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Historische Erfahrung und politisches Handeln

Rabbiner Joachim Prinz, die Lehren aus dem Nationalsozialismus und das Engagement für die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung
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Published/Copyright: January 1, 2022

Abstract

David Jünger untersucht in seinem Aufsatz die intellektuelle und politische Auseinandersetzung des deutsch-amerikanischen Rabbiners Joachim Prinz (1902–1988) mit der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung und dem amerikanischen Rassismus der ersten beiden Nachkriegsdekaden. Diese Auseinandersetzung, so die These, ist nur vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen mit Nationalsozialismus und antisemitischer Ausgrenzung zu verstehen. Die von Prinz in den frühen 1930er Jahren diskutierten Motive von Ghettoisierung, Isolation und Nachbarlosigkeit wurden zur Richtschnur seines späteren intellektuellen Denkens und politischen Handelns sowohl im Hinblick auf die rassistische Segregation in Amerika als auch auf die Konstitution der globalen Judenheiten nach dem Holocaust und der Gründung des Staats Israel.

Abstract

In his article, David Jünger investigates the intellectual and political engagement of German-American rabbi Joachim Prinz (1902–1988) with the African American Civil Rights Movement and American racism during the first two post-war decades. His thesis is that these interactions can only be understood against the background of his personal experience of National Socialism and antisemitic ostracism. In the early 1930s Prinz discussed motives of ghettoization, isolation and exclusion. These became the yardstick of his later intellectual thinking and political actions regarding both racist segregation in America as well as the constitution of global Jewry after the Holocaust and the foundation of the state of Israel.

Vorspann

Aufgrund ähnlicher Erfahrungen von Segregation und Diskriminierung waren in den USA schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts Jüdinnen und Juden zu Verbündeten im afroamerikanischen Kampf um Freiheit und Bürgerrechte geworden. Nach dem Holocaust, der universalistische Perspektiven auf Rassismus und Antisemitismus eröffnet hatte, verstärkten afroamerikanische und jüdische Organisationen wie der American Jewish Congress ihre Kooperation. Dort verwiesen vor allem Juden, die in Amerika geboren waren, auf den Holocaust, um ihren Kampf gegen Rassismus zu rechtfertigen. Die Gegenposition zeichnet David Jünger anhand des Berliner Rabbiners Joachim Prinz nach, der 1937 in die USA emigriert war. Er fürchtete den Verlust jüdischer Identität und ordnete den Bürgerrechtskampf dem Überleben des jüdischen Volks unter, avancierte aber dennoch zum Civil Rights Rabbi. In seiner Rede auf der Protestversammlung March on Washington im August 1963 zog er aus seinen Erfahrungen als Rabbiner im NS-Regime den Schluss, dass Schweigen die schändlichste Sünde sei.

I. Washington D.C., 28. August 1963

Drückende Hitze lag über der amerikanischen Hauptstadt, als sich am 28. August 1963 250.000 Menschen rund um das Lincoln Memorial versammelten, um Zeuginnen und Zeugen eines der bedeutendsten Ereignisse der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, wenn nicht gar der amerikanischen Geschichte überhaupt zu werden. Der March on Washington for Jobs and Freedom war die größte Demonstration, die das Land bis dahin gesehen hatte, und mitentscheidend für die Abschaffung der sogenannten Rassentrennung im Civil Rights Act ein Jahr später.[1] In das kollektive Gedächtnis hat sich dabei insbesondere der Auftritt Martin Luther Kings eingeschrieben. Auf den Stufen des Lincoln Memorials hielt er seine Rede „I have a Dream“, die zum Symbol des globalen Kampfs gegen Rassismus wurde und King zu weltweiter Berühmtheit verhelfen sollte.

Weil die Erinnerung an den Marsch von der Größe des Ereignisses und der Kraft dieser Rede geprägt wurde, ist ein Element im Lauf der Zeit verblasst, das für diesen Aufsatz ins Zentrum gerückt werden soll: Neben der Mehrheit der afroamerikanischen Demonstrierenden hatten am Marsch auch zehntausende Weiße teilgenommen, ein Großteil von ihnen Jüdinnen und Juden.[2] Es waren vor allem jüdische Organisationen, die nicht nur den March on Washington unterstützten, sondern sich in den vorausgegangenen Dekaden zu den wichtigsten weißen Verbündeten der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung entwickelt hatten.

Repräsentiert wurden sie an jenem geschichtsträchtigen Tag vom Präsidenten des einflussreichen American Jewish Congress (AJC), Rabbiner Joachim Prinz, der sich unmittelbar vor Kings Rede an die Demonstrierenden gewandt hatte. Die Unterstützung der Bürgerrechtsbewegung durch jüdische Organisationen erkläre sich, so Prinz in seiner Ansprache, aus der gemeinsamen Geschichte von Sklaverei, Freiheitssehnsucht und Emanzipation. Nicht Mitleid sei die Motivation hinter dem jüdischen Engagement, sondern „das Gefühl der völligen Identifikation und Solidarität, das aus unserer eigenen schmerzlichen historischen Erfahrung erwachsen ist“.[3]

Die von Prinz hier in Anschlag gebrachte historische Erfahrung bezog sich zunächst in allgemeiner Weise auf die jüdische Geschichte, beinhaltete aber auch eine individuelle Komponente. Joachim Prinz war deutscher Herkunft. Geboren im Jahr 1902, hatte er sich als junger und leidenschaftlicher Rabbiner im Berlin der späten Weimarer Republik einen Namen gemacht, bevor er zu einer der wichtigsten Stimmen des deutschen Judentums in den ersten Jahren der NS-Herrschaft wurde. 1937 musste er schließlich Berlin verlassen und emigrierte in die Vereinigten Staaten von Amerika.[4] 26 Jahre später, in der amerikanischen Hauptstadt, auf den Stufen des Lincoln Memorials, verwies er auf diese Geschichte, um eine besondere jüdische, aber auch persönliche Verantwortung für die Ziele des afroamerikanischen Emanzipations­kampfs zu begründen. Der vorliegende Aufsatz folgt dieser Spur und fragt nach dem Zu­sam­menhang von historischer Er­fahrung und politischem Handeln; oder anders gesagt: Wie wirkten sich die Diskriminierung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden während der NS-Zeit auf den Kampf gegen die Diskriminierung der afro­ame­rikanischen Minderheit aus? Die Spurensuche beginnt zunächst in den Biografien verschiedener deutsch-jü­discher Immigrantinnen und Immigranten, bevor dieser Zusammenhang am Beispiel des Rabbiners Joachim Prinz expliziert werden soll.

Prinz’ Lebensgeschichte bietet für eine solche Untersuchung zahlreiche Ansatzpunkte: Er war eine schillernde Figur des jüdischen Lebens in Berlin, und obwohl er zu den jüngsten Rabbinern der Stadt gehörte, war er bereits so populär, dass seine Predigten zu Großereignissen der zunehmend unterdrückten jüdischen Gemeinschaft wurden. Als überzeugter Zionist stritt er dafür, das Judentum als Volk, als nationale Gemeinschaft zu begreifen, deren Zukunft in Palästina liege. Seine politischen Traktate zu diesem Thema waren jedoch heftig umstritten. In seiner späteren Heimat, den USA, sollte er erneut zu einer weithin bekannten öffentlichen Figur auf­steigen – als führender Akteur wichtiger jüdischer Organisationen ebenso wie als Re­prä­sen­tant des jüdischen Kampfs gegen Rassismus und Segregation. Diesen Kampf hatte Prinz bereits in Deutschland geführt und setzte ihn nach seiner Emigration fort. Obgleich er durch seine Rede beim March on Washington den jüdischen Unterstützerinnen und Unterstüt­zern der Bürgerrechtsbewegung Stimme und Gesicht gab, gehörte er dennoch zu denen, die die Form der Unterstützung bisweilen kritisierten. Prinz besaß also eine herausragende Bedeutung für die jüdischen Ge­­meinschaften zunächst in Deutschland, dann in den USA. Michael A. Meyer, einer der pro­fun­desten Kenner der deutsch-jüdischen Geschichte der Neuzeit, sah in ihm sogar einen „Führer des amerikanischen und Weltjudentums“.[5]

Der Blick auf diesen Lebensweg kann Zusammenhänge beleuchten, die in den Forschungen zur jü­­dischen Emigration aus NS-Deutschland häufig im Dunkeln bleiben. Zumeist geht es nur um ei­ne Seite der Medaille: um die Geschichte der erzwungenen Auswanderung aus Deutschland oder um die Geschichte der deutschen Jüdinnen und Juden in ihrer neuen Heimat, in diesem Fall den USA. Migrationsnarrative enden also zumeist mit der Emigration oder beginnen mit der Immigration; nur selten wird die ganze Geschichte erzählt. Eine Untersuchung des von Prinz selbst nahegelegten Zusammenhangs von historischer Erfahrung im national­so­zialis­ti­schen Deutschland und politischem Handeln in Amerika kann helfen, diese Kluft zu über­brücken.

Das Nachdenken über Antisemitismus, Ausgrenzung und Rassismus ist von bestimmten kulturellen Kontexten und historischen Erfahrungen geprägt. Einerseits haben der Zweite Weltkrieg und der Holocaust zu einer veränderten Wahrnehmung von Rassismus und Antise­mi­tismus geführt. Beide Diskriminierungsformen wurden nach 1945 viel häufiger zu­sam­men­ge­dacht, anstatt sie – wie früher – als grundverschiedene Phänomene zu deuten. Zugleich er­hiel­ten sie dadurch auch eine globale, universelle Dimension. Die partikularen Aus­gren­zungs­er­­fahrungen sollten folglich in universelle Strategien zur Bekämpfung von Rassismus und Se­gre­gation überführt werden. Andererseits unterschieden sich Erfahrungskontexte und Begrün­dungs­­zusammenhänge der amerikanischen Jüdinnen und Juden zum Teil erheblich von denen ihrer aus Deutschland vertriebenen Glaubensbrüder und -schwestern. Dies lässt sich exem­pla­risch an den Auseinandersetzungen zwischen Joachim Prinz und seinen Widersacherinnen und Wid­ersachern im AJC über die Bedeutung von Rassismus und Antisemitismus zeigen.

