Trugschluss zu warnen, dass „diese Schrecken auf Italien oder Rußland beschränkt“ blieben. „Das Übel“, so der belgische Sozialist weiter, „ist leider viel weiter über die ganze Welt verbreitet.“[123]
Der Faschismus wurde im Umfeld der SAI also durchaus als gravierende internationale Bedrohung wahrgenommen. Ein Blick in Friedrich Adlers Korrespondenz der 1920er Jahre zeigt zudem, dass Tobia und Rapone in ihrem Negativurteil ein weiterer Aspekt entgangen ist: Als die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Österreichs im November 1926 auf ihrem Parteitag in Linz ein neues Programm diskutierte, entschied sich Adler vor dem Hintergrund der Deportationen, den „faschistischen Terror“ in Italien und die „tiefe Sympathie [...] in der gesamten Arbeiterbewegung“ für die „tapferen Landarbeiter[...] von Molinella“ ins Zentrum seiner Rede zu stellen.[124] Adler hatte sich schon im Vorfeld des Linzer Parteitags für die italienischen Genossen eingesetzt und seinen alten Weggefährten Otto Bauer aufgefordert, einen Passus aus dem neuen Parteiprogramm zu streichen, der für den Fall von Diktaturbestrebungen des Bürgertums mit einer gewaltsamen Reaktion des Proletariats drohte. Adler kam es dabei darauf an, „nicht die Anhänger Turatis gegenüber den Maximalisten zu desavouieren“.[125] Angesichts der scharfen Kluft zwischen Reform und Revolution, die den italienischen Sozialismus seit Langem durchzog, versuchte Adler mit Hilfe des österreichischen Parteiprogramms, die Reformsozialisten um Filippo Turati in ihrer strategischen Ausrichtung zu bestärken.[126] Ohnehin sei „die Wahrscheinlichkeit [...], dass dieser Passus für Österreich aktuell werden könnte“, gering. Rechte Diktaturbestrebungen, so Adlers Begründung, seien in seinem Heimatland aufgrund der „oekonomischen Notwendigkeiten und der durch sie bedingten geistigen Entwicklungsstufe der Volksmassen“ ohnehin zum Scheitern verurteilt.[127] Hier scheint die von der italienischen Forschung betonte Rückständigkeitsthese durch – das ist jedoch nur die eine Seite der Medaille. Als bekennender Marxist war Adler von einem materialistisch unterlegten Fortschrittsdenken geprägt, und so hielt er italienische Verhältnisse in Mittel- und Westeuropa für unwahrscheinlich.[128] Doch anders als von Rapone und Tobia angenommen, verweigerte Adler den italienischen Sozialisten deswegen keineswegs die praktische Solidarität. Er war im Gegenteil sogar dazu bereit, in ihrem Sinne auf die österreichische Programmdebatte einzuwirken. Otto Bauer hatte dafür jedoch kein Verständnis und beschied seinem Parteifreund: „Wir können das Programm nur für uns machen, nicht für die Italiener.“[129] Doch dies blieb nicht die letzte Intervention Adlers zugunsten der italienischen Sozialisten.
Im Frühjahr 1927 flammte zwischen Adler und dem sozialistischen Literaten George Bernard Shaw eine hitzige Debatte auf, die in ganz Europa Wiederhall finden sollte. Shaw, berühmt geworden durch seine Sozialdramen, für die er 1925 den Literaturnobelpreis erhalten hatte, veröffentlichte nach einer Italienreise im Frühjahr 1927 eine „Verteidigung“ Benito Mussolinis in den britischen Daily News.[130] Offenbar völlig entrüstet über diese Parteinahme eines bekennenden Anhängers der Arbeiterbewegung, schrieb Adler unverzüglich einen Protestbrief an Shaws Adresse in London, in dem er ausführlich darlegte, warum es unabdingbar sei, „aktiv die ‚Tatsache‘ des Terrorregimes zu bekämpfen“.[131] Unter den zahllosen Einwänden, die Adler der Apologie Shaws entgegenhielt, sticht der Vorwurf hervor, der Schriftsteller sei „ernstlich in die bedenkliche Nähe jenes britischen Herrenstandpunktes“ geraten, „für den die eigene Freiheit und deren Behauptung selbstverständlich ist, der es aber für durchaus möglich hält, den natives zuzumuten, die faschistische Unterdrückung faute de mieux zu acceptieren“.[132] Die Anspielung auf das britische Kolonialdenken verdeutlicht, dass es Adler ganz besonders missfiel, die Situation in Italien von einem Standpunkt der zivilisatorischen Überlegenheit aus zu bagatellisieren.
