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„A very English superstar“

John Rutter, die populäre Klassik und der transnationale Konservatismus seit den 1970er Jahren
  • Martina Steber EMAIL logo
Published/Copyright: January 1, 2022

Abstract

Der britische Komponist, Dirigent und Musikunternehmer John Rutter gehört seit den 1980er Jahren zu den wenig beachteten Größen der populären Klassik – im globalen Musikmarkt erfolgreich, in der anglophonen Welt populär, mit seinen Weihnachtslied-Kompositionen regelmäßig an der Spitze der Klassik-Charts platziert. Rutter verkörpert all das, was gerade nicht mit der kommerziellen Popkultur verbunden wird. Er ist das Gegenbild eines Popstars, er reüssiert mit geistlicher Musik, er adressiert Mittelschicht und Bürgertum, er personifiziert Familienwerte, Gemeinschaftssinn und Traditionswahrung. Am Beispiel Rutters zeigt die Autorin, welch hohe Bedeutung konservativen Popkulturen für die Herausbildung und Entwicklung eines transnationalen Konservatismus in Europa und Nordamerika seit den 1970er Jahren zukam. Der Aufsatz legt das Zusammenspiel von Nationalisierung und Transnationalisierung im Konservatismus offen und weist auf die Vielfalt an Formen und Kontexten hin, in denen sich konservative Haltungen in populären Musikkulturen manifestieren konnten. Sie boten Potenziale für Politisierungen, konnten aber auch allein im Kulturellen wirksam bleiben. Rutters Klangwelten weisen weit über englische Kathedralen und College Chapels hinaus.

Abstract

Since the 1980s, it has been largely unnoticed how the British composer, conductor and music entrepreneur John Rutter has become a leading figure in popular music – successful on the global music market, popular in the English-speaking world and regularly at the top of the classical music charts with his Christmas song compositions. Rutter embodies precisely the opposite of commercial pop culture: He is the antitype of a pop star, he succeeds with sacred music, he addresses the middle class and the Bourgeoisie and he personifies family values, community spirit and the preservation of tradition. Using the example of Rutter, the author demonstrates the high importance of conservative pop cultures for the emergence and development of a transnational conservatism in Europe and North America since the 1970s. The article reveals the interplay between nationalisation and transnationalisation in conservatism and points out the variety of forms and contexts, in which conservative dispositions can manifest in popular musical cultures. They offered opportunities for politicisation, but could also remain effective purely in the cultural sphere. Rutter’s sound worlds clearly transcend English cathedrals and college chapels.

Vorspann

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zerbrachen zentrale Ordnungsideen, die seit 1945 in der westlichen Welt dominiert hatten. Dabei war ein neuer, marktliberal und individualistisch gewendeter Konservatismus gleichermaßen Konsequenz wie Schrittmacher dieses vielschichtigen Prozesses, der Grenzen verflüssigte und hybride soziokulturelle Phänomene hervorbrachte. Der VfZ-Schwerpunkt nimmt die bislang weitgehend unbeachteten Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeitgeschichte Europas in den Blick. Großbritannien gilt dabei als transnationale Drehscheibe für Stile, Moden und Verhaltensweisen, die politisiert werden konnten, aber nicht unbedingt mussten. Martina Steber zeigt dies am Beispiel des britischen Komponisten, Dirigenten und Produzenten John Rutter auf. Sie legt die Vielfalt an Erscheinungsformen und Kontexten offen, in denen sich konservative Haltungen in populären Musikkulturen manifestieren, und lotet insbesondere die konservativen Potenziale der populären Klassik seit den 1970er Jahren aus.