II. Jüdisch-afroamerikanische Begegnungen vom Ende der Sklaverei bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Dass bei einem Zentralereignis des afroamerikanischen Bürgerrechtskampfs wie dem March on Washington mit Joachim Prinz ein jüdischer Repräsentant eine derart prominente Rolle einnehmen konnte, war kein Zufall, sondern auf eine lange Vorgeschichte jüdisch-afroamerikanischer Beziehungen zurückzuführen, die bis in die Frühphase der amerikanischen Besiedlung zurückreichte. Politische und historiografische Aufmerksamkeit hat insbesondere die Zeit der Sklaverei und des amerikanischen Bürgerkriegs erregt. Der jüdischen Gemeinschaft wurde vorgeworfen, in besonderem Maße in den transatlantischen Sklavenhandel involviert gewesen zu sein, überproportional zu ihrem Bevölkerungsanteil Sklavinnen und Sklaven besessen und im Bürgerkrieg der Jahre 1861 bis 1865 vor allem die konföderierten Südstaaten unterstützt zu haben. Diese Vorwürfe haben sich zwar im Großen und Ganzen als haltlos erwiesen, allerdings ergab sich aus den einschlägigen Untersuchungen und Debatten, dass sich die Jüdinnen und Juden des Südens nicht grundsätzlich anders verhalten hatten als die Mehrheit der nichtjüdischen Weißen.[6]

Dies sollte sich erst ab dem Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend ändern. Der endgültigen Abschaffung der Sklaverei mit Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 folgte nach einer kurzen Phase der Reconstruction ab 1877 die Einführung der sogenannten Jim-Crow-Gesetze in den amerikanischen Südstaaten, welche die Segregation von Schwarzen und Weißen lega­lisierten.[7] Um die Jahrhundertwende begannen sich die jüdischen und afroamerikanischen Gemeinschaften politisch stärker zu organisieren – unabhängig voneinander, immer häufiger aber auch gemeinsam.[8] Beide Gruppen einten sowohl ähnliche Erfahrungen von Ausschluss und Diskriminierung als auch ähnliche Ziele von politischer, sozialer sowie ökonomischer Gleichstellung und Partizipation.

Im frühen 20. Jahrhundert engagierten sich immer mehr Jüdinnen und Juden für die Belange der afroamerikanischen Bevölkerung und avancierten so zu ihren wichtigsten Verbündeten.[9] Bestes Beispiel dieser Kooperation war die 1909 gegründete National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), die erste und über Jahrzehnte wichtigste afroamerikanische Bürgerrechtsorganisation der Vereinigten Staaten, die bis heute existiert. Jüdische Aktivistinnen und Aktivisten wie Anna Strunsky und Henry Moskowitz standen hinter der Gründung, jüdische Philanthropinnen und Philanthropen stellten die finanziellen Mittel bereit; ein Großteil der Führungsmitglieder war ebenfalls jüdisch, unter anderem die ersten beiden Präsidenten Joel Elias Spingarn und Arthur B. Spingarn, später auch prominente Persönlichkeiten wie Albert Einstein und Stephen S. Wise.[10] Auf dem Gründungstreffen der NAACP wurde schließlich eine Resolution verabschiedet, in der sich die Vereinigung mit den Opfern des Pogroms von Kischinew im Jahr 1903 solidarisierte und die antijüdische Gewalt in Russland mit der Gewalt gegen Schwarze in Amerika verglich.[11]

In den Folgejahren intensivierte sich die politische und juristische Zusammenarbeit, befeuert durch gegenseitige Projektionen auf die je andere Gruppe.[12] Jüdische Stimmen betonten bis­weilen eine besondere jüdische Empathiefähigkeit für die afroamerikanische Gemeinschaft auf­grund eigener historischer Erfahrungen. In der afroamerikanischen Öffentlichkeit hingegen wur­den die biblische Geschichte des jüdischen Auszugs aus der ägyptischen Sklaverei, der jüdische Emanzipationskampf in der Neuzeit oder auch der jüdische Aufstieg in die Mittelschicht als Modelle und Vorbilder für die afroamerikanische Gemeinschaft gepriesen.[13]

Diese Kooperation konnte jedoch nur so stabil sein wie das Segregationsregime selbst – und dieses war äußerst ambivalent. Denn die rassistischen Jim-Crow-Gesetze, die Weiße und Schwarze trennten, waren nur in den Südstaaten, nicht jedoch im Norden gültig. Im Süden ver­lief die Linie zwischen den scharf getrennten Kategorien weiß und schwarz. Eine Zwi­schen­stel­lung konnte es nicht geben. Auch wenn das weder historisch noch zeitgenössisch eindeutig war, wurden in den amerikanischen Südstaaten Jüdinnen und Juden fast voll­stän­dig der Gruppe der Weißen, also der Herrschaftsschicht, zugerechnet und standen somit auf der Seite der Macht. Komplizierter war das Gefüge im Norden, wo die Segregation zwar nicht ge­setzlich festgeschrieben, aber politisch und sozial weitgehend durchgesetzt war. Die Mitglieder der jüdischen Ge­meinschaft – aber auch andere ethnische Gruppen – wurden nicht voll­ständig als Weiße, son­dern häufig als eigene Gruppe, bisweilen auch als Schwarze wahr­ge­nom­men.[14]

Zusammengefasst könnte man sagen, dass Ende des 19. Jahrhundert die jüdische Gemeinschaft der Südstaaten hinsichtlich ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Stellung so weitgehend und tiefgreifend der nichtjüdisch-weißen Bevölkerung gleichgestellt war wie in keiner anderen Region oder keinem anderen Staat der Welt – im Unterschied auch zu den Jüdinnen und Juden, die im Norden der USA lebten.[15] Diese Ausnahmestellung war jedoch höchst fragil, denn es bestand die Furcht, die Klassifizierung als Weiße könne jederzeit wieder revidiert werden. Und so sehr jü­dische Organisationen sowie Aktivistinnen und Aktivisten im Norden den afro­ame­ri­ka­ni­schen Kampf gegen die Segregation unterstützten und auf Gemeinsamkeiten zwi­schen beiden Grup­pen verwiesen, so wenig war die überwiegende Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft im Sü­den bereit, diese Argumentation mitzutragen. Sie betonte hingegen die kategorialen Unter­schiede, um einer Delegitimierung ihrer Positionierung als Weiße keinen Vorwand zu liefern.[16]

Dabei offenbart sich ein Grundelement amerikanischer Rassendiskurse, das bis heute Gültigkeit be­sitzt: die enge Verbindung von „Rasse“ und Hautfarbe. Auch wenn man Hautfarbe nicht phäno­me­nologisch verstand, sondern als kulturelles Konstrukt begriff, wurden „Rasse“ und Haut­farbe dennoch als einander entsprechende Kategorien verstanden. Diese Verbindung von „Rasse“ und Hautfarbe war ursächlich für einige der Ambivalenzen, die mit der Ankunft jüdischer Flüchtlinge aus NS-Deutschland ab den 1930er Jahren zutage traten. Als Jüdinnen und Juden waren diese Flüchtlinge auch in Amerika nicht sehr willkommen, der Arbeitsmarkt blieb ihnen häufig verschlossen.[17] Als Weiße fanden einige von ihnen hingegen Aufnahme in den ame­rikanischen Südstaaten.[18] Sie hatten rassistische Diskriminierung und Verfolgung in ihrer alten Heimat selbst erfahren müssen. Diese war jedoch nicht an die Hautfarbe gebunden gewesen, sondern war mit der Nichtzugehörigkeit zur deutschen „Volksgemeinschaft“ und Kultur begründet worden. Was die Ausgrenzungs­me­cha­nismen anbelangte, schienen dennoch Gemeinsamkeiten zu bestehen. In Selbstzeugnissen jener Flüchtlinge lesen wir von Unbehagen, Schock und Abscheu angesichts der rassistischen Se­gregation, die sie nun aus einer völlig anderen Perspektive erlebten.

Ernst Moritz Manasse beispielsweise, der noch 1933 seinen Doktortitel in Heidelberg hatte er­wer­ben können, erhielt eine Professur für Deutsch, Latein und Philosophie am North Carolina College for Negroes in Durham und erinnerte sich später an seine Ankunft: „Ich kam aus einer Si­tuation der gewaltsamen Segregation, in der wir die Opfer waren, und nun war ich plötzlich auf der anderen Seite; ich gehörte nicht zu den Unterdrückten, sondern zu den Unter­drückern.“[19] Auch Lore Rasmussen, die Deutschland im Alter von 17 Jahren verlassen hatte und Lehrerin am Talladega College in Alabama wurde, bemerkte rückblickend, dass „Schwarze [...] von der weißen Gemeinschaft genauso verachtet und ausgestoßen [wurden], wie ich in Deutsch­land verachtet und ausgestoßen worden war“. Dies hätte bei ihr „eine Menge Mit­ge­fühl“ hervorgerufen.[20]

Diese beiden Beispiele stehen exemplarisch für eine ganze Generation deutscher Jüdinnen und Juden, die in jenen Jahren nach Amerika emigrierte und aufgrund eigener Erfahrungen von Segregation und Rassismus zumindest teilweise verunsichert war. Viele von ihnen engagierten sich in den Folgejahren vehement gegen Rassismus und Ausgrenzung, während andere nicht aktiv wurden. Für die individuelle Entscheidung, sich gegen Rassismus einzusetzen oder nicht, war dabei vermutlich weniger die unmittelbare eigene Erfahrung ausschlaggebend als das politische und moralische Wertesystem, das die jüdischen Flüchtlinge bereits mitbrachten. Die Erfahrungen vor Ort waren daher eher Katalysator denn Auslöser.

Entscheidend ist jedoch, dass durch die Begegnungen dieser beiden Gruppen – der afroamerikanischen und der jüdischen, insbesondere der jüdischen Flüchtlinge aus NS-Deutschland – auch die beiden Ausgrenzungssysteme amerikanischer Rassismus und europäischer Antisemitismus aufeinanderstießen. Damit wurde das Nachdenken über Gemeinsamkeiten und Unterschiede forciert, das sich ab den 1940er Jahren intensivieren sollte. Es beruhte aber zunächst auf dem Ausschluss der Jüdinnen und Juden aus der deutschen „Volksgemeinschaft“ und hatte mit dem späteren Massenmord noch nichts zu tun.

