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Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeitgeschichte – das Beispiel Großbritannien

  • Martina Steber EMAIL logo and Tobias Becker
Published/Copyright: January 1, 2022

Die Modellfrisuren für Herren, die der Zentralverband des deutschen Friseurhandwerks für das Frühjahr 1983 vorstellte, erinnerten frappant an die Männerköpfe der 1950er Jahre. „Junge Män­ner waren zu besichtigen gewesen, die mit ihrer Haartolle niemand anderem ähnelten als dem 70jährigen Mann, der 1981 Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wurde: ein geöltes und festgekämmtes Gebilde, das kaum ein Windstoß aus der Fasson zu bringen vermag“, bemerkte Michael Rutschky. Der Soziologe und Journalist deutete den Frisurentrend, der bei einem Spaziergang durch jede „beliebige Mittelstadt“ zu besichtigen sei, als Zeichen für eine Rückkehr zum Stil der 1950er Jahre. Frisuren- und Kleidungsstile seien mehr als vor­über­gehende Modeerscheinungen: Sie markierten nach außen hin Einstellungen und Gruppen­iden­titäten.

„Wenn ich im Anzug mit Weste eines der Lokale betrete, die von unserem Lehrer und seinesgleichen, zu deren Codex auch die ‚Emanzipation‘ (positiv) und ‚Repression‘ (nega­tiv) gehören, bevölkert werden, dann werde ich verblüfft, wenn nicht feindselig angeschaut, als wäre ein Seminole ins Stammesgebiet der Irokesen eingedrungen, ohne die Rituale zu befolgen, die für einen solchen Grenzübertritt vorgeschrieben sind. Und wenn unser Lehrer eines dieser elegant stilisierten Cafés betritt, in denen sich diese Jünglinge mit dem Haarschnitt von Ronald Reagan aufzuhalten pflegen, wird er auf kaum weniger Feindseligkeit stoßen.“

Die Kleider­mode der Jungen und der „Codex“, der sich mit ihr verband, sei „höchst konservativ, gegen den Zeitverlauf in vielen Elementen immunisiert“ und vor allem auch eine Rebellion gegen die 1968er-Generation.[1] Solche und andere Kulturen des Konservativen zwischen den 1970er Jah­ren und der Jahrtausendwende nimmt dieser VfZ-Schwerpunkt, konzentriert auf das Fall­bei­spiel Großbritannien, in den Blick.

Nicht nur wenn es um Kleidermoden ging, stellten Beobachterinnen und Beobachter in den 1980er Jahren fest, dass der „Zeitgeist“ konservativ geworden war. Je nach politischem Stand­ort war diese Diagnose mit Bedauern oder Freude behaftet, denn sie wurde zumeist umgehend ins Politische gewendet: Konservative Tendenzen in der Kultur zeugten in dieser Lesart vom Er­folg der „Tendenzwende“ und der „geistig-moralischen Wende“, die sich mit dem Regie­rungs­wechsel 1982 und der christlich-li­beralen Koalition unter Helmut Kohl verband.[2] Zumeist fehlte auch nicht der Hinweis auf die in­ter­na­tionale Dimension der perzipierten konservativen Wen­de – mit den Regierungswechseln in Groß­britannien und den USA 1979/80 als Schlüssel­er­eignissen sowie mit Margaret Thatcher und Ro­nald Reagan als Schlüsselfiguren. Jürgen Habermas hob diese Lesart in den phi­lo­sophischen Dis­kurs, als er 1980 in seiner Frankfurter Adorno-Preis-Rede „konservative“ Strömungen der Ge­genwart – dazu rechnete er auch die Postmoderne – als Feinde des auf­klä­re­rischen Projekts der Moderne zeichnete.[3] Kultur wurde einmal mehr zu einem politischen Leit­begriff, zu einem „Schlüsselbegriff für den Zusammenhalt der Gesellschaft“ und damit zum Ge­gen­stand politischer Auseinanderset­zun­gen.[4]