I. John Rutter und die Kulturen des Konservativen

Als einen „sehr englischen Superstar“ porträtierte der australische Journalist Nick Galvin den britischen Komponisten, Dirigenten und Produzenten John Rutter im Sydney Morning Herald. Mit Glatze, Brille und klassischem Hemd entspreche Rutter eher dem Typus des Pastors einer englischen Dorfpfarrei denn dem eines global gefeierten Stars der klassischen Musik. In der geistlichen Chormusik gelte er als „the world’s greatest living composer“.[1] Und tatsächlich konnte Galvin davon ausgehen, dass John Rutter dem australischen Publikum wohlbekannt war: Rutters Weihnachtslied-Kompositionen waren seit den 1970er Jahren in das musikalische Repertoire der angloamerikanischen Weihnachtskultur eingegangen, in welcher der Chormusik weiter­hin eine bedeutende Rolle zukam. Mit ihr verband sich einer­seits die soziale Praxis des Chorsingens und der Chorkonzerte als gesellige Ereignisse lokaler Ge­sellschaften; andererseits waren chorische Weihnachtslieder ein Produkt der globalen Mu­sik­industrie, das sich rentabel vermarkten ließ und bestens verkaufte. Seit den 1990er Jahren do­miniert John Rutter diesen globalen Markt und konkurriert jedes Jahr erneut im Weihnachts­geschäft mit Pop-Ikonen um Verkaufszahlen und Chartplätze.

Der australische Journalist, der mit Rutter englische Ländlichkeit und Kirchlichkeit assoziierte, hob nicht von ungefähr die Weihnachtsmusik des Komponisten besonders hervor. Sie dient der Inszenierung eines in Tradition, Christlichkeit, Dörflichkeit und Intimität gegossenen Weihnachts­fests als Bindeglied einer durch das britische Imperium geprägten englisch­spra­chi­gen Welt. Diese populäre Musikkultur widerspricht dem gängigen Verständnis von Popkultur nicht nur, sie ist ihr bewusst entgegengesetzt. Sie versteht sich in einem musikalischen Sinne als konservativ, und auch in der sozialen Praxis, die sich mit ihr verbindet, sowie in ihren kul­tu­rellen Zuschreibungen finden sich Elemente des Konservativen. Rutter lässt sich indes nicht auf Weihnachten reduzieren, vielmehr hat er mit anderen geistlichen Kompositionen ähnlichen Erfolg – in der Welt der Kirchenmusik, auf den internationalen Konzertbühnen und auf dem kommerziellen Musikmarkt. John Rutter verkörpert all das, was gängiger Weise gerade nicht mit der kommerziellen Popkultur verbunden wird: Er ist das Gegenbild eines Popstars, er re­üs­siert mit klassischer geistlicher Musik, er füllt Kirchen und Konzertsäle, er adressiert Mit­tel­schicht und Bürgertum, er personifiziert Familienwerte, Gemeinschaftssinn und Traditions­wah­rung. Mit John Rutter lässt sich eine Seite der Popkultur fassen, die gerade ob ihrer Gegen­läu­fig­keit bislang von der Forschung völlig unbeachtet blieb.

In der Figur John Rutters und seinem Beitrag zur populären Klassik lassen sich, so die These des Aufsatzes, Kulturen des Konservativen in der populären Musikkultur seit den 1970er Jahren exem­plarisch greifen. Was zeichnete diese aus? Was machte sie konservativ? Und was mochte das Konservative im Kulturellen bedeuten? Rutters Musik ist geistliche Musik, die den Kir­chen­raum transzendiert und auf dem Markt der Unterhaltungskultur Erfolge feiert. An ihrem Bei­spiel offenbaren sich Transformationsprozesse im Verhältnis von Konservatismus und Christentum, die durch die Pluralisierung des Religiösen und die rapide Entkirchlichung euro­päi­scher Gesellschaften bedingt sind und die durch die kulturgeschichtliche Brille neu gelesen werden können.

Dabei handelt es sich bei dem „Superstar“ der geistlichen Chormusik nicht zufällig um einen britischen Musiker. Seit dem 18. Jahrhundert zeichnete Großbritannien eine hohe Durchlässigkeit zwischen Hoch- und Populärkultur aus, und als vormaliges imperiales Zentrum so­wie aufgrund der globalen Dominanz der englischen Sprache hatte sich das Land zur glo­ba­len Drehscheibe der Popkultur der zweiten Hälfte des 20. und des frühen 21. Jahrhunderts ent­wickelt. Gleichzeitig gingen von Großbritannien entscheidende Impulse in der Neuformierung des politischen Konservatismus aus, die sich auch kulturell manifestierten.[2] Es sind diese Pro­zesse, in die der Aufstieg John Rutters zum unwahrscheinlichen „Superstar“ eingewoben ist. In wel­chen Formen also erschienen Kulturen des Konservativen in der populären Musikkultur zwi­­schen den 1970er Jahren und der Jahrtausendwende? Wo lagen die Potenziale für kon­ser­vative Politisierungen? In welchem Verhältnis standen die Transnationalität der Popkultur und die konservative Wertschätzung für das Nationale in Großbritannien zueinander?