III. Im mauerlosen Ghetto: Joachim Prinz und der Nationalsozialismus

Während Personen wie Lore Rasmussen und Ernst Moritz Manasse mit den Besonderheiten eines Lebens im segregierten Süden zu kämpfen hatten und sich überwiegend in ihrem unmittelbaren Lebensumfeld engagierten, erlangten andere jüdische Flüchtlinge nationale Berühmtheit. Dazu gehörte Joachim Prinz, der im kollektiven Gedächtnis insbesondere durch seine Rede beim March on Washington 1963 zum Civil Rights Rabbi avancierte. Trotz seiner Popularität zu Lebzeiten ist seine Biografie bisher kaum erforscht.[21] Ein etwas genauerer Blick auf Prinz kann jedoch helfen, den Zusammenhang von historischer Erfahrung mit Antisemitismus und Nationalsozialismus und späterem politischem Handeln zu erhellen.

Joachim Prinz wurde 1902 im oberschlesischen Burkhardsdorf geboren. Seinen Vater beschrieb er als recht typischen deutschen Juden: assimiliert, areligiös und deutschnational.[22] Mit zunehmendem Alter rebellierte der junge Prinz gegen seinen Vater auf doppelte Weise, indem er Zionist und Rabbiner wurde.[23] Seine Rabbinerausbildung erhielt er am Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau, seine Universitätsausbildung in Berlin und Gießen.[24] 1927, gerade einmal 24 Jahre alt, wurde er Rabbiner in Berlin. Seine frühen Jahre blieben in Erinnerung, denn er war – recht untypisch für einen Rabbiner – ein beliebter Redner und eine unkonventionelle, ja charismatische Persönlichkeit. Prinz liebte Partys, Alkohol und Sex, führte mit seiner Frau Lucie (1902–1931) eine offene Beziehung (die man heute wohl als Polyamorie bezeichnen würde), und er verabscheute das, was er als ein gewöhnliches Rabbinerleben empfand. Kurzum: Prinz liebte das spannende und reizvolle Leben in der Metropole Berlin.[25] Mehr als 40 Jahre später war seine Verehrung für das Weimarer Berlin noch immer lebendig, wenn er in seiner Autobiografie Berlin als „eine der aufregendsten Städte der Welt“ bezeichnete, die „kosmopolitisch und weit entfernt vom deutschen Nationalismus“ gewesen sei. Nostalgisch erinnerte er sich an „ein großartiges, kreatives, wunderbares Leben, das sich nicht wiederholen kann, denn es war eine Zeit der großen Hoffnungen der Menschheit auf eine Welt der Gerechtigkeit und des Friedens“.[26]

Prinz’ Lebensstil, seine Popularität und die Liebe zum Berlin der Weimarer Zeit sind zentrale Elemente, um die Demütigungen und Enttäuschungen zu verstehen, die das NS-Regime ihm zufügte. Denn die Nationalsozialisten griffen nicht nur die jüdische Gemeinschaft an, sondern zerstörten auch sein eigenes privates Leben, das er so geliebt hatte. Diese Verlusterfahrung sollte sich tief in seine Persönlichkeit einschreiben und sein späteres politisches Handeln entscheidend prägen.

Den Angriffen nach der Machtübernahme Hitlers am 30. Januar 1933 setzte Prinz zunächst jü­dischen Stolz und jüdisches Selbstbewusstsein entgegen. Prinz war überzeugter Zionist und hat­te als solcher bereits vor 1933 dafür gekämpft, das Judentum als eigenständiges Volk zu be­greifen und jüdisches Volksbewusstsein zu stärken.[27] Mit dem Beginn der NS-Herrschaft versuchten zionistische Führungspersönlichkeiten wie Robert Weltsch, Publizist und Herausgeber der Jüdischen Rundschau, oder Joachim Prinz, den inneren Zusammenhalt der jüdischen Gemeinschaft zu festigen und der neuen Regierung das Angebot eines Modus Vivendi zu machen: Würden sich die deutschen Jüdinnen und Juden als jüdisches Volk innerhalb der deutschen Nation konstituieren, könnte das Regime vom Antisemitismus Abstand nehmen und das Judentum als nationale Minderheit schützen.[28] Während Weltsch der jüdischen Bevölkerung durch seine Kolumnen in der Jüdischen Rundschau Halt und Orientierung in unsicheren Zeiten bot, avancierte Prinz zum vermutlich populärsten jüdischen Redner Berlins. Vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Demütigungen wurden seine Predigten zu Massenveranstaltungen, in denen er in überfüllten Synagogen der jüdischen Bevölkerung Kraft und Zuversicht spendete.[29]

Anfang 1934 veröffentlichte Prinz das Buch „Wir Juden“, in dem er das Judentum ethnisch-na­tional bestimmte, den Weg der Emanzipation seit den Tagen Moses Mendelssohns kritisierte, schließlich für die Anerkennung des jüdischen an der Seite des deutschen Volks stritt und damit hef­tige innerjüdische Kontroversen auslöste. Derartige Ansichten wurden zwar in der zionis­ti­schen Bewegung geschätzt, die Mehrheit der liberalen deutschen Jüdinnen und Juden wies sie je­doch zurück. In ihren Augen war Judentum religiös oder konfessionell bestimmt und nicht ethnisch-national. Dieser Disput war Teil einer allgemeinen Diskussion der jüdischen Öf­fent­lich­keit über die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland, die in den ersten beiden Jahren na­tionalsozialistischer Herrschaft intensiv, teilweise auch aggressiv geführt wurde. Es bestand da­mals noch die Hoffnung, in einen Dialog mit dem neuen Regime eintreten zu können und dadurch die judenfeindliche Politik einzudämmen, weswegen die eigenen Ansichten mit Nachdruck als die einzig richtigen vorgebracht wurden.[30] Seit Anfang 1935 zeigte sich jedoch immer deutlicher, dass das neue Regime kein Interesse an ei­nem Dialog hatte. Die Gesamtsituation war katastrophal und verschlechterte sich beinahe täglich.[31] Von den Thesen seines Buchs „Wir Juden“ abrückend, veröffentlichte Prinz im April 1935 schließlich einen Artikel, in dem er die jüdische Situation unter nationalsozialistischer Herrschaft analysierte und programmatische Aspekte für sein späteres politisches Handeln entwickelte.

Der Text mit dem Titel „Das Leben ohne Nachbarn“ war frei von jener offensiven, herausfordernden Rhetorik, die zur Schärfe der Auseinandersetzung um seine Thesen beigetragen hatte. Nun wurde Prinz nachdenklich, pessimistisch, fast schon resignativ. Das jüdische Leben in Deutschland sei zu einer reinen Ghettoexistenz verkommen, weswegen „eine Analyse des Ghettos als eines inneren und äußeren Zustandes“ dringend geboten sei. Diese Ghettoexistenz des Jahrs 1935 unterscheide sich jedoch fundamental von der Zeit des Mittelalters samt ihrer durch Mauern begrenzten Ghettos:

„Das mittelalterliche Ghetto wurde abends geschlossen. Hart und grausam fiel das Tor zu. Sorgsam wurden die Riegel vorgeschoben; man kam aus der ‚Welt‘ und ging in das Ghetto. Heute ist es umgekehrt. Wenn sich unsere Haustür hinter uns schließt, kommen wir aus dem Ghetto und gehen in unser Heim. Das ist ein fundamentaler Unterschied. Das Ghetto ist kein geographisch umgrenzter Bezirk mehr, wenigstens nicht in dem Sinne, wie es das Mittelalter kannte. Das Ghetto, das ist die ‚Welt‘. Draußen ist das Ghetto für uns. Auf den Märkten, auf der Landstraße, in den Gasthäusern, überall ist das Ghetto. Es hat ein Zeichen. Das Zeichen heißt: nachbarlos. Des Juden Los ist: nachbarlos zu sein.“[32]

Das nationalsozialistische Ghetto des Jahrs 1935 sei also ein mauerloses und räumlich entgrenztes Ghetto, das die jüdische Bevölkerung nachbarlos mache und damit sozial isoliere.

In den Folgejahren wurde die Ausgrenzung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden immer umfassender; damit nahm auch die soziale Isolation zu.[33] Prinz war derweil in einen scharfen Konflikt mit der Berliner Jüdischen Gemeinde geraten, die im Frühjahr 1935 seine De­mission als Gemeinderabbiner verfügte.[34] Zudem geriet er mehr und mehr ins Fadenkreuz der Gestapo, wurde überwacht und wiederholt verhaftet.[35] Schließlich entschied er sich, Deutschland zu verlassen und nach Amerika zu emigrieren.

Doch bevor es soweit war, begab sich Prinz Anfang 1937 auf eine mehrwöchige Reise in die Vereinigten Staaten. Dort bereitete er seine Übersiedlung vor und hielt mehrere Vorträge, bevor er vorübergehend nach Deutschland zurückkehrte. Nach seiner Reise veröffentlichte er in der jüdischen Monatsschrift Der Morgen einen bemerkenswerten Text über seine Eindrücke, ins­besondere von den Beziehungen des amerikanischen Judentums zur afroamerikanischen Be­völ­kerung. Zu einer Zeit, als er selbst noch unter der Herrschaft des NS-Regimes lebte, be­gann er sich also bereits mit dem amerikanischen Rassismus und einer jüdischen Haltung dazu zu be­schäftigen. Auf seiner Reise hatte ihm insbesondere die faktische Segregation zwischen Schwar­zen und Weißen im New Yorker Stadtteil Harlem zugesetzt, wobei die Weißen mehr­heit­lich jüdisch waren. Seine Schilderungen ähneln denen Lore Ras­mussens und Ernst Moritz Manasses. Prinz schrieb:

„Merkwürdig, wie anders unser Blick geworden ist. Wir, die wir hingekommen sind, um uns ‚umzublicken‘, sehen schärfer und empfinden stärker. Die Neger in Harlem erinnern uns immer noch an die Zeiten von Onkel Toms Hütte. Wir verstehen deshalb nicht, daß auch die Juden dort die Neger höchst gleichgültig betrachten, und daß auch sie hochmütig sind... Wir können das nicht. Wir verstehen sie zu gut, die Schwarzen im Ghetto zu Harlem.“[36]

Prinz führte also bereits Anfang 1937 die Erfahrung der nationalsozialistischen Verfolgung an, um eine andere Wahrnehmung von Diskriminierung und Segregation zu erklären. Doch nicht allein die Gräben zwischen der jüdischen und der afroamerikanischen Gemeinschaft verstörten ihn, son­dern auch die Bereitschaft der Jüdinnen und Juden, sich freiwillig von der nicht­jüdischen Umwelt zu isolieren. „Juden wohnen in vielen Bezirken“, schrieb er weiter, „aber fast immer ziemlich kompakt zusammen.“ Zwar gebe es tagsüber einen regen Austausch mit der benachbarten Bevölkerung, „aber nach sechs Uhr abends kennt man einander nicht“.