Als Shaw dem Sekretär der SAI Monate später in rechtfertigender Absicht antwortete, holte Adler erneut zum rhetorischen Angriff aus. Der Faschismus werde getragen durch die „skandalöse Unterstützung des ‚zivilisierten‘ Europas“. Dass eine solche ideologische Hilfsstellung nun auch vom sozialistischen Lager ausging, führte Adler dazu, einen seiner Briefe mit bitterer Ironie zu schließen: „In Ihrem Lande wäre es nun üblich zu sagen[,] wie hoch ich Sie schätze, aber als Eingeborener eines weniger zivilisierten Landes verzichte ich darauf.“[133] Der marxistische Fortschrittsoptimismus, der in Adlers Weltanschauung zweifelsohne eine zentrale Stellung einnahm, ging mit einer dezidierten Ablehnung zivilisatorischen Überlegenheitsdenkens einher. Adlers Debatte mit Shaw fand sowohl in der italienischen Presse als auch in dutzenden internationalen Zeitungen Beachtung; mancherorts wurde der Briefwechsel sogar vollständig abgedruckt.[134] Adler erschien dabei als Repräsentant eines resoluten Antifaschismus.[135] Es war diese Haltung, auf deren Grundlage Adler im Fall Molinella zur Tat schritt.
Als der italienische Sozialistenführer Pietro Nenni das Sekretariat der SAI im Juli 1926 über die geplanten Deportationen informierte, war Molinella den Repräsentanten der internationalen Arbeiterbewegung bereits wohlbekannt. Nennis Appell an „die internationale Solidarität“ traf auf offene Ohren.[136] Bald darauf erfuhren die Behörden in Rom und Bologna, dass Nennis Ausführungen unter dem Titel „Martyrdom of the Italian Workers“ in der Zeitschrift der SAI, den Internationalen Informationen, erschienen waren.[137] In den nächsten sechs Wochen gingen bei der SAI in Zürich weitere Meldungen zu Molinella ein. Ein Bericht der CGdL, der Adler vorlag, schloss mit den Worten: „Niemals, in keinem Ort der Welt, wussten Arbeiter Widerstand zu leisten wie sie. Es lebe das Proletariat von Molinella.“[138] Adler konnte sogar Einzelheiten in Erfahrung bringen, denn am 19. September 1926 sah er sich dazu in der Lage, dem Sekretariat des Internationalen Gewerkschaftsbunds (IGB) zu melden, die „Exmittierungen“ würden am 29. September beginnen. Auf diese Information baute er seinen Plan auf: „Der Fall, dass eine faszistische Greultat für einen bestimmten Tag im Voraus angesagt ist und daher öffentlich kontrolliert werden koennte[,] ist so selten, dass ich glaube, man sollte alle Kraefte anspannen und hinreisen.“[139]
In diesen Tagen schlug der Sekretär der SAI an mehreren Orten Alarm. So schrieb er dem IGB in Amsterdam und seinem Vertrauten bei der Labour Party, William Gillies, um zu veranlassen, dass „auswaertige Journalisten für diesen Tag hinzukommen, um Zeugen der Vorgänge zu sein“. Er sei darum „von absolut verlässlicher Seite im Namen der Genossen von Molinella gebeten worden“. Des Weiteren zitierte Adler einen Brief aus Italien, in dem detaillierte Vorschläge bezüglich des weiteren Vorgehens gemacht wurden: „Wenn auch nur ein Auslaender zugegen ist (womoeglich mit einem photographischen Apparat) maessigt man sich“, hieß es darin. Am besten wäre es, fügte Adler hinzu, „dass Journalisten von solchen Nationen kommen, wo keine Passschwierigkeiten bestehen und auch ein gewisser Respekt vor einer diplomatischen Intervention“ zu erwarten sei. Adler leitete das Hilfegesuch aus Italien auch „nach England“ und an Albert Thomas vom Internationalen Arbeitsamt weiter. „Der moralische Eindruck“ einer geglückten Aktion, „nicht nur bei den Genossen in Molinella, die schon so Furchtbares erduldet haben, sondern in ganz Italien und weit darüber hinaus, wird ein großer sein“.[140] Mit einer bemerkenswerten Tatkraft mobilisierte Friedrich Adler also sein internationales Netzwerk.