Die historische Forschung hat sich mit konservativen Potenzialen populärer Musikkulturen in der jüngsten Zeitgeschichte kaum beschäftigt. Daher ist es nötig, zunächst das Feld zu vermessen und die Begriffe zu klären. Dann wird John Rutter als Komponist, Dirigent und Mu­sikunternehmer vorgestellt, um schließlich die vielschichtigen Kulturen des Konser­va­ti­ven auszumessen, die sich um Rutter und seine Musik ausgebildet haben. Sie werden auf zwei­fache Weise sichtbar: erstens mittels der Selbstzuschreibungen des Komponisten und sei­ner Positionierung im kulturpolitischen Diskurs; zweitens über die Konstruktion nationaler Iden­tität und, eng damit verbunden, über transnationale Identitätsangebote westlicher, christlich ge­prägter Kultur im Horizont des Weihnachtsfests. Eine abschließende Betrachtung leuchtet die konservativen Potenziale populärer Musikkulturen in der jüngsten Zeitgeschichte jenseits des hier vorgestellten Fallbeispiels aus. John Rutters Musik hatte und hat einen konservativen Klang. Warum das der Fall ist, wird der Aufsatz zeigen.

II. Konservatismus und populäre Musikkulturen

Sehr selten hat die historische Forschung nach den konservativen Potenzialen populärer Mu­sik­kulturen in der jüngsten Zeitgeschichte gefragt. Vielmehr standen solche Genres, Stile und Sub­kulturen im Vordergrund, die vertraute, etablierte Muster des Musikkonsums und des Musik­machens infrage stellten und musikalische Innovation mit sozialen Experimenten verbanden. Seit den 1960er Jahren politisierten sich populäre Musikkulturen zunehmend als Ge­genkulturen und positionierten sich dementsprechend vornehmlich im linken Teil des politischen Spektrums.[3] Denn die Zuschreibungsbegriffe progressiv und konservativ dienten in der Popkultur seit den frühen 1970er Jahren als Leitkategorien der kulturellen Selbst­ver­stän­di­gung und Selbstvergewisserung. Zwar erklangen auch im Pop der 1960er Jahre bereits kon­ser­va­tive Stimmen, etwa in Anti-Protestsongs, im Schlager und der Country-Musik, zwar for­mulierte der Punk seit 1977 im Slogan „No future“ nicht nur eine radikale Zukunftsskepsis, son­dern eignete sie sich auch emphatisch an, doch hatte sich ein progressiver, anti-kon­ser­va­ti­ver Mainstream in vielen popaffinen Strukturen durchgesetzt.[4] Diese Gewissheiten verloren sich mit der Wende zu den 1980er Jahren indes rasch.

Die populäre Musik wurde in einem Spannungsfeld zwischen transnationalen und nationalen Struk­turen produziert und rezipiert, musste auf dem Markt reüssieren und verfügte über he­te­ro­gene Fangemeinden – das galt auch für ihre konservativen Spielarten. Auch diese wiesen damit grundlegende Charakteristika der Popkultur seit den 1970er Jahren auf: eine durchgehende Kommerzialisierung durch die Musikindustrie, die Auf­hebung der Grenzen zwischen E- und U-Musik, Transnationalität und eine multidirektionale Kon­sumierbarkeit. Dabei wird Pop mit der neuen Popgeschichte einerseits als „eine komplexe Kon­stellation von Klängen, Bildern, Akteuren, Medien, Raum- und Zeitregimes“ verstanden, „de­ren Elemente miteinander weder beliebig noch deterministisch verbunden waren“;[5] an­der­er­seits gilt er als ein „Sammelbegriff für ästhetische Phänomene mit massenhafter Ver­brei­tung“, der sich von der Hochkultur als etablierter Elitenkultur abhebt und mit Vergnügen und dem Populären assoziiert wird.[6] Dieses analytische Verständnis impliziert die politische Of­fen­heit und Multidimensionalität des Phänomens, die dann eben auch konservative Varianten ein­schließt. Umso wichtiger ist es, nach den Verflechtungen zwischen Popkultur und Politik zu fragen – auch und gerade im Fall des Konservatismus.