Diese Beobachtungen und Einschätzungen sind wohl nur vor dem Hintergrund zunehmender Iso­lation, Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung durch das national­so­zia­listische Regime zu verstehen, die Prinz tagtäglich erfuhr und im Artikel über das „Ghetto 1935“ beschrieben hatte. Gleichzeitig legte Prinz in beiden Texten politische Analysen vor, die zu Wegmarken seiner späteren politischen Biografie werden sollten. Im Juli 1937 verließ er mit seiner zweiten Frau Hilde und seinen Kindern Lucie und Michael Berlin, schiffte sich auf der „Pennland“ ein und erreichte am 1. August 1937 mit New York City seine neue Heimat.[37]

IV. Die Black-Jewish Alliance: Rassismus und Antisemitismus im Nachkriegsamerika

Die jüdisch-afroamerikanische Zusammenarbeit, die sich bis in die 1930er Jahre fortwährend intensiviert hatte, sollte durch den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust noch einmal einen Schub, aber auch eine neue Richtung erhalten. Denn mit diesen Ereignissen erlangten Ras­sis­mus und Antisemitismus eine globale Dimension sowie eine universelle Bedeutung. Zunächst hatten tausende jüdische Flüchtlinge ähnliche Erfahrungen wie Joachim Prinz, Lore Ras­mussen oder Ernst Moritz Manasse gemacht und begannen, darüber nachzudenken, ob hinter den au­gen­­scheinlichen Ähnlichkeiten zwischen Rassismus und Antisemitismus nicht strukturelle Ge­mein­­samkeiten stünden.[38] Wenige Jahre später beschritten tausende afroamerikanische An­ge­hö­rige der US-Streitkräfte den entgegengesetzten Weg und zogen in segregierten Einheiten gegen die deutsche Wehrmacht zu Felde.[39] In der zunehmend ideologisch aufgeladenen Kriegsrhetorik verteidigten sie eine universelle Freiheit gegen die nationalsozialistische Bar­barei. Wie verschiedene Berichte afroamerikanischer Soldaten belegen, wurden die meisten von ihnen in Europa zum ersten Mal mit dem Horror nationalsozialistischer Judenverfolgung kon­frontiert und begannen ihrerseits, über strukturelle Gemeinsamkeiten von Rassismus und Anti­semitismus nachzudenken und ihre eigene Situation der Unterdrückung und Dis­kri­mi­nie­rung in einen größeren Zusammenhang einzuordnen.[40]

Dieses Nachdenken sollte sich in der Folgezeit noch weiter intensivieren. Der wichtigste afro­amerikanische Intellektuelle jener Jahre, W.E.B. Du Bois, hatte nach einem Besuch der Reste des Warschauer Ghettos im Jahr 1949 zu Protokoll gegeben, dass er erst durch diese Kon­fron­tation mit dem Holocaust die tieferliegende Struktur des Rassismus verstanden habe. Das Er­gebnis dieses Besuchs sei weniger ein klareres Begreifen des „jüdischen Problems“ in der Welt ge­wesen als „ein echtes und umfassenderes Verständnis des Schwarzenproblems“. Dieses ver­stehe er nun nicht mehr als „eine eigenständige und einzigartige Sache, wie ich es so lange be­trachtet hatte“. Vielmehr überschreite „das Rassenproblem [...] Grenzen von Farbe und Kör­perbau, Glauben und Status und war eine Frage kultureller Strukturen, einer pervertierten Lehre und von menschlichem Hass und Vorurteilen, die alle erdenklichen Menschen betrafen und al­len Menschen endloses Übel bereiteten“.[41] Die partikulare Ausgrenzungserfahrung habe auf den Trümmern des Warschauer Ghettos eine universelle Perspektive gewonnen.[42]

Auf der anderen Seite waren seit den 1940er Jahren wegweisende Arbeiten über den Anti­semitismus entstanden, insbesondere Theodor W. Adornos „Studien zum autoritären Charakter“ und Jean-Paul Sartres „Überlegungen zur Judenfrage“.[43] Wenn auch in we­sent­li­chen Aspekten recht unterschiedlich, markierten sie doch gemeinsam eine Wende in der Anti­se­mitismusforschung, indem sie die Ursachen des Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft suchten, anstatt sie aus den Konstitutionsbedingungen der jüdischen Minderheit heraus zu deu­ten. Hinter diesen Paradigmenwechsel sollte es kein Zurück mehr geben: Aus der Judenfrage war die Antisemitismusfrage geworden.[44]

Zudem hatte der Zweite Weltkrieg vormals regionale oder nationale Konflikte globalisiert und damit weltweit kommensurabel und kommunizierbar gemacht. Kurz gesagt: Der Horror des na­tionalsozialistischen Vernichtungskriegs eröffnete in der unmittelbaren Nachkriegszeit uni­ver­salistische Perspektiven auf Rassismus und Antisemitismus, die die partikularistische Ein­en­gung auf ein – in den Worten von Du Bois – „Judenproblem“ oder „Schwar­zen­prob­lem“ überwinden sollten.[45]

Vor diesem Hintergrund verstärkten jüdische und afroamerikanische Organisationen ihre Kooperation und ergänzten die öffentliche Problematisierung durch die praktische Arbeit an konkreten Aufgaben.[46] Diese Arbeit konzentrierte sich folglich immer weniger auf bestimmte Erscheinungsformen von Rassismus und Antisemitismus, sondern zielte auf die gesellschaftlichen Bedingungen, die diese Erscheinungen hervorbrachten.[47] Die erste und wichtigste jüdische Organisation, die sich in den Vereinigten Staaten dem Kampf gegen die verschiedenen Formen von Vorurteilen und Diskriminierungen verschrieben hatte, war der AJC, dem – neben vielen anderen deutsch-jüdischen Immigrantinnen und Immigranten – auch Joachim Prinz unmittelbar nach seiner Einwanderung beigetreten war und als dessen Präsident er von 1958 bis 1966 fungieren sollte. Der AJC war die erste jüdische Organisation, die die Bür­gerrechtsbewegung vollständig unterstützte, und sollte auch die letzte sein, die diese Un­ter­stüt­zung aufrechtzuerhalten versuchte, als die jüdisch-afroamerikanische Kooperation ab Ende der 1960er Jahre erodierte.[48]

Eines der wichtigsten Führungsmitglieder des AJC war Shad Polier, der die universalistische Per­spektive der Organisation 1949 in einem programmatischen Aufsatz ausbuchstabierte: „So­zio­logisch gesehen ist es offensichtlich, dass der Unterschied zwischen der Segregation von Schwarzen und der Verfolgung von Juden nur oberflächlich ist. [...] Es ist nicht immer die gleiche Rasse oder das gleiche Glaubensbekenntnis, die misshandelt werden, aber es ist immer die gleiche Bedrohung, die sich unter dieser Misshandlung verbirgt.“[49] Der politische Kampf gegen Rassismus diene damit nicht nur der afroamerikanischen Gemeinschaft, sondern müsse auch im Eigeninteresse geführt werden. Würde man die Hilfe und Kooperation verweigern, hätte man „nicht nur die moralischen Grundsätze unserer Haltung preisgegeben“, sondern auch das Recht verwirkt, „andere um Hilfe in unserem eigenen Kampf um Freiheit und Anerkennung zu bitten“.

Diese Agenda sollte für den AJC in den ersten beiden Nachkriegsdekaden ihre Gültigkeit be­hal­ten. Weitere jüdische Organisationen schlossen sich alsbald dem Kampf um allgemeine Bür­ger­rechte an, insbesondere das American Jewish Committee und die Anti-Defamation League. War die Kooperation in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts vornehmlich eine zwi­schen einzelnen Exponenten beider Gruppen gewesen, wurde sie nun auf eine breitere institutionelle Grundlage gestellt.[50]

Die 1950er und 1960er Jahre sahen schließlich den Aufstieg der afroamerikanischen Bürger­rechts­­bewegung, dessen Beginn zumeist mit zwei Großereignissen assoziiert wird: mit dem Urteil Brown vs. Board of Education, durch das die Rassentrennung an den Schulen aufgehoben wur­de, und mit dem Montgomery Bus Boycott 1955, der als politisches Erweckungserlebnis gilt. Der Boykott, ausgelöst durch die Festnahme Rosa Parks’, die sich geweigert hatte, ihren Sitzplatz für einen weißen Fahrgast freizumachen, machte die 42-jährige Frau zu einer nationalen Ikone und den jungen Baptistenprediger Martin Luther King, der den Vorsitz in der Mont­gomery Improvement Association übernahm, zu einer der wichtigsten Figuren des af­ro­ame­rikanischen Freiheitskampfs.[51]

Während das erste Nachkriegsjahrzehnt der afroamerikanischen Community kaum Verbes­se­run­gen brachte, hatte sich der Status der jüdischen Gemeinschaft hingegen radikal geändert. Un­terlagen Jüdinnen und Juden bis in die 1940er Jahre noch vielfältigen antisemitischen Einschränkungen und Diskriminierungen und dokumentierten Umfragen extreme und weit­ver­brei­tete antisemitische Einstellungen in der amerikanischen Bevölkerung, verlor der Antisemitismus als gesellschaftliche Kraft seine Bedeutung nach 1945 nahezu vollständig.[52] Gleich­zeitig verzeichnete die jüdische Gemeinschaft einen erstaunlichen Aufstieg in die Mit­tel­schicht.[53] Aus einer überwiegend verarmten und verachteten Minderheit wurde binnen eines Jahr­zehnts ein als nahezu gleichwertig angesehener Teil der amerikanischen Gesellschaft. Mit den 1950er Jahren begann das „golden age“ des amerikanischen Judentums, das zwei Jahrzehnte anhalten sollte.[54] Damit änderten sich zunächst die Grundlagen der jüdisch-afroamerikanischen Zu­sam­men­arbeit, indem das ursprüngliche jüdische Eigeninteresse – die Bekämpfung des Anti­se­mitismus – in den Hintergrund trat. Der Kooperation tat dies jedoch keinen Abbruch, im Ge­gen­teil: Sie wurde ab Mitte der 1950er so eng, dass in der Forschung für längere Zeit von einer Black-Jewish Alliance gesprochen wurde – ein Begriff, der heute jedoch kaum noch Verwen­dung findet.[55]