Der Plan, den Adler in Abstimmung mit Sozialisten in Italien entwarf, nahm im Laufe des Monats September konkretere Formen an: Die auswärtigen Journalisten sollten sich am Morgen des 29. September in Bologna einfinden, um dann von den dortigen Sozialisten mit dem Auto nach Molinella gebracht zu werden. Per Brief und Telegramm bestimmte man wenige Tage vor dem arrangierten Termin den Albergo Roma in Bologna als Treffpunkt, zu dem auch Oda Lerda-Olberg, die Italien-Korrespondentin des Berliner Vorwärts, kommen sollte.[141] Offenbar hatte sich die Journalistin bereit erklärt, die Aktion in Bologna zu koordinieren. Aus Großbritannien erhielt Adler die telegrafische Nachricht, dass sich mit Lorimer Hammond sogar ein Korrespondent der Chicago Tribune in Italien befinde.[142] Am Tag darauf wurden in Molinella die ersten Familien aus ihren Häusern verwiesen und nach Bologna deportiert. Mussolinis Polizeichef Arturo Bocchini informierte unterdessen den Präfekten, dass sich ausländische Korrespondenten in Molinella einfinden würden, und bat darum, die „Übermittlung von falschen und tendenziösen Nachrichten“ zusammen mit den Postbehörden zu unterbinden.[143] Dennoch gelang es Teilen der internationalen Presse, ebenso aktuelle wie ausführliche Artikel über Molinella zu drucken, was Adler und seine Mitstreiter unzweifelhaft als Erfolg verbuchen konnten. So berichtete Lorimer Hammond am 4. Oktober 1926 in der Chicago Tribune:
„On Oct. 1 the deportation of the remaining members of the families – old folks, women and children – began. During the night one company of carabinieri arrived secretly from Bologna, accompanied by 100 police officers in plain clothes. [...] The police herded the old men and women and children, who were handcuffed, into closed vans.“[144]
Der präzise und erstaunlich detailreiche Bericht weist darauf hin, dass der amerikanische Journalist dank der Vermittlung Adlers offenbar nach Bologna oder gar nach Molinella gelangen konnte. Dass dies zumindest der Plan war, zeigt Adlers Korrespondenz mit William Gillies: „Ich hoffe, dass Mr. Laurie Hammond vom Chicago Tribune Molinella sicher erreicht hat“, schrieb Gillies nach Zürich.[145] Adler erwiderte am 7. Oktober: „Mein lieber Gillies, lassen Sie mich Ihnen danken für Ihre Unterstützung, die sehr effektiv gewesen zu sein scheint, in der Molinella Affäre. Wie Sie sehen werden, haben wir in den letzten I[nternationalen] I[nformationen] einen Teil des Daily Herald Berichts platziert.“[146]
Der Daily Herald, der mit ziemlicher Sicherheit einen Korrespondenten vor Ort hatte, widmete den Geschehnissen am 4. Oktober sogar die Schlagzeile der Titelseite: „Fascist Outrage on Women and Children. Taken from Homes in Handcuffs. War of Extermination on Socialist Land Workers. Driven Out to Starve. Men Hiding in Swamps, while Families are herded in Barracks.“[147] Mittlerweile hatte sich die Nachricht in ganz Europa verbreitet. Der Vorwärts schrieb bereits am 27. September, dass das Internationale Arbeitsamt gegen die „Vertreibungen von 250 italienischen Landarbeiterfamilien“ protestiert habe.[148] Einen Tag später folgte ein detaillierter Bericht zu „Mussolinis neuester Heldentat“, deren Einzelheiten der Redaktion vom Sekretariat der SAI übermittelt worden seien.[149] In den folgenden Tagen berichteten zahlreiche weitere Zeitungen über die faschistische Offensive gegen Molinella, so etwa die französischen Blätter Le Siècle (3. Oktober 1926), Le Matin (16. Oktober 1926) und Le Temps (17. Oktober 1926) sowie die deutschen Zeitungen Hamburger Anzeiger (5. Oktober 1926) und Hamburger Nachrichten (19. Oktober 1926).[150]