Tatsächlich gehört die Popkultur zu den Epochensignaturen des späten 20. Jahrhunderts.[7] Sie wur­de getragen von einer kaufkräftigen Nachfrage und international agierenden, markt­för­migen Kulturindustrien, welche die Musik weiter kommerzialisierten und zu einem Millionen­ge­schäft machten. Ausgehend von der Rockmusik erfasste diese Dynamik schließlich alle Be­rei­che der Musikkultur, auch die klassische Musik.[8] Sie veränderte das Verhältnis von Kultur, Markt und Staat nachhaltig.[9] Die Musikindustrien der USA und Großbritanniens gaben die Ent­wick­lungsrichtung vor.

Auch in der Geschichte des Konservatismus gewannen britische und US-amerikanische intellektuelle wie politische Kräfte seit den 1970er Jahren zunehmend an Einfluss in den west­li­chen Industriestaaten. Dabei unterlagen die jeweils nationalstaatlich verankerten politischen Kon­servatismen beziehungsweise Christdemokratien in Nordamerika und Europa einem grund­stürzenden Transformationsprozess, der ideelle, soziale und kulturelle Aspekte aufwies.[10] Ideell kenn­zeichnete ihn ein Liberalisierungs- und Säkularisierungsschub, der sich im wirtschafts- wie gesellschaftspolitischen Denken manifestierte. Er schöpfte sozial aus der Auflösung tra­dierter sozialmoralischer Milieus und der Formierung neuer, mittelständisch geprägter Le­bens­zu­sam­menhänge der aufstiegsorientierten Schichten der konsumorientierten Wohlstands­ge­sell­schaf­ten, die sich weniger durch feste Milieukulturen als durch plurale Lebensstile aus­zeich­neten.[11] Und er zeigte sich kulturell in der Rekodierung von (religiösen) Weltbildern, der In­fra­ge­stellung des „bürgerlichen Wertehimmels“[12] und der Fragmentierung bürgerlicher Kul­tur­prak­tiken.[13] Die kulturellen Verschiebungen wurden von Prozessen gesellschaftlicher Plura­li­sierung und Individualisierung vorangetrieben, die sich den neuen Konservatismen tief ein­präg­ten. Nicht von ungefähr wuchs dem Individuum in den reformulierten Ideologien des Kon­ser­vativen eine bedeutende Rolle zu; es wurden mithin Formen postmoderner Subjektivität auf­ge­grif­fen und konservativ gewendet.[14] Wenn Individualität immer wieder neu durch die Wahl am kul­turellen Markt gleichsam erschaffen werden und mit sozial distinguierten Arbeits- und Lebens­stilen in Einklang gebracht werden musste,[15] bedeutete dies für einen lebensweltlichen Kon­servatismus eine besondere Herausforderung: Der hohen Veränderungsdynamik, die den kon­servativen Grundsätzen der Bewahrung und der Kontinuität zuwiderlief, musste mit der Kon­struktion des Bleibenden begegnet werden – und dies gerade auch im Medium der schnellen Moden un­terworfenen Popkultur.[16]

Konservative Kulturkritiker begleiteten den Siegeszug der Massenunterhaltungskultur zunächst äußerst kritisch, wobei sie sich in ihrer Ablehnung mit ihren linken Antipoden einig waren.[17] Ihre Stimmen wurden im konservativen Diskurs indes zunehmend an den Rand gedrängt. Der angloamerikanische New Conservatism der 1980er Jahre umarmte geradezu die Popkultur, und es war kein Zufall, dass mit Ronald Reagan ein vormaliger Schauspieler aus Hollywood, der internationalen Zentrale der Unterhaltungsfilmindustrie, an der Spitze einer konservativen Re­gierung stand.[18] Aber auch in kontinentaleuropäischen Ländern wie der Bundesrepublik Deutsch­land öffnete sich der christdemokratisch geprägte Konservatismus der Popkultur, wie nicht zuletzt der Erfolg der Schlagersängerin Nicole mit „Ein bißchen Frieden“ beim Grand Prix Eurovision de la Chanson 1982 illustriert.[19]