Die 1950er und 1960er Jahre sollten also die Blütezeit sowohl der Bürgerrechtsbewegung unter der spirituellen Führung Kings als auch des Bündnisses zwischen Bürgerrechtsbewegung und großen Teilen der jüdischen Gemeinschaft, insbesondere im Norden der USA, werden. Jüdische An­wältinnen und Anwälte kämpften für die Gleichstellung aller amerikanischen Bürgerinnen und Bürger, jüdische Organisationen übten Druck auf amerikanische Behörden aus und jü­di­sche Aktivistinnen und Aktivisten beteiligten sich überproportional an den vielfältigen Protest­aktionen der Bürgerrechtsbewegung wie den 1960 in Greensboro beginnenden Sit-ins, den Freedom Rides ab 1961, bei denen Schwarze und Weiße gemeinsam mit Bussen in die Süd­staa­ten reisten, um das System der Segregation herauszufordern und zu stürzen, oder dem Missis­sippi Freedom Summer 1964 zur Wähler- und Wählerinnenregistrierung.[56] Ungefähr zwei Drittel der Weißen, die sich an den Freedom Rides beteiligten, waren jüdisch.[57] Die Auf­tritte von Joachim Prinz beim March on Washington 1963 oder von Abraham Joshua Heschel 1965 in Selma waren symbolische Gesten der Zusammenarbeit und Solidarität, die zusätzlichen Druck auf die amerikanische Gesellschaft und Politik ausübten.

So erfolgreich die Kooperation in einigen Bereichen verlief, so durchdrungen war sie von Ambi­valenzen und Konflikten. Auch wenn sich nach 1945 die Zusammenarbeit institu­tio­nalisiert hatte, wurde sie dennoch nicht von allen getragen. Auf beiden Seiten gab es erhebliche Vor­behalte gegen die Kooperation, genährt von rassistischen beziehungsweise antisemitischen Vorurteilen und Einstellungen.[58] Als besonders problematisch sollte es sich erweisen, dass jen­seits mythisch überhöhter Projektionen zwei ökonomisch völlig unterschiedlich situierte Grup­pen miteinander in Kontakt kamen. Nachdem jüdische Bewohnerinnen und Bewohner die innerstädtischen Viertel in den Großstädten des Nordens seit den 1950er Jahren in Richtung Sub­urbs verlassen hatten, boten die verlassenen Gebäude und Wohnungen nun von aus dem Süden zuziehenden Afro­amerikanerinnen und Afroamerikanern Quartier. Obwohl dort kaum noch Jüdinnen und Juden wohnten, behielten viele von ihnen aber ihre Geschäfte oder Immobilien und kon­fron­tier­ten die neue afroamerikanische Bevölkerung dadurch mit ökonomischen Strukturen, die diese häufig als persönliches Ausbeutungsverhältnis wahrnahm. Jüdinnen und Juden kannte man persönlich nur als Vermieter, Pfandleiher oder Arbeitgeber, die einen drangsalierten.[59]

In dem Maß, in dem die ursprüngliche Grundlage der Kooperation – die gemeinsame Erfahrung von Diskriminierung – durch die rasante Integration der Jüdinnen und Juden in die ame­ri­ka­ni­sche Gesellschaft obsolet wurde, stellte sich auf beiden Seiten die Frage nach der individuellen und kollektiven Motivation für die Zusammenarbeit. Befragte man jüdische Aktivistinnen und Ak­tivisten nach ihren persönlichen Gründen, wurden immer wieder die NS-Vergangenheit und der Holocaust genannt. Michael E. Staub, der Augenzeugenberichte über das jüdische Leben in den 1960er Jahren veröffentlicht hat, stellte mit Erstaunen fest, es habe „für viele Aktivisten auf ihren Reisen durch den segregierten Süden eine lebendige und verstörende Erinnerung“ an das nationalsozialistische Deutschland gegeben.[60] Debra Schultz, die für ihr Buch „Going South“ zahl­reiche jüdische Aktivistinnen interviewte, bestätigte diese Beobachtung: „Zweifel­los hat das Wissen um den Holocaust bei vielen jüdischen Bürgerrechtsaktivistinnen den Wunsch geschürt und legitimiert, ge­gen Rassismus zu kämpfen.“[61]

Noch stärker betonten 15 Rabbiner die Verbindung zwischen Holocaust-Erin­ne­rung und dem Kampf gegen Rassismus und für afroamerikanische Bürgerrechte, die im Som­mer 1964 in St. Augustine, Florida, bei einem Bürgerrechtsprotest verhaftet wurden. Sie waren am 17. Juni aufgrund einer dringenden Bitte Martin Luther Kings von der Jahresversammlung der liberalen Central Conference of American Rabbis in Atlantic City, New Jersey, nach St. Augustine geflogen, um den Protest zu unterstützen und mit ihrer Präsenz ein Blutvergießen durch die örtliche Polizei zu verhindern. Im Verlauf des Protests wurden sie schließlich verhaftet – bis heute die größte Massenverhaftung von Rabbinern in der Geschichte der Vereinigten Staaten.[62]

Nach einer Nacht im Gefängnis wurden sie freigelassen. Am Folgetag veröffentlichten sie einen of­fenen Brief, in dem sie über ihre Gedanken, Motive und Empfindungen Auskunft gaben. In die­sem Brief heißt es unter anderem:

„Wir kamen nach St. Augustine vor allem deshalb, weil wir nicht länger fernbleiben konnten. [...] Wir kamen als Ju­­den, die sich an die Millionen gesichtsloser Menschen erinnern, die ruhig dastanden und dem Rauch aus Hitlers Kre­matorien zusahen. Wir sind gekommen, weil wir wissen, dass neben dem Schweigen die größte Gefahr für die Mensch­heit der Verlust des Glaubens an die Handlungsfähigkeit des Menschen ist.“[63]

Erneut tauchen hier bekannte Motive auf: die Erinnerung an den Holocaust, die Sünde des Schwei­gens und der unbedingte Wille zum Handeln angesichts schreienden Unrechts. Unter den führenden afroamerikanischen Bürgerrechtsaktivistinnen und -aktivisten waren es vor al­lem Bayard Rustin und Martin Luther King, die nicht nur die Nähe zu jüdischen Re­prä­sen­tan­tin­nen und Repräsentanten suchten, sondern ebenso eine Verbindung zwischen jüdischer und afro­­amerikanischer Erfahrung zogen, auch mit Blick auf nationalsozialistische Juden­ver­fol­gung und Holocaust. Rustin und King waren es auch, die Zeit ihres Lebens vehement gegen Anti­semitismus in der afroamerikanischen Community kämpften und sich gegen bisweilen hef­ti­ge interne Widerstände für den jüdischen Staat Israel einsetzten.[64]

Im Mai 1958 wurde King zum Nationalkonvent des AJC nach Miami Beach eingeladen, jener Ver­sammlung, auf der Joachim Prinz zum Präsidenten gewählt werden sollte. In seiner Rede be­rief sich King auf eine gemeinsame Geschichte von Sklaverei und Befreiung – ein Ar­gu­men­ta­tionsmuster, das er bis dahin schon häufiger entwickelt hatte:

„Mein Volk wurde in Ketten nach Amerika gebracht. Ihr Volk wurde hierhergetrieben, um den Ketten zu entkommen, die ihm in Europa angelegt worden waren. Unsere Verbundenheit entsteht aus unserem jahr­hun­der­telangen gemeinsamen Kampf, nicht nur, um uns von unserer eigenen Knechtschaft zu be­frei­en, sondern auch, um die Unterdrückung eines Volkes durch andere unmöglich zu ma­chen.“[65]

In den folgenden Jahren sollte King diese Argumentation in ähnlichen Worten immer wieder aufgreifen und bisweilen sogar noch weiter zuspitzen, wenn er beispielsweise die Schriften Martin Bubers heranzog, insbesondere auf dessen Werk „Ich und Du“ Bezug nahm und sich mit Fragen von Legalität und zivilem Ungehorsam beschäftigte. In Kings berühmten „Letter from Birmingham Jail“ stellt er die Frage, was er als Nicht-Jude im Dritten Reich getan hätte:

„Wir dürfen nie vergessen, dass alles, was Hitler in Deutschland tat, ‚legal‘ war [...]. Es war ‚illegal‘, einem Juden in Hitler-Deutschland zu helfen und ihn zu trösten. Aber ich bin sicher, dass ich, wenn ich zu dieser Zeit in Deutschland gelebt hätte, meinen jüdischen Brüdern ge­hol­fen und sie getröstet hätte, auch wenn es illegal war.“[66]

Die Liste solcher Vergleiche zwischen jüdischen und afroamerikanischen Erfahrungen, die mit Verweis auf den Holocaust eine zusätzliche Schärfe erhielten, ließe sich problemlos fort­füh­ren.[67] Es handelte sich hier zunächst um Begründungen und nicht unbedingt um tatsächliche Gründe.[68] Dennoch ist es aufschlussreich, dass Verweise auf den Holocaust zur Rechtfertigung des eigenen Handelns gegen Rassismus insbesondere von Jüdinnen und Ju­den stammen, die in Amerika geboren worden waren. Jüdische Immigrantinnen und Immigranten aus Deutsch­land wie Prinz, Manasse oder Rasmussen sprachen eher über Segregation, Aus­gren­zung oder Diskriminierung, wenn sie die Verhältnisse verglichen. Ihr Erfahrungshintergrund war derjenige der ersten Phase nationalsozialistischer Verfolgung vor dem Übergang zum or­ga­nisierten Massenmord.