Neben diesen vereindeutigenden Lesarten stand die nicht weniger einflussreiche Interpretation von der „neue[n] Unüber­sicht­lich­keit“, die auf die Vielfalt, Wider­sprüch­lich­keit und Uneindeutigkeit kultureller Phänomene abhob.[5] „Die 80er“, so der selbst ernannte „Zeitgeistjournalist“ Matthias Horx, „waren das Jahr­zehnt der Verwirrung, des produktiven Durcheinanders, des Kuddelmuddels in Köpfen, Bäu­chen und Seelen.“[6] Tatsächlich lassen sich die 1980er Jahre als Jahrzehnt beschreiben, in dem sich die langfristigen Trends einer Plu­ra­li­sie­rung von Lebenswelten und der Individualisierung von Lebensläufen weiter entfalteten und breitere kulturelle Wirkung zeitigten – als ein Jahrzehnt charakterisiert durch eine „Kultur der Wi­dersprüche“.[7] Dass etablierte Wahrnehmungskriterien verrutschten, wird durch die Verwir­rung illustriert, die sich über die Bewertung der kulturellen Verschiebungen einstellte: War es pro­gressiv, wenn junge Männer sich Frisuren aus den 1950er Jahren zulegten, oder zeugte dies nicht doch viel eher von einer konservativen Haltung? „Auf nichts und niemand ist mehr Ver­lass“, konstatierte Horx geradezu verzweifelt. „Wenn keiner mehr entscheiden kann, ob nicht die Linken in Wahrheit erzkonservativ und die Yuppies eman­zipatorisch, ob die Entfremdung nicht längst verbindliche Realität, Realität hingegen längst eine Abstraktion darstellt – wer soll da Maßstäbe setzen?“[8] Die Kategorien waren ins Rutschen ge­kommen. Das galt zuvorderst für die Zuschreibungsbegriffe progressiv und konservativ.

Die kulturelle Dynamik entsprach der Veränderungsdynamik im politischen Konservatismus zwischen den 1970er Jahren und der Jahrtausendwende. Zentrale Ideen und Überzeugungen wurden neu gefasst, neue Akteure mobilisiert, neue Gruppen, Organisationen und Netzwerke etabliert.[9] Ähnliches zeigte sich im Kulturellen, sei es in der Hochkultur, in Medienkulturen, in All­­­tags- oder in Lebensstilkulturen: Eine allgemeine Zukunftsskepsis und, als Gegenstück, eine ver­meintliche „Nostalgie-Welle“, die Wiederentdeckung der Geschichte sowie die Betonung von Moral und Familienwerten oder von Regionalität und Heimat, ein Akzent auf Indi­vi­dua­lismus und Subjektivität, die Distanzierung der Postmoderne von modernen Funktionalitäten – die Dekaden zwischen 1970 und der Jahrtausendwende zeichneten sich in Hoch- wie Populär­kul­tur durch eine Fülle neuer Weichen­stellungen aus, die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen nicht selten als konservativ verstanden.[10] Mit den Zweifeln an der Fort­schritts­­gewissheit, die sich seit den frühen 1970er Jahren ausgehend von Alternativ- und Um­weltbewegungen ver­breitet hatten, wurden die Zeitordnungen westlicher Gesellschaften infrage gestellt. Wie sich Zu­kunft gewinnen ließ, musste neu verhandelt werden. Dies implizierte eine Aus­einandersetzung mit dem Vergangenen.[11]

Auch im Bereich der Alltagskulturen formierte sich Konservativität neu, das hat die US-ame­rikanische Forschung gezeigt: Konservative Alltagskulturen entwickelten sich dort seit den späten 1940er Jahren in Vororten und Geschäftsdistrikten großer Städte, in Vereinen und religiösen Bewegungen, in Unternehmen und Think Tanks, in Universitäten, im Militär und in den Medien. In den 1970er Jahren kam diese Entwicklung zum Durchbruch. Die Gründe und die Impulse für die neue kulturelle Präsenz des Konservatismus waren vielfältig: Sie reichten vom Antikommunismus über die Bür­ger­rechts- und Studentenbewegung, die Durchsetzung liberaler Gesellschaftsvorstellungen und ihre Repräsentanz in den Medien, die neuen sozialen Bewegungen bis hin zur Sichtbarkeit von Migrantinnen und Migranten in Städten und Gemeinden. Die Voraussetzung dafür bildete die Formierung des New Conservatism seit den späten 1940er Jah­ren, die nicht von ungefähr aus Alltagspraxen schöpfte.[12] Während sich die US-ame­ri­ka­ni­sche Forschung seit zwei Jahrzehnten intensiv mit solchen konservativen Alltagskulturen be­schäf­tigt, tappen wir für die Geschichte Westeuropas noch weitgehend im Dunkeln, zumal was weiter­wirkende Kontinuitäten und vergleichbare Neuansätze angeht.