Allerdings ginge man fehl, würde man das Verhältnis von politischem Konservatismus und Pop­kultur als einfache Relation von Parteien und ihnen gewogenen Künstlerinnen und Künst­lern beschreiben. Zwar gab es immer wieder solche Fälle, etwa als Dieter Thomas Heck, Mode­ra­tor der „ZDF Hitparade“, 1972 die CDU im Wahlkampf unterstützte und sein politisches Be­kennt­nis mit dem zum „deutschen Schlager“ verband.[20] Doch sie zeigen nur eine Facette einer viel­schichtigen Bezüglichkeit, die sich weit mehr durch Fluidität auszeichnete als durch (par­tei)politische Beständigkeit. Um die populäre Musik, vermittelt über das Hören und Erleben in­dividueller Künstlerinnen und Künstler, Komponistinnen und Komponisten, Bands und Or­ches­ter oder über das eigene Musizieren in Laienformationen aller Art, konnten sich Kulturen aus­bilden, die konservative Sinnordnungen zu stützen vermochten. Auch konservative Lebens­sti­le konnten sich in den kulturellen Praktiken des Musik-Hörens, -Erlebens und -Machens ma­ni­festieren.[21]

Dies war wahrlich kein neues Phänomen, sondern eines der bürgerlichen Moderne, neu waren die Hinwendung zu einer transnationalen Popkultur sowie die vielfältigen Wahlmöglichkeiten, die sich angesichts der expandierenden Musikindustrie und der Pluralisierung der Stile boten. Die konservative Politisierung populärer Musik erfolgte mithin in vielerlei Schattierungen, zu de­nen es nicht zuletzt gehörte, Musikkulturen als genuin unpolitisch zu etikettieren. Der Fest­le­gung von Politik auf einen eng markierten Raum staatlichen Handelns korrespondierte im kon­ser­va­tiven Denken die Definition des Kulturellen als Raum jenseits der Politik, in dem sich der Kon­servatismus als unpolitische Lebenshaltung kultivieren ließ.[22] Dieses Konserva­tis­mus­verständnis hat der britische Philosoph Michael Oakeshott in den frühen 1960er Jahren in ein­präg­same Worte gefasst, im deutschen Diskurs wurde es, vermittelt durch antitotalitäre Denk­mus­ter, nach 1945 einflussreich.[23] Nähert man sich Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeit­geschichte ist daher ein Begriff des Konservatismus nötig, der gerade jene paradoxen po­li­tisch-unpolitischen lebensweltlichen Formen einschließt. Sie konnten sicherlich für kon­ser­va­tive Politik politisiert werden, wenn einzelne Inhalte oder Stimmungen explizit auf politische Vor­haben oder Programme bezogen wurden. In den meisten Fällen geschah dies indes gerade nicht. Auch John Rutter vermied es tunlichst, sich politisch zu positionieren. Das bedeutete aber mit­nichten, dass sich um ihn selbst und seine Musik keine Kulturen des Konservativen aus­ge­bil­det hätten. Das Gegenteil war der Fall.

III. John Rutter: Konservative Klangwelten in der populären Klassik

John Rutter, geboren 1945, ist der Star der britischen Chormusikszene. Aus dem Genre der po­pulären Klassik ist er seit den 1970er Jahren kaum mehr wegzudenken. Rutters Musik läuft auf allen Radiokanälen, die sich klassischer Musik verschrieben haben, allen voran auf Classic FM und mittlerweile auch auf BBC Radio 3. Konzentriert auf geistliche Werke betätigt sich Rut­ter als Komponist, Arrangeur und Dirigent, er leitet mit den Cambridge Singers seinen ei­ge­nen Chor und unterhält mit Collegium Records seit 1984 sein eigenes Plattenlabel, das sich auf die Produktion und Distribution seiner Kompositionen konzentriert. Diese werden von Ox­ford University Press verlegt, genauso wie die von Rutter (mit)verantworteten Editionen kir­chen­musikalischer Chorwerke aller Epochen, allen voran „European Sacred Music“ und „Ca­rols for Choirs“.[24] Die Chorbücher gehören zur Standardliteratur britischer Chöre und prägen de­ren Repertoire. Daneben tritt Rutter als Organisator großer Konzertevents auf: Mitsing-Kon­zerte und Workshops, auf denen er seine Werke einstudiert, stehen neben opulenten Auf­füh­rungen in der Royal Albert Hall in London oder der Carnegie Hall in New York.

Seit den 1980er Jahren ist John Rutter in den USA ähnlich populär wie im Vereinigten Kö­nig­reich, seine Werke werden von Kirchenchören genauso gesungen wie von Kinder