Die politische Wahrnehmung der in Amerika geborenen Jüdinnen und Juden war hingegen eine andere. Sie sprachen und handelten als Teil einer Gemeinschaft, die fernab von Europa physisch weit­gehend unbeschädigt durch die Zeit des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust gekommen war. Gleichwohl wurde ihr schon in den 1940er Jahren und viel mehr noch danach Versagen vor­geworfen, weil sie sich zu wenig für die von den Nationalsozialisten verfolgten Jüdinnen und Juden in Europa und Nordafrika eingesetzt hätte. Sie habe geschwiegen, so der Vorwurf, als sie ihre Stimme für die Unterdrückten hätte erheben müssen.[69] Nach dem Krieg konnten die­se Vorhaltungen bisweilen zu einer Art Schuldkomplex führen, der in Aktivismus für andere ver­folgte Minderheiten mündete. Nicht noch einmal sollte geschwiegen werden, wenn Protest und Solidarität gefragt waren.[70] Oder wie es Rabbi Richard L. Rubenstein formulierte, nachdem er im Mai 1963 nach Birmingham, Alabama, gereist war, um einen Protest Martin Luther Kings zu unterstützen: „Ich bin ein wenig genervt und ermüdet von dem neuerlichen Re­frain, dass ‚Juden sich ihrem eigenen Untergang unter Hitler passiv gefügt hätten‘ [...]. Ich woll­te ein Akteur bei den Ereignissen sein und nicht nur Zuschauer oder Kommentator.“[71]

V. „The Great Debate“: Joachim Prinz und die Bürgerrechtsbewegung

Dass Joachim Prinz im Sommer 1937 mit seiner Familie nach Amerika einwandern konnte, verdankte er maßgeblich dem Präsidenten des AJC, Stephen S. Wise, der mit einem Affidavit für Prinz’ finanzielle Unabhängigkeit bürgte, ihm unmittelbar nach seiner Ankunft die ersten Schritte als politischer Redner in Amerika ermöglichte und ihm schließlich 1939 auch eine Stelle als Rabbiner in der Gemeinde B’nai Abraham in Newark, New Jersey, verschaffte, wo er bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1977 bleiben sollte.[72]

Eine politische Heimat fand Prinz ebenfalls in Wises AJC, dessen prägende Figur er alsbald wur­de. Betrachtet man Prinz’ frühes Engagement gegen Rassismus in Amerika, wie es sich in seinem Aufsatz von 1937 ausdrückte, und die besondere Rolle, die der AJC für die Bürger­rechts­bewegung spielte, schien sich hier auf den ersten Blick eine symbiotische Beziehung an­zu­deuten. Allerdings speiste sich Prinz’ Nähe zum AJC aus anderen Quellen, nämlich der für den AJC prägenden Verbindung aus Zionismus, politischem und religiösem Liberalismus sowie ei­ner international ausgerichteten Politik. Zur Bürgerrechtsagenda des AJC ging er hingegen auf Distanz.[73] Vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ver­nich­tungs­politik sowie seiner eigenen Erfahrungen mit Judenemanzipation und Antisemitismus ent­wickelte Prinz in den 1940er Jahren eine zunehmend pessimistische Sicht auf die Zukunft des Ju­dentums. Obwohl die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und die Gründung des jüdischen Staats Israel 1948 auf den ersten Blick positive Aussichten zu verheißen schienen, blieb Prinz skeptisch. In einem programmatischen Aufsatz aus dem Jahr 1949 ließ er sogar verlauten, diese Ereignisse könnten das Ende des Judentums einleiten.[74]

Grundlage dieser Warnung war Prinzʼ Ansicht, das Judentum habe über die Jahrhunderte ins­be­sondere durch seinen Gegensatz zur nichtjüdischen Umwelt überlebt. Aus diesem Gegensatz hät­ten sich bestimmte jüdische (Über-)Lebenskräfte ausgebildet: erstens die osteuropäischen Jü­dinnen und Juden, die das amerikanische Judentum geistig und durch Masseneinwanderung auch demografisch belebt hätten; zweitens die jüdischen Tragödien in Europa bis hin zum Ho­locaust, die die amerikanischen Jüdinnen und Juden in ihrem Kampf für jüdische Rechte auf der ganzen Welt hätten zusammenrücken lassen; und – drittens – der Zionismus, der es als eine messianische Kraft vermocht habe, die Zionistinnen und Zionisten in ihrem utopischen Traum vom Heiligen Land Erez Israel zu vereinen. „Diese drei Faktoren jüdischen Überlebens im 19. und 20. Jahrhundert“, konstatierte Prinz, gebe es aber „heute nicht mehr.“ Und wenn schließlich die Anfangseuphorie über die Staatsgründung Israels verflogen sei, „werden wir mit uns allein sein, und wir werden wissen wollen, was wir mit unserer jüdischen Existenz anfangen sollen. [...] Das Überleben in Gegenwart eines jüdischen Staats ist etwas, das sich radikal von bloßer Galut [Diaspora]-Existenz unterscheidet. Warum überleben? Wofür?“ Seinen Text schloss er mit dem Aufruf, auf diese drängenden Gegenwartsfragen Antworten zu finden, um ei­ne jüdische Zukunft zu sichern. Dringend nötig sei „ein Programm für das Überleben des amerikanischen Judentums“.

Mit dieser Mahnung stand Prinz aber durchaus nicht allein. Vielmehr war sie Teil einer Debatte, die die jüdische Öffentlichkeit insbesondere seit den späten 1940er Jahren erfasst hatte. Tat­säch­lich hatte es im 19. und 20. Jahrhundert bestimmte politische Konstellationen gegeben, die das jüdische Leben weltweit ordneten. Zum einen fand ein fruchtbarer gegenseitiger Austausch der drei großen jüdischen Zentren Osteuropa, Westeuropa (insbesondere Deutschland) und Nord­amerika statt. Zum anderen standen große Teile der jüdischen Gemeinschaften auf der ganzen Welt po­litisch vor dem Gegensatz zwischen dem Zionismus, der eine jüdisch-ethnische Nationalität eben­so anstrebte wie eine jüdische nationale Heimstätte in Palästina, und liberalen Vor­stellungen, nach denen die vollständige Integration der Jüdinnen und Juden in ihren Hei­mat­staa­ten das politisch-rechtliche Ziel sein müsse; Judentum sei lediglich konfessionell zu fassen. Mit der weitgehenden Zerstörung des jüdischen Lebens in Europa war nach 1945 nur noch ein bedeutendes Zentrum übrig: Nordamerika. Und auch der liberal-zionistische Gegensatz begann sich aufzulösen: Israel war die Erfüllung des zionistischen Ziels, und die amerikanischen Jü­din­nen und Juden wurden im Verlauf des ersten Nachkriegsjahrzehnts nahezu vollständig in­tegriert. Angesichts dieser Entwicklungen gerieten Teile des amerikanischen Judentums in eine Art Identitätskrise.[75]

Der AJC war davon besonders betroffen, hatte er doch seit seiner Gründung im Jahr 1918 maß­geblich als Vertretung osteuropäisch-jüdischer Interessen sowohl in der internationalen als auch der nationalen Politik operiert. Mit dem faktischen Ende jüdischer Einwanderung aus Osteu­ro­pa seit Mitte der 1920er Jahre, aber insbesondere nach 1945/48 amerikanisierte sich der AJC in ge­wisser Weise, was sich auch in der Führung der Organisation widerspiegelte. Waren die ers­ten beiden Präsidenten des AJC Stephen S. Wise (Amtszeit: 1918–1949) und Irving Miller (Amtszeit: 1949–1951) noch Immigranten aus Budapest beziehungsweise Kaunas gewesen, avancierte 1951 Israel Goldstein zum ersten in Amerika geborenen Präsidenten.

Die Identitätsfrage wurde somit von vielen Führungspersönlichkeiten des AJC gestellt – jedoch sehr unterschiedlich be­antwortet. Zwei der wichtigsten Personen im AJC, die Tochter des ersten Prä­­sidenten Stephen S. Wise Justine Wise Polier und ihr Ehemann Shad Polier, welche die Or­ganisation seit den 1940er Jahren geprägt hatten, waren mitverantwortlich für die Ausrich­tung des AJC auf den Kampf um allgemeine Bürgerrechte. Hier sahen sie die Zukunft des AJC. Shad Polier verteidigte diese Ausrichtung 1949 gegen aufkommende Kritik in den eigenen Rei­hen mit scharfen Worten: „Ein neuer Isolationismus, eher ethnisch als geografisch, hat einige Teile des amerikanischen Judentums erfasst. Die­se Engstirnigen haben sich gegen jegliches jüdische Interesse an oder Eingreifen in Probleme des Minderheitenstatus gewehrt, die nicht offensichtlich, unmittelbar und ausschließlich Juden betreffen.“[76] Einer sol­chen Tendenz hielt Polier entgegen, dass dieser Bürgerrechtskampf zwar auch jü­di­schen In­ter­es­sen diene, aber vor allem das Herzstück jüdischer Ethik und Tradition sei:

„Indem wir danach streben, die [Rassen-]Trennung zu zerstören, arbeiten wir nicht nur an der Verwirklichung der Ide­ale jüdischer Sittlichkeit, sondern wir greifen auch die grundlegende und eigentliche Ursache von Vorurteilen an. Genau in dieser Untrennbarkeit des Triumphs der Ideale und des physischen Überlebens liegt die einzigartige Schön­heit der jüdischen Ethik.“

Shad Polier und Justine Wise Polier sollten in den folgenden Jahren diese Agenda mit aller Kraft gegen zunehmende Widerstände im AJC verteidigen. Diese Widerstände richteten sich nicht gegen den Antirassismuskampf als solchen, sondern gegen seine Dominanz, die auf Kosten originär jüdischer Themen gehe. Sprachrohr dieser kritischen Haltung gegenüber der Bürgerrechts­agen­da wurde schließlich Joachim Prinz.