Mitte Oktober kam es dann zum Eklat im Internationalen Arbeitsamt in Genf, wo man den italienischen Repräsentanten öffentlich mit dem „Skandal von Molinella“ konfrontierte.[151] Trotz des unüberhörbaren Echos monierte William Gillies Ende Oktober jedoch gegenüber Adler, dass eine eigene Nachrichtenagentur – ein „sozialistisches Reuters“ – fehle, dem der „Korrespondent von Molinella“ seine Berichte hätte zuschicken und von wo aus die „ganze sozialistische Presse“ hätte informiert werden können.[152] Offensichtlich dachten die beiden Sozialisten über die Verbesserung der in Molinella erprobten Methode internationaler Beobachtung nach. Kurz vor Jahresende erschien dann eine vorläufig letzte – und gewagte – Behauptung aus der SAI zu Molinella: Aufgund der Berichterstattung „der sozialistischen Presse aller Länder“ hätten sich die Faschisten dazu gezwungen gesehen, „ihre Missetat für den Moment zu beenden, und auf einen günstigeren Augenblick zu warten, in dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit vielleicht getäuscht werden kann“. Aber hatte die „Aufmerksamkeit der ganzen Welt für die heldenhaften Kämpfer von Molinella“[153] den Deportationen tatsächlich ein vorläufiges Ende gesetzt?
VI. Auswirkungen und Schlussfolgerungen
Welche konkreten Auswirkungen die internationale Pressekampagne zu Molinella auf das weitere Vorgehen der Behörden hatte, ist schwer zu sagen. Weder in der Forschungsliteratur noch in den italienischen Akten finden sich Hinweise, die das positive Fazit der SAI bestätigen oder widerlegen. Da die archivalische Überlieferung zu den Deportationen aus Molinella Ende November 1926 abreißt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Aktion in diesen Tagen mit der zweiten Deportationswelle ihr Ende fand.
Auch wenn die von Zeitgenossen und Historikern so häufig genannte Größenordnung von 200 bis 300 deportierten Familien wohl deutlich zu hoch gegriffen ist, erreichten die faschistischen Behörden dennoch ihr Ziel, eine der letzten sozialistischen Bastionen Italiens zu schleifen. In diesem Sinne ging bereits im April 1927 eine erste Erfolgsmeldung im Innenministerium ein: In Molinella sei das Klima in letzter Zeit ungewöhnlich friedlich – die hohe Anzahl an Kirchenbesuchern und das vollständige Ausbleiben von Protestaktionen müsse „in Verbindung gesetzt werden mit der energischen Säuberung“, die von den Behörden mit Hilfe der Zwangsräumungen und der Verhängung von Verbannungsstrafen durchgeführt wurde und die „die Atmosphäre in Bezug auf die öffentliche Sicherheit und Ordnung vollkommen verwandelt“ habe, so der stellvertretende Polizeipräsident. Statt subversiver Demonstrationen fänden nun religiöse Prozessionen unter reger Anteilnahme der Bevölkerung statt.[154] Zwar befassten sich die Behörden um die Jahreswende 1927/28 noch einmal mit einer Handvoll Wohnungsräumungen, doch mit den Aktionen von 1926 war dies nicht zu vergleichen.[155]
Was wurde aus den deportierten Landarbeitern Molinellas? Wirft man einen Blick in die Personalakten der Sektion „Gefährliche Personen für die Sicherheit des Staats“ im Archivio di Stato di Bologna, deuten die hier dokumentierten Biografien darauf hin, dass die erzwungene Umsiedlung zur vollständigen Unterdrückung subversiven Handelns führte.[156] Isoliert von Schauplatz und Milieu ihres Protests gaben viele Betroffene offenbar jegliche politische Betätigung auf. Ungeachtet der kritischen internationalen Berichterstattung war es den faschistischen Behörden somit gelungen, auch die resistentesten Arbeiterinnen und Arbeiter in die Knie zu zwingen. Doch was sagt uns dies über den Charakter des italienischen Faschismus?