Im Zerbrechen zentraler Ordnungsideen über Wirtschaft, Identität, Nation oder Zeit, in der Infragestellung von Theorien und Denkstilen über die moderne Gesellschaft, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der westlichen Welt dominiert hatten, erkannte der US-amerikanische Historiker Daniel T. Rodgers die Signatur des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts, das er als „era of disaggregation, a great age of fracture“ beschrieb. Ein neuer marktliberal und individualistisch gewendeter Konser­va­tis­mus, der seit den 1970er Jahren zwar wichtige Impulse aus Großbritannien und den USA er­hielt, aber in der gesamten westlichen Welt zu einer politischen Größe wurde, gehörte einerseits zu den Schrittmachern des Zerberstens überkommener Gewissheiten, andererseits war er selbst Phä­nomen des „Age of Fracture“.[13] Verflüssigung und Hybridisierung, die Rodgers als Kenn­zei­chen intellektueller Vergewisserungsprozesse ausmachte, charakterisierten auch den ideellen wie kulturellen Raum des Konservatismus.

Wenn sich die vier Beiträge des VfZ-Schwerpunkts mit Kulturen des Konservativen in der jüng­sten Zeitgeschichte beschäftigen, nehmen sie Ausgang von dieser Beobachtung. Sie rech­nen mit Ambiguitäten und überraschenden Mischungen, jedenfalls mit einer grundsätzlichen Plu­ralität dessen, was den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen als konservativ erschien. Sie verstehen den Kon­ser­va­tis­mus seit den 1970er Jahren als plurales kulturelles Phänomen und damit nicht ausschließlich als politisches Projekt. Kulturen des Konservativen konnten po­li­ti­siert werden, mussten es aber nicht; sie konnten genauso in einem exklusiv kulturellen Be­zugs­rah­men historische Wirkung entfalten.[14] Es sind mindestens drei Dimensionen zu un­ter­schei­den, in denen Kulturen des Kon­ser­vativen auf­scheinen konnten: Erstens in politischen Kulturen des Konservatismus, also in Partei- wie politischen Milieukulturen, aber auch in gegen­kul­tu­rel­len Subkulturen; zweitens in nichtpolitisierten Alltagskulturen, die flüchtig sein, aber sich auch ver­festigen konnten; drit­tens in Form künstlerischer Artefakte der Hoch- wie Populärkultur so­wie dem weiten in­ter­pre­tativen Raum, der sie umgab und dem in verschiedener Weise kon­servative Bedeutung zu­ge­schrieben werden konnte, einmal durch Selbstpositionierungen von Künst­lerinnen und Künstlern mit ihren Wer­ken, dann durch Zuschreibungen von außen und schließ­lich durch politische Ver­einnahmungen.

Die vier Beiträge des Schwerpunkts konzentrieren sich auf die Populärkultur, um an diesem Beispiel ebenjene Mehrdimensionalität herauszuarbeiten, die Kulturen des Konservatismus so viel­schichtig erscheinen ließ. Die Autorinnen und Autoren machen auf die konservativen Po­tenziale populärer Kulturen aufmerksam und weisen damit auf ein vernachlässigtes For­schungs­feld hin, das in fruchtbarer Weise die Politik- mit der Kulturgeschichte verbindet. Wenn sie die Populärkultur als politische Kultur untersuchen, nehmen sie einen Gegenstand in den Blick, der von kulturgeschichtlich inspirierten Ansätzen der Politikgeschichte eher ausgespart wurde, wohl weil er mit einem engen, traditionellen Kulturbegriff assoziiert wurde.[15]

Der VfZ-Schwerpunkt ist von der neueren Popgeschichte inspiriert und an deren Verständnis von Pop als Epochensignatur der jüngsten Zeitgeschichte orientiert. Die neuere Popgeschichte definiert Pop einerseits als „komplexe Konstellation von Klängen, Bildern, Akteuren, Medien, Raum- und Zeitregimes“, „deren Elemente miteinander weder beliebig noch deterministisch verbunden waren“,[16] und andererseits als einen „Sammelbegriff für ästhetische Phänomene mit mas­senhafter Verbreitung“, die sich von der Hochkultur als etablierter Elitenkultur abheben und mit Vergnügen und dem Populären assoziiert werden.[17] Dieses analytische Verständnis im­pliziert die politische Offenheit und Multidimensionalität des Phänomens, die auch kon­ser­va­­tive Spielarten einschließen. Umso wichtiger ist es, nach den Verflechtungen zwischen Pop­kul­­tur und Politik zu fragen – auch und gerade im Falle des Konservatismus.