Im Gegensatz zu den genannten Führungspersönlichkeiten des AJC vertrat Prinz die Auf­fas­sung, dass sich der AJC stärker auf jüdische Themen konzentrieren und jüdische Bildung for­cie­ren müsse, um das Überleben des Judentums zu garantieren. Inspiration und Unterstützung fand er dabei bei Horace Kallen, der nicht nur ein prominenter Philosoph und In­tellektueller war, sondern auch ein führendes Mitglied des AJC, auch wenn er dort vor­wie­gend im Hintergrund wirkte. Von Kallen übernahm Prinz die Idee des „Cultural Pluralism“, nach der die Stärke der amerikanischen Nation auf kultureller Pluralität beruhe. Es könne daher nicht darum gehen, diese Pluralität aufzulösen; man müsse sie im Gegenteil erhalten und stärken.[77]

Als ebenso wichtige Inspirationsquelle für Prinz kann Mordecai Kaplan gelten, der Begründer des jüdischen Rekonstruktionismus, der nach Reformjudentum, Orthodoxie und Kon­ser­va­tis­mus vierten jüdischen Denomination in Amerika.[78] Insbesondere Kaplans Konzept der Jewish People­hood inspirierte Prinz. Danach seien Jüdinnen und Juden weltweit als Peoplehood mit­ein­an­der verbunden – eine Gemeinschaft jenseits rein konfessioneller, aber auch ethnisch-natio­naler Bestimmung. In seinem Buch „Jewish Peoplehood“ beschrieb der Historiker Noam Pianko die Entstehung des Konzepts als eine Verschmelzung europäischer Ideen und Erfah­run­gen mit den zwischen einem religiösen und einem ethnisch-nationalen Verständnis divergier­enden Selbstwahrnehmungen des amerikanischen Judentums.[79]

Die europäischen Wurzeln des Konzepts, die Pianko betonte, verweisen dabei auf den Hintergrund des Konflikts im AJC, in dem auch entgegengesetzte Selbstwahrnehmungen miteinander kon­kur­rierten, nämlich die der Jewish Americans auf der einen und der American Jews auf der an­deren Seite. Die in Amerika geborenen und aufgewachsenen Personen rund um die Poliers ver­standen sich viel mehr als jüdische Amerikanerinnen und Amerikaner und besetzten damit Themen, die die amerikanische Gegenwart betrafen, insbesondere den allgegenwärtigen Bür­gerrechtskampf. Die Gruppe um Prinz und Kallen hingegen besaß einen viel stärkeren Bezug zu transnationalen Konzepten eines jüdischen Volks beziehungsweise einer Jewish Peoplehood. Sie sahen sich damit eher als amerikanische Jüdinnen und Juden. Es war wohl kein Zufall, dass neben Prinz auch Kaplan und Kallen europäischer Herkunft waren. Während Kaplan aus Litauen stammte, lagen die Geburtsorte Kallens und Prinz’ in Schlesien lediglich 70 Kilometer von­einander entfernt.

Obwohl Prinz das Anliegen der Bürgerrechtsbewegung vollständig unterstützte und obwohl er immer wieder gegen Rassismus und Segregation eingetreten war, spitzte sich der Konflikt zwischen den verschiedenen Selbstwahrnehmungen im Lauf der 1950er Jahre immer weiter zu und entwickelte sich teilweise auch zu einer persönlichen Fehde zwischen den Poliers und Prinz. Die­se Auseinandersetzung wurde intern als „The Great Debate“ bezeichnet, um ihren grund­sätz­lichen Charakter zu demonstrieren.[80] Auch wenn sie sich im Kern nicht um Antirassismus als po­­litische Grundhaltung des AJC drehte, überschnitt sie sich doch mit der Frage, wie man sich zum Bürgerrechtskampf verhalten sollte. Immer wieder betonte Prinz, dass dieser Kampf nicht zulasten jüdischer Themen geführt werden dürfe und dass es das Kernanliegen des AJC bleiben müs­se, die Zukunft des Judentums zu sichern. Auf einer Sitzung des Verwaltungsausschusses des AJC im April 1958 warnte er: „Der [American Jewish] Congress kann nicht weiterbestehen, wenn er sich nur auf Fragen der bürgerlichen Freiheiten und Bürgerrechte beschränkt. Wir sind ei­ne jüdische Bewegung, und wir müssen einen Beitrag zum Überleben des jüdischen Volks leis­ten.“[81]

Wenig später, im Mai 1958, eskalierte dieser Konflikt schließlich auf dem Nationalkonvent des AJC in Miami Beach. Bei dieser Versammlung wurde Prinz erstmals zum Präsidenten des AJC gewählt – ein Hinweis darauf, dass seine politischen Vorstellungen mehrheitsfähig ge­worden waren. In seiner Auftaktrede beklagte er, dass „zu viele von uns im Bürger­rechts­pro­gramm des [American Jewish] Congress Zuflucht suchen, weil es die Möglichkeit bietet, einer jü­dischen Organisation anzugehören, ohne sich an einem ‚jüdischen Programm‘ zu beteiligen“. Zwar sollten die Mitglieder des AJC weiterhin für Bürgerrechte eintreten, dies jedoch nur „als Juden und weil wir Juden sind“.[82] Gleichwohl waren seine Gegnerinnen und Gegner nicht bereit, Prinz das Feld kampflos zu überlassen. In einer Erwiderung verteidigte Justine Wise Polier ihrerseits die Bürgerrechtsagenda, welche die Organisation in der zurückliegenden Dekade geprägt hatte: „Aufgrund unseres Erbes, unseres Glaubens, der intuitiven und alles andere als in­stinktiven Reaktion des Juden gegen Ungerechtigkeit oder die Verletzung der Men­schenwürde sind wir dem Kampf für die menschliche Freiheit verpflichtet – ganz gleich, ob sie gut für das Überleben des jüdischen Volkes ist oder nicht.“[83]

Der Nationalkonvent 1958 war aber nicht nur von diesem Streit geprägt, sondern auch von der An­wesenheit eines prominenten Gasts: des jungen Baptistenpredigers Martin Luther King. Zum ers­ten Mal in seinem Leben sprach King dort zu einem ausschließlich weißen Publikum in ei­nem Bundesstaat des Südens, in dem die Jim-Crow-Gesetze galten. Die Koinzidenz der Er­eignisse entbehrte nicht einer gewissen Ironie. Gleichwohl war es Prinz nicht darum gegangen, den Bürgerrechtskampf zu den Akten zu legen. Im Gegenteil, er wollte ihn weiterführen, aber mit einer stärkeren jüdischen Ausrichtung verbinden. Nur wenn dies gelinge, würde das Engagement für afroamerikanische Bürgerrechte auch zum Überleben des jüdischen Volks bei­tragen.

Die Worte, die er nach seiner Wahl zum Präsidenten an die Mitglieder des AJC richtete, können durchaus auch als Angebot an seine Widersacherinnen und Widersacher verstanden werden. Die politischen Ziele seiner Präsidentschaft bestünden darin, so Prinz, die amerikanischen Jü­din­nen und Juden vollständig in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren und der Tendenz ei­ner Selbstisolation entgegenzuwirken. Das war im Grunde auch die Forderung der Poliers ge­wesen, die sich wiederholt gegen jüdischen Isolationismus ausgesprochen hatten.[84] Diese Aus­führungen waren aber auch Ausdruck seiner innersten Überzeugung und kein politischer Op­portunismus oder Kompromiss. Dies wurde deutlich, als Prinz seine Rede damit begann, wie ihn Stephen S. Wise 1937 nach Amerika geholt und damit vor den Nationalsozialisten gerettet hatte. Mit der Wahl zum Präsidenten des AJC sei „etwas in Erfüllung gegangen [...], was damals noch nicht einmal ein Schimmer in meinen Augen war“.[85] Für die Beschreibung seiner po­li­tischen Ziele benutzte er zudem Konzepte und Begrifflichkeiten, die er schon 1935 in seinem be­reits zitierten Aufsatz zur jüdischen Ghettosituation in NS-Deutschland ausformuliert hatte.[86] So äußerte er in teils ähnlicher Diktion:

„Das jüdische Volk lebt nicht in einem Ghetto. Ein Ghetto ist nicht nur ein geografischer Begriff für eine se­gre­gierte Nachbarschaft. Ein Ghetto ist eine Mentalität. Wir lehnen jede Art der Ghettoisierung oder jede Art von Ghe­tto-Mentalität ab. [...] Wir haben auf diesem Konvent das genaue Gegenteil von Ghettoisierung gefordert. Wir ha­ben die Integration des Juden gefordert.“[87]

Diese Parallelführung seiner Erfahrungen aus der NS-Zeit und seiner politischen Ziele im Nachkriegsamerika war charakteristisch für Prinz, betraf aber nicht nur die jüdische Gemeinschaft, sondern erstreckte sich auch auf die afroamerikanische Community, wovon der March on Washington fünf Jahre später ein beredtes Zeugnis ablegen sollte. Nicht um die Auf­lösung aller kulturellen, religiösen oder ethnischen Unterschiede könne es gehen, sondern nur um die volle Integration aller Teile der amerikanischen Gesellschaft bei Beibehaltung ihrer je­wei­ligen Eigenarten und Besonderheiten. Allein so könne der Kampf für die afroamerikanische Be­völkerung auch zu einer Stärkung des Judentums führen und sein Überleben sichern.[88]

VI. „I speak to you as an American Jew“: Der March on Washington 1963

Joachim Prinz nutzte seine Präsidentschaft, um den AJC wieder internationaler auszurichten und die Verbindungen mit Israel zu stärken.[89] Dennoch blieb die Bürgerrechtsagenda erhalten, aber auch der Konflikt mit den Poliers dauerte fort. Unterdessen hatte die Bürger­rechts­be­we­gung Anfang der 1960er Jahre erheblich an Dynamik gewonnen und versuchte, das System der Ras­sentrennung endgültig zu stürzen. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg dahin sollte der March on Washington werden, der nach langer Vorbereitung am 28. August 1963 stattfand und ein über­ragender Erfolg wurde. Dass an einer solchen Veranstaltung auch ein Vertreter der jü­di­schen Gemeinschaft, einer der wichtigsten Verbündeten in den zurückliegenden Dekaden, teil­neh­men würde, verstand sich von selbst. Die Wahl fiel zunächst auf Isiah Minkoff, Vorsitzender des National Jewish Community Relations Advisory Council, der jedoch wenige Tage vor der De­monstration durch Joachim Prinz ersetzt wurde.[90]

In kurzer Zeit wurde von der Pressestelle des AJC eine Rede für Prinz vorbereitet, die er jedoch um­gehend verwarf, als er sie nach seiner Ankunft in Washington D.C. am Vorabend des Marschs zum ersten Mal lesen konnte.[91] Nicht dass es sich dabei um eine schlechte Rede gehandelt hätte, er wollte sie aber zu einer persönlicheren Ansprache machen und Elemente sei­ner eigenen Biografie und seiner politischen Agenda einbinden, die für ihn prägend gewesen waren. In der Nacht vor dem Marsch schrieb er schließlich die Rede, die er wenige Stunden später halten und mit der er berühmt werden sollte. Anders als von der Pressestelle geplant, er­öffnete er seine Rede nun mit dem Satz: „I speak to you as an American Jew.“[92] Damit mach­te er öffentlich, was er in den zurückliegenden Auseinandersetzungen im AJC immer be­tont hatte: dass der jüdische Einsatz für die Bürgerrechtsbewegung nur von einer jüdischen Po­sition aus erfolgen dürfe. Danach sprach er über Isolation und Nachbarschaft. Dabei nutzte er erneut Konzepte und Begrifflichkeiten, die er bereits 1935 entwickelt hatte[93] und nun, in leicht abgewandelter Form, verallgemeinerte: „Als Gott den Menschen schuf, schuf er ihn als ei­nes jeden Nachbarn. Nachbar ist kein geografischer Begriff. Er ist ein moralischer Begriff. Er be­deutet unsere kollektive Verantwortung für die Bewahrung der Würde und Integrität des Men­schen.“