Ein gutes halbes Jahr nach den Deportationen von Molinella verkündete Mussolini in seiner vielbeachteten Rede an Christi Himmelfahrt 1927, dass die Faschisten eine „enorme, monumentale Jahrhundertaufgabe“ vollbracht hätten: die Schaffung eines „einheitlichen italienischen Staats“. Anschließend wiederholte Mussolini die 1925 geprägte Glaubensformel „alles im Staat, nichts gegen den Staat, nichts außerhalb des Staats“ und behauptete, dass für den Einzelnen ein Leben außerhalb des faschistischen Staats undenkbar geworden sei.[157] Bedeutete dies, dass der Diktator tatsächlich davon überzeugt war, alle Italiener seien nur wenige Jahre nach seiner Machtübernahme zu entschlossenen Faschisten geworden? Für den Moment gab sich Mussolini jedenfalls mit einer wenngleich oberflächlichen, so doch umfassenden Gleichschaltung des öffentlichen Lebens zufrieden: Mit Hilfe „sozialer Hygiene“ habe man bestimmte Individuen aus dem „Kreislauf“ entfernt; alle ehemals abseits stehenden „Elemente“ seien „eingegliedert“ worden, denn Opposition sei „überflüssig in einem totalitären Regime wie dem faschistischen“.[158]
Der Duce proklamierte damit nichts anderes als die Umsetzung seiner Utopie von der totalen Integration der Gesellschaft in den faschistischen Staat.[159] Diese Vision eines wahrlich geeinten Lands, in dem man die mannigfaltigen gesellschaftlichen Brüche und die als Egoismus verunglimpfte Individualität endlich überwunden habe, war in Italien seit den Tagen Garibaldis und Mazzinis virulent.[160] Von Anbeginn besaß die nationale Einheit einen zutiefst mythischen Charakter, zumal seit Ausbruch des Ersten Weltkriegs das Fortbestehen der Nation auf dem Spiel zu stehen schien. Während die Opposition die vermeintliche Einigkeit als Friedhofsruhe brandmarkte, reklamierte Mussolini den Erfolg für sich und seine Partei, das Risorgimento endlich zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht zu haben. Dieser Mission war Molinella zum Opfer gefallen.