Dabei war der Begriff Konservatismus von einer ähnlichen Mehrdimensionalität ge­kenn­zeich­net, wie dies für Kulturen des Konservativen zwischen den 1970er Jahren und der Jahr­tau­send­wen­­de der Fall war. Konservativ bezeichnete zum ersten eine allgemeine Haltung zu Wandel in der Zeit, die sich in Lebenseinstellungen und Lebensweisen manifestierte. In diesem Sinne mein­te konservativ ein Leben in der Gegenwart in Wertschätzung des Bewährten, kurz: dem aus der Vergangenheit Überkommenen, und eine Skepsis gegenüber einem Zuviel an Fort­schritt. Der britische Politiktheoretiker Michael Oakeshott hat dieses Konservatis­musver­ständ­nis als „disposition“, als Haltung, bezeichnet, aus der alltägliches Denken und Handeln schöpf­ten:

„To be conservative, then, is to prefer the familiar to the unknown, to prefer the tried to the untried, fact to mystery, the actual to the possible, the limited to the unbounded, the near to the distant, the sufficient to the superabundant, the convenient to the perfect, present laughter to Utopian bliss. Familiar relationships and loyalities will be preferred to the allure of more profitable attachments; to acquire and to enlarge will be less important than to keep, to cultivate and to enjoy; the grief of loss will be more acute than the excitement of novelty or promise.“[18]

Eine zweite Verwendungsweise zielte auf die politische Ideologie des Konservatismus als Theorie politischen Denkens, wie sie sich seit dem späten 18. Jahrhundert in Europa und den USA als eine der großen politischen Ideologien der Moderne ausgebildet hat, und auf die po­li­tische Praxis konservativer Politik in Parlamenten, Parteien und Regierungen. Auf diese Begriffsbestimmung nehmen auch die von der historischen Forschung vorgeschlagenen analytischen Modelle des Konservatismus Bezug.[19] Konservativ war, drittens, immer auch ein po­litischer Kampfbegriff, eine sprachliche Waffe, die von Anhängern wie Gegnern in der politischen Auseinandersetzung eingesetzt wurde.[20] All diese Verwendungsweisen begegnen uns in der historischen Untersuchung von Kulturen des Konservativen in sehr verschiedenen Mischungsverhältnissen. Sie sind konsequent zu historisieren.

Wenn sich dieser VfZ-Schwerpunkt auf den Konservatismus seit den 1970er Jahren kon­zentriert, beschäftigt er sich mit jener Epoche, welche die in­ter­na­tio­na­le Forschung als zu­vor­derst durch den ökonomischen Strukturbruch gekennzeichnet sieht. Da­­bei wird der politische Kon­servatismus angloamerikanischer Couleur, wie er sich im trans­at­lantischen Schulterschluss her­ausbildete, als Taktgeber des historischen Wandels begriffen. Die Forschung hat bislang in erster Linie auf die sozial- und wirtschaftspolitische Agenda ab­ge­hoben, die von der Li­be­ra­li­sierung der (Finanz-)Märkte, dem Rückbau des Wohlfahrts­staats und der Individualisierung der Risikovorsorge geprägt war.[21] Das angloamerikanische kon­ser­vative Projekt strahlte dabei in globalem Maßstab aus und gab konservativen Kräften in West­eu­ropa Rückenwind; es stand im politischen Zentrum der ökonomischen, politischen und so­zialen Transformationsprozesse „nach dem Boom“.[22] Dieser Interpretation entsprechend erscheint der Konservatismus seit den 1970er Jahren in vielen Studien als Neoliberalismus in konservativem Gewand, wobei dieses Ge­wand mehr als Verkleidung denn als Ausdruck von Überzeugung gedeutet wird.[23]

Allerdings war der Konservatismus um einiges komplexer, als die gängigen Interpretationen vor­­geben – dies zeigt nicht zuletzt die ausdifferenzierte Forschung zum New Conservatism und der New Right in den USA sowie zum britischen Konservatismus.[24] Denn obwohl öko­no­mi­schem Denken, politischen Strategien und neoliberalen, transatlantischen Netzwerken si­cherlich hohe Bedeutung in der Formierung und politischen Etablierung eines erneuerten Kon­ser­vatismus in den westlichen Industriestaaten zukam,[25] manifestierte sich dieser auch als viel­schicht­iges kulturelles Phänomen. Dessen Einfluss und Wirkmächtigkeit ist für die Geschichte West­­europas erst in Ansätzen erforscht.[26] Der VfZ-Schwerpunkt nimmt diese Fäden auf.