Gegen Ende der Rede verwies er auf eine „dreieinhalbtausendjährige jüdische Geschichts­er­fah­rung“, bestehend aus Sklaverei, Ghettoexistenz und Emanzipation; daraus er­wachse eine be­son­dere Nä­he zur afroamerikanischen Gemeinschaft und ein tieferes Verständnis für ihre Si­tua­tion. Und zuletzt sprach Prinz auch von seiner Zeit als Rabbiner im nationalsozialistischen Ber­lin und von der seinerzeit gewonnenen Erkenntnis, dass angesichts von Diskriminierung und Ver­folgung einer Minderheit die größte Sünde das Schweigen der Mehrheit sei:

„Als ich unter dem Hitlerregime Rabbiner der jüdischen Gemeinschaft in Berlin war, habe ich viele Dinge gelernt. Das Wichtigste, das ich unter diesen tragischen Umständen gelernt habe, war, dass Intoleranz und Hass nicht das dringlichste Problem sind. Das dringlichste, das schändlichste, das beschämendste und das tragischste Problem ist das Schweigen.“

Der Marsch war ein überwältigender Erfolg der Bürgerrechtsbewegung, der auch auf Prinz ab­f­ärbte und seine Reputation als Civil Rights Rabbi begründete. In den unzähligen Briefen, die Prinz in den folgenden Tagen erreichten, wurde immer wieder auch die Besonderheit seiner Worte hervorgehoben. Julius Wildstein, Mitglied des AJC und von Prinz’ Gemeinde B‘nai Abra­ham, schrieb im Ton des Stolzes und emotionaler Überwältigung:

„Ich bin sicher, dass es einen Tag in der Zukunft geben wird, an dem meine Tochter von ihren Kindern gefragt wird, wo wir am 28. August 1963 waren, und die Antwort wird sein, dass wir in Washington D.C. waren und nicht zu den ‚stillen Zuhörern‘ gehörten, wie es in der wunderbaren Rede von Rabbi Prinz – unserem Rabbiner – so ein­drucksvoll dargestellt wurde.“[94]

Roy Wilkins, Geschäftsführer der NAACP, berichtete Prinz im Nachgang von der verbreiteten Mei­nung, „dass ‚der Rabbiner‘ unter den zwei oder drei Besten war“.[95] Auf der Präsidiums­sit­zung des AJC einige Tage nach dem Marsch wiederholte Prinz Schlüsselelemente seiner Rede wie das Konzept der Nachbarschaft, die Ghetto-Metapher und die Bedeutung jüdischer Er­fah­run­gen mit Segregation für ein besseres Verständnis der afroamerikanischen Situation. Im Protokoll der Sitzung heißt es schließlich: „Am Ende seiner mitreißenden Rede erhielt Dr. Prinz stehende Ovationen.“[96]

VII. Schlussbetrachtung: Historische Erfahrung und politisches Handeln

Der March on Washington vom 28. August 1963 war wohl einer der Höhepunkte in der Geschichte der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung, nicht zuletzt wegen Martin Luther Kings zur Ikone gewordenen Rede über seinen Traum von einer Gesellschaft ohne Rassismus und Vorurteile. Er war vielleicht auch der Höhepunkt jüdisch-afroamerikanischer Kooperation und zugleich ihr Wendepunkt. Insbesondere zum Ende der 1960er Jahre hin sollte sich das Ver­hältnis zwischen beiden Gruppen verschlechtern. Es kam vermehrt zu Missverständnissen, An­schuldigungen und Beleidigungen bis hin zu körperlichen Angriffen. Für diese schrittweise Ent­fremdung gab es verschiedene sozioökonomische und politische Gründe, die bereits grob skiz­ziert wurden.[97] Wenige Jahre später blickte Prinz auf den Marsch zurück und würdigte in pa­thetischen Worten seine Bedeutung insbesondere für das Überleben des jüdischen Volks in der Gegenwart. In einem Aufsatz schrieb er, dass die Beteiligung von Jüdinnen und Juden am Bür­ger­rechtskampf „die einzige bedeutende Bewegung im zeitgenössischen Juden­tum“ gewesen sei. Es habe sich um die „Anwendung jüdischer Werte auf die Probleme von G­erechtigkeit, Gleichheit, Hunger und Frieden“ gehandelt. Für ihn persönlich sei der Marsch auf Washington gar „die größte religiöse Erfahrung“ seines Lebens gewesen. Er habe der Welt ge­­zeigt, „dass das Judentum zu seinen prophetischen Lehren zurückgekehrt“ sei „und nicht län­ger ein Antiquitätenmuseum“ darstelle, „sondern eine lebendige und handelnde Religion des 20. Jahrhunderts“.[98]

Dieser Rückblick verweist noch einmal auf die lange und komplizierte Geschichte jüdisch-afro­amerikanischer Kooperation, die im 19. Jahrhundert begann, in den 1950er und 1960er Jah­ren ihren Höhepunkt erreichte und ab Ende der 1960er Jahre zunehmend erodierte. Die Er­fah­run­gen des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust hatten dieser Verbindung nach 1945 eine an­dere Dimension verliehen und ihr eine neue Richtung gegeben. Der rassistische Vernich­tungs­krieg des Deutschen Reichs und seiner Verbündeten setzte die Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus mit unbedingter Dringlichkeit auf die politische Tagesordnung und machte sie zu globalen Phänomenen, die dadurch besser kommunizierbar und an­scheinend auch vergleichbar wurden. Angesichts der Gleichzeitigkeit verschiedener Diskriminierungs­sys­te­me wurden Fragen nach der Gleichheit oder zumindest Ähnlichkeit ihrer Ursachen und Fol­gen laut. Der Vergleich dieser Phänomene war jedoch alles andere als einfach oder eindeutig. So oft er auch von verschiedenen Seiten bemüht wurde, ließ sich auf theoretischer Ebene kaum ein Konsens herstellen. Zu unterschiedlich waren die Methoden der Vergleiche und die Kontexte, in die sie gestellt wurden.

Der vorliegende Aufsatz beschreibt zwei jüdische Kontexte: den amerikanisch-jüdischen und den von Immigrantinnen und Immigranten. Jüdinnen und Juden, die in den 1930er und 1940er Jahren aus Europa, insbesondere aus Deutschland, in die Vereinigten Staaten kamen und sich gegen Rassismus engagierten, begründeten diesen Einsatz bisweilen mit der vermeintlichen Ähnlichkeit der Segregations- und Ausschließungsmechanismen des Antisemitismus, die sie selbst erfahren hatten. Bezugnahmen auf den Holocaust waren dabei die Ausnahme und eher im amerikanisch-jü­dischen Kontext zu vernehmen. In den USA geborene Jüdinnen und Juden argumentierten und agierten auch vor dem Hintergrund der Kritik an ihrer angeblichen Passivität angesichts des Massenmords in Europa und begründeten damit ihr Engagement für die Bürger­rechts­be­we­gung.

Die Auseinandersetzung mit dem deutsch-amerikanischen Rabbiner Joachim Prinz kann diesen Ge­gensatz auf paradigmatische Weise erhellen. Prinz war schon, als er noch in Deutschland leb­te, nicht nur ein bei der Jugend beliebter Rabbiner, der sich gegen die Angriffe des NS-Regimes wehrte, sondern auch ein früher und leidenschaftlicher Gegner des (amerikanischen) Ras­­sismus. Nach seiner Übersiedlung in die Vereinigten Staaten schloss er sich dem AJC an, der sich seit 1945 bedingungslos hinter die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung stellte und damit zu deren wichtigstem jüdischen Verbündeten wurde. Prinz machte im AJC Karriere, war von 1958 bis 1966 dessen Präsident und hatte schließlich die Ehre, der jüdische Haupt­ver­tre­ter beim March on Washington 1963 zu sein. Allerdings war die Zeit vor und während Prinzʼ Präsidentschaft von einem schweren Konflikt über die programmatische Ausrichtung des AJC überschattet, der zwischen zwei Fraktionen und zwei verschiedenen Auffassungen ausgetragen wurde, die hier idealtypisch den Jewish Americans und American Jews zugeschrieben werden. Für Erstere, die in Amerika Geborenen, war die Bürgerrechtsbewegung die wichtigste po­li­ti­sche Bewegung des 20. Jahrhunderts. Die Zukunft der amerikanischen Demokratie schien daran zu hängen, wie erfolgreich die Bewegung letztendlich sein sollte. Jedes partikulare jüdische In­teresse, so die Überzeugung, müsse diesem allgemeinen Interesse untergeordnet werden. Für Letztere, aus Europa nach Amerika eingewandert, standen andere Themen im Vordergrund. Ins­be­sondere Joachim Prinz vertrat ein transnationales Verständnis des Judentums, das auf sei­nen eigenen Erfahrungen mit Emanzipation und Antisemitismus in Europa beruhte. Der Bür­ger­rechtskampf war wichtig, musste aber einem viel wichtigeren Kampf untergeordnet werden, dem um das Überleben des jüdischen Volks nach dem Holocaust und der Gründung Israels.

Über die Biografie des Rabbiners Joachim Prinz lassen sich somit bestimmte intellektuelle und politische Debatten über Rassismus und Antisemitismus besser verstehen. Migrantinnen und Migranten wie Prinz brachten nicht nur eigene Erfahrungen mit, als sie aus dem national­so­zialistischen Deutschland nach Amerika kamen, sondern setzten diese auch mit den Verhältnissen in ihrer neuen Heimat in Beziehung. Diese Migrationsbewegungen haben damit nicht allein zu einem Transfer von Ideen geführt, sondern auch zur Globalisierung und Universalisierung von zuvor eher regional oder national gedachten Phänomenen sowie zu Versuchen, diese intellektuell zu durchdringen. Die transnationale Dimension sowohl der deutsch-jüdischen Geschichte als auch von Rassismus und Antisemitismus kann damit in be­son­derer Weise ausgeleuchtet werden.

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 9.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0001/html
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