Der nervöse Blick des Duce reichte bis ins „letzte Dorf Italiens“.[161] Dabei müssen sich die Faschisten sehr wohl bewusst gewesen sein, dass die proklamierte Beseitigung gesellschaftlicher Pluralität nur dem Schein nach eine politische und gesellschaftliche Einigung des Lands bedeutete. Dafür spricht nicht zuletzt, dass in der großen faschistischen Parteiorganisation für Freizeit und Sport, Jugend und Frauen ein umfassender Umerziehungsprozess auf immer größere Teile der Bevölkerung ausgedehnt wurde; 1942 waren rund zwei Drittel aller Italiener Mitglieder der Partei beziehungsweise ihrer Ableger.[162] Das „totalitäre Experiment“ gipfelte in dem Versuch, einen „neuen Italiener“ heranzuziehen.[163]
Der zivile Widerstand der Landarbeiter Molinellas war nicht illegal oder zielte gar auf den Umsturz des Regimes; er stellte nicht einmal auf lokaler Ebene eine unmittelbare Bedrohung der politischen Ordnung dar.[164] Der von den Amtsträgern verspürte Handlungsdruck war aber der Idee des totalitären Staats inhärent. Denn gemessen am umfassenden Anspruch der Faschisten musste der Widerstand von Molinella als staatliches Versagen aufgefasst werden – ein Versagen im kleinen Rahmen, doch auch ein Versagen im Hinblick auf die zentrale Ordnungsvorstellung des Faschismus. Die „Unduldsamkeit gegenüber einer echten Opposition“[165] bestand also unabhängig von ihrer tatsächlichen Dimension. Dies galt schon deshalb, weil Molinella einer breiten Öffentlichkeit vorführte, dass ziviler Widerstand in Italien weiterhin möglich war. Besonders schwerwiegend dürfte sich die internationale Resonanz des Falls Molinella ausgewirkt haben, war das faschistische Regime doch peinlich auf seine Wirkung im Ausland bedacht.[166] „Prestigepolitik“, kommentierten bereits Zeitgenossen, war „das Schlagwort des Duce“.[167] Bezeichnenderweise war es im Fall Molinella erst die internationale Berichterstattung, die mit Arturo Bocchini den höchsten Amtsträger des faschistischen Repressionsapparats auf den Plan rief. Insofern hatte Friedrich Adler mit seiner Strategie, die Geschehnisse von Molinella ins Licht einer internationalen Öffentlichkeit zu setzen, einen neuralgischen Punkt der Herrschaftslogik Mussolinis getroffen.
Der Fall Molinella zeigt exemplarisch auf, dass die Funktionäre des frühen faschistischen Regimes gerade dann bereit waren, außerordentliche Repressionsmaßnahmen zu ergreifen, wenn die Aussicht bestand, die für In- und Ausland aufgezogene Fassade politischer Homogenität zu komplementieren.[168] Hier diente Gewalt sozusagen dazu, die Illusion von Einheit zu erzeugen. Während in der Vergangenheit gesellschaftliche Zustimmung und staatliche Unterdrückung als Erklärung für die langjährige Stabilität des faschistischen Regimes oft als konkurrierende Faktoren diskutiert wurden, zeigt der Fall Molinella also auf eindrückliche Weise auf, dass sich die beiden Aspekte in keiner Weise ausschließen mussten und sogar komplementär zu verstehen sind.[169] Insofern untermauern die Geschehnisse in der Emilia-Romagna einige aktuelle Interpretationsangebote der Faschismusforschung.[170]
In den seltenen Momenten, in denen der totalitäre Herrschaftsanspruch der faschistischen Amtsträger Mitte der 1920er Jahre noch öffentlich in Frage gestellt wurde, zögerten die italienischen Faschisten nicht, Recht und Gesetz beiseite zu schieben.[171] Dann blitzte unter der Fassade des auf die vorfaschistische Zeit zurückgehenden „Normenstaats“ – die Verfassung von 1848 blieb de jure in Kraft – kurzzeitig ein „Maßnahmenstaat“ auf, der nicht länger an rechtliche Vorgaben und Einschränkungen gebunden war.[172] Es besteht kaum ein Zweifel daran, dass die Arbeiterfamilien ohne konkrete Rechtsgrundlage deportiert wurden. In einem Telegramm berief sich der Präfekt von Bologna lediglich auf Artikel 3 des Testo unico della legge comunale e provinciale, der allgemein die Exekutivgewalt der Präfekten in der Provinz regelte.[173] Und so beschwerten sich bereits Zeitgenossen darüber, dass man den Betroffenen nicht einmal die Rechte herkömmlicher Gefangener zugestand und sie in Bologna unter ungeklärtem Status festhielt.[174] Die Deportationen stellten also eine Maßnahme dar, die zumindest in Teilen noch der faschistischen Maxime der „direkten Aktion“ aus Zeiten des Squadrismo entsprach.[175]
Doch die faschistischen Behörden gingen gegenüber Oppositionellen auch nicht völlig ungehemmt ans Werk. Wie immer, wenn sich die Faschisten in der Regimephase auf das Terrain außerordentlicher Maßnahmen begaben, handelte es sich um eine strategische Gratwanderung zwischen der zu erwartenden Rufschädigung und der effektiven Beseitigung von Gegenstimmen. In der Praxis bedeutete dies vor allem, dass Repression dann als exzessiv gebrandmarkt wurde, wenn sie zu viel (internationale) Aufmerksamkeit hervorrief oder bei der Bevölkerung auf erkennbare Ablehnung stieß.[176] Angesichts des doppelten Symbolcharakters von Molinella – ein Schandfleck aus Sicht des Regimes, ein Lichtblick für die Opposition – wird die drohende Rufschädigung aber zu verschmerzen gewesen sein. Dementsprechend entschieden sich die Behörden dafür, drohende Gewalt seitens der faschistischen Basis zu kanalisieren und dem Widerstand in Molinella auf geregelte Weise ein Ende zu setzen.