Nicht zufällig richten alle vier Beiträge den Blick auf Großbritannien, denn dem Vereinigten Kö­­nigreich kam sowohl für die Neuformierung des Konservatismus wie als kultureller Kontakt­zone zwischen Europa und den USA eine zentrale Rolle zu. Aufgrund der im Vergleich zu Kon­tinentaleuropa schwächer ausgeprägten Unterscheidung zwischen Hoch- und Po­pu­lär­kul­tur operierten kulturelle Akteurinnen und Akteure hier freier von staatlichen Interventionen und Ein­flüssen.[27] Dies ging mit einer schon seit dem 18. Jahrhundert ausgeprägten Kom­merz­ia­li­sie­rung einher, die sich unter Thatcher nicht zuletzt durch die Absenkung von Subventionen noch einmal verstärkte: Kultur musste sich auf dem Markt – und das bedeutete nun auch ver­stärkt dem internationalen Markt – bewähren, um bestehen zu können.[28] Zugleich ermöglichten die geringeren Vorbehalte gegenüber der Populärkultur, dass ihre Stars in den Rang von na­tio­nal treasures erhoben werden konnten, wie dies auf dem Kontinent allenfalls bei gefeierten Künstlern, Komponisten und Literaten der Hochkultur der Fall war.[29] Die britische Popkultur profitierte dabei vom globalen Erfolg der US-amerikanischen Kulturindustrien, insbesondere von Hollywood-Film und Rock’n’Roll, der Globalisierung der englischen Sprache und von den Impulsen, mit denen Migrantinnen und Migranten aus dem Commonwealth die bri­ti­sche Kultur bereicherten. So erreichten Großbritannien Entwicklungen aus Europa, den USA und anderen Teilen der Welt, die kulturell aufgenommen, in vielfältiger Weise trans­for­miert und in einen zunehmend transnationalen Raum der Populärkultur zurückgespielt wurden. Groß­bri­tannien avancierte – mit einem Wort – zur popkulturellen Drehscheibe.[30]

Es ist evident, dass für die Entschlüsselung von Kulturen des Konservativen ein weiter Begriff von Kultur anzulegen ist, ein Begriff mithin, der Kultur sowohl im Sinn von Hoch- und Po­pu­lär­kultur meint wie auch als den Alltag durchdringende „Sinn- und Unterscheidungssysteme, die als spezifische Formen der Weltinterpretation dienen“ und die umkämpft, uneindeutig und in ständiger Veränderung begriffen sind.[31] Angelehnt an die Geschichte des Politischen ist mit­hin von Kulturen des Konservativen auszugehen. So gerät die Pluralität von Erscheinungs- und Aus­drucksformen besonders in den Blick, die für die Dekaden seit den 1970 Jahren charakteristisch war.[32]

So sehr kulturgeschichtliche Perspektiven die Konservatismusforschung zu befruchten ver­mö­gen, so instruktiv erweisen sich konservatismusgeschichtliche Perspektiven für die Kulturge­schichts­­schreibung. Das Interesse von Forschungen zu populärer Kultur und Popkultur gilt in der Regel neuen, avantgardistischen Formen, Stilen und Genres, während ihre konservativen Pen­dants selten untersucht und in ihrer Wirkung oftmals unterschätzt werden.[33] Dies trifft auf die Forschung zu hochkulturellen Formen in bildender Kunst, Literatur, Musik, Film, Archi­tek­tur oder Theater sicherlich weniger zu, doch auch hier wird der inhärente Konservatismus selten reflektiert.