In seinem totalitären Herrschaftsanspruch versuchte das faschistische Regime, auch die alten classes dangereuses, das ursprüngliche Hauptziel faschistischer Militanz, zu integrieren.[177] Die Repression gegen Arbeiter beschränkte sich deshalb zumeist auf politisch aktive Einzelpersonen, auch wenn dies mit Nachdruck und System geschah.[178] Insofern stellte Molinella eine Ausnahme dar: Die Kleinstadt zählte zu den wenigen Orten, in denen es dem Regime nicht gelang, dem zivilen Widerstand mit dem bewährten Instrumentarium des Polizeistaats Herr zu werden. In seiner Studie zum Unterdrückungsapparat des faschistischen Regimes hat Michael Ebner einige wenige „Rückzugsgebiete“ des Widerstands benannt, zu denen neben Turin, Rom und Parma auch Molinella zählte. Im Angesicht dieser „Härtefälle“ habe sich der Staat aufgemacht, auch „den sozialen Bindungen [...] der Arbeiterklasse und den nach außen gerichteten Bekundungen zum Sozialismus“ ein Ende zu setzen. Betrachtet man die einschlägigen Lokalstudien, lassen sich lediglich für den Arbeiterstadtteil Oltretorrente in Parma erzwungene Umsiedlungen nach dem Muster Molinellas nachweisen, die auch hier dazu führten, dass „eine große Bevölkerungsgruppe, die der Macht feindlich gegenüberstand, fragmentiert, verbannt und überwacht“ werden konnte.[179] Im Kampf gegen die sizilianische Mafia sind ebenfalls Deportationen verdächtigter Familienverbände bekannt.[180] Gewiss aber stellten Zwangsumsiedlungen im faschistischen Italien der 1920er Jahre eine exzeptionelle Maßnahme dar. Andererseits muss betont werden, dass die Aktion im Prinzip auf die bewährteste repressive Strategie des italienischen Faschismus zurückgriff: Wie schon die Squadristi zwangen die Behörden unliebsamen Bürgern durch Verbannung oder die sogenannte ammonizione – Meldepflicht und Ausgangssperre – einen bestimmten Aufenthaltsort auf.[181] In Molinella wurde dieser vielleicht wichtigste Sanktionsmechanismus des italienischen Faschismus mit seltener Konsequenz umgesetzt.
Auch in Bezug auf das Verhältnis von Staat und Partei – eine weitere, bis heute viel diskutierte Frage der Faschismusforschung – stellt der Fall Molinella ein interessantes Beispiel dar: Solange es einen gemeinsamen Gegner gab, waren die Interessen der lokalen Squadristi um Augusto Regazzi und der Amtsträger in Bologna und Rom trotz gewisser Unstimmigkeiten in Einklang zu bringen. Chronologisch stehen die Deportationen von Molinella kurz vor der endgültigen Ablösung der Straßengewalt durch staatliche Repression in geregelten Bahnen: Ab November 1926 wurde der Handlungsspielraum staatlicher Behörden noch einmal massiv erweitert; nun war es ihnen unter anderem möglich, die bekannten Oppositionellen Molinellas in die Verbannung zu schicken. Angesichts dieser Entwicklungen ist es kein Zufall, dass Regazzi 1928 selbst ins Fadenkreuz der Ermittlungsbehörden geriet und schließlich für fünf Jahre verbannt wurde.[182] Der faschistische „Profi der Gewalt“ wurde nach der brutalen Pazifizierung des Orts nicht mehr benötigt.[183]
Doch die hier exemplarisch abgebildete Verdrängung der Squadristi stellt nicht – wie von der älteren Forschung behauptet – eine „Niederlage der Partei“ dar, sondern war eher ein Nebenprodukt der fortgeschrittenen Faschisierung des Staats.[184] Die impulsive Gewalt der Schwarzhemden war für das Streben dieses Staats nach Einheit schlicht hinderlich geworden, konnten die mit faschistischen Amtsträgern durchsetzten Behörden die erzwungene Integration der Gesellschaft doch viel geregelter betreiben. Der Präfekt von Bologna und Hauptorganisator der Deportationen, Raffaele De Vita, war beispielsweise ein frühes Mitglied der faschistischen Partei, den Mussolini 1927 aufgrund seiner Verdienste öffentlich als „Helden“ bezeichnete.[185] Auch wenn sich die Behörden anderer Mittel bedienten als die Schwarzhemden – die totalitäre Zielsetzung blieb die gleiche. Denn wie schon die squadristischen Milizen keinerlei politische Konkurrenz toleriert hatten, ließ der faschistische Staat diese ebenso wenig zu.[186] Dieser Staat konnte von nun an sicherstellen, dass die nationale Gemeinschaft von Molinella aus nicht mehr herausgefordert werden würde. Dieser Erfolg der Faschisten erreichte seinen propagandistischen Höhepunkt, als Mussolini der Kleinstadt in der Emilia-Romagna 1936 einen Besuch abstattete und die staatliche Filmgesellschaft Istituto Luce den Duce inmitten euphorisch applaudierender Landarbeiter in Szene setzte.[187]
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Aufsätze
- Historische Erfahrung und politisches Handeln
- Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität
- Mehr Integration?
- Miszelle
- Neue Quellen der Beratungsforschung: Marvin Bowers Perspective on McKinsey
- Dokumentation
- Innenansichten einer „Staatspartei“
- VfZ-Schwerpunkt
- Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeitgeschichte – das Beispiel Großbritannien
- „A very English superstar“
- Diskussion
- Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus
- Aus der Redaktion
- „Ich bin ganz aus Disziplin zusammengesetzt!“
- Notiz
- 16. Aldersbacher Schreib-Praxis
- VfZ-Online
- Neu: Zwei weitere Beiträge in der Rubrik „VfZ Hören und Sehen“
- Rezensionen online
- Rezensionen
- Abstracts
- Abstracts
- Autorinnen und Autoren
- Autorinnen und Autoren
- Hinweise
- Hinweise
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Aufsätze
- Historische Erfahrung und politisches Handeln
- Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität
- Mehr Integration?
- Miszelle
- Neue Quellen der Beratungsforschung: Marvin Bowers Perspective on McKinsey
- Dokumentation
- Innenansichten einer „Staatspartei“
- VfZ-Schwerpunkt
- Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeitgeschichte – das Beispiel Großbritannien
- „A very English superstar“
- Diskussion
- Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus
- Aus der Redaktion
- „Ich bin ganz aus Disziplin zusammengesetzt!“
- Notiz
- 16. Aldersbacher Schreib-Praxis
- VfZ-Online
- Neu: Zwei weitere Beiträge in der Rubrik „VfZ Hören und Sehen“
- Rezensionen online
- Rezensionen
- Abstracts
- Abstracts
- Autorinnen und Autoren
- Autorinnen und Autoren
- Hinweise
- Hinweise