Die Beiträge des VfZ-Schwerpunkts interessieren sich für das Beziehungsgefüge von Kultur und politischem Konservatismus: für die Einflüsse und Wirkungen konservativer Politiken, Ide­en­vorräte und Institutionen im Feld der Kultur und, vice versa, jener kulturellen Akteurinnen und Akteure, Artefakte oder Genres, die sich selbst als konservativ verstanden oder von anderen als konservativ verstanden wurden. Beispielhaft möchten die Autorinnen und Autoren des VfZ-Schwer­punkts zeigen, welche Potenziale ein solcher Ansatz bietet. Er bringt voneinander ge­schie­dene Forschungsfelder der Geschichtswissenschaften genauso in den Dialog wie die His­to­­riografie mit ihren Nachbardisziplinen, in unserem Fall der Musikwissenschaft. Der erste Bei­trag, der auf dieses Editorial folgt, stammt von Martina Steber und untersucht mit der po­pulären Klas­sik ein bislang kaum erforschtes Genre. Das Beispiel des britischen Komponisten, Di­ri­gen­ten und Musikunternehmers John Rutter macht deutlich, wie sich populäre Musik­kul­tu­ren um die geistliche Musik ausbilden konnten und zum widersprüchlichen Ausdruck his­torisch christ­lich geprägter, säkularisierter Kulturen einer britisch kodierten Anglosphäre wurden. Im fol­genden Heft nimmt Nikolai Wehrs mit „Yes Minister“ eine populäre britische TV-Satire in den Blick und zeigt, wie stark diese vom Thatcherismus geprägt war – und nicht von ungefähr in der Premierministerin ihren größten Fan hatte. Tobias Becker wiederum analysiert, welche Be­deutung Begriffen wie progressiv und konservativ in einem popkulturellen Genre wie dem Rock zukam und wie sich dieses im „Age of Fracture“ verflüssigte. Aus musik­wis­sen­schaft­li­cher Perspektive entschlüsselt schließlich Amanda Eubanks Winkler mit den Musicals des bri­ti­schen Komponisten Andrew Lloyd Webber eine einflussreiche kulturelle Begleit­er­schei­nung des Thatcherismus. In der transnationalen Popkultur seit den 1970er Jahren mani­fes­tier­ten sich eben auch Kulturen des Konservativen, die mit dem politischen Konservatismus in vielfältigen Austauschbeziehungen standen.

Was den Untersuchungszeitraum angeht, setzen die Beiträge unterschiedliche Schwerpunkte, die sich aus den Themen ergeben: Nikolai Wehrs und Amanda Eubanks Winkler konzentrieren sich auf die 1980er Jahre, Martina Steber und Tobias Becker eröffnen eine weite Perspektive von den späten 1960er bis in die 2000er Jahre. Alle Aufsätze heben jedoch die 1970er Jahre als Zeit der Um- und Aufbrüche wie der politischen und kulturellen Neukonfiguration des Kon­ser­va­tismus hervor. Dabei fanden sich Kulturen des Konservativen sicherlich nicht allein in po­pu­lä­rer Musik, in Fernsehserien und im Musical. Sie waren in vielerlei Genres präsent, präg­ten Sub­kulturen wie Alltagskulturen der westlichen Mehrheitsgesellschaften und ver­ban­den po­li­ti­sche Parteien und Bewegungen mit ihrer sozialen Umwelt. Der zukünftigen Forschung öffnet sich hier ein weites Feld.

Die Beiträge des VfZ-Schwerpunkts nehmen konsequent solche kulturellen Arenen in den Blick, die von der europäischen Forschung bislang kaum mit konservativen Bewegungen in Verbindung gebracht wurden. Dabei wird deutlich, dass die binäre Gegenüberstellung von pro­gressiv und avantgardistisch hie und konservativ und konventionell da nicht aufgeht, im „Age of Fracture“ gar nicht aufgehen kann. Sicherlich bringt die Verbindung zweier so vieldeutiger Be­­griffe wie konservativ und Kultur das Risiko mit sich, beide unscharf zu machen, aber zu­gleich bietet sich die Chance, sie im Verhältnis zueinander genauer zu bestimmen. Denn eine Er­forschung von Kulturen des Konservativen verwischt zwar die Konturen des Politischen, legt aber zugleich seine Fluidität wie (alltags)kulturelle Verankerung frei. Umgekehrt deckt sie die blin­­den Flecken einer Kulturgeschichte auf, die einem Fortschrittsdenken verschrieben ist, das – auf Innovation und Originalität­ abhebend – vermeintlich Rückschrittliches und Kon­ven­tio­nelles systematisch ausblendet. Auch auf diese Weise kann sie unser Verständnis der Trans­for­mationsprozesse der jüngsten Zeitgeschichte bereichern und die Pfade ausmessen helfen, die in un­sere Gegenwart führen.

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 17.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0006/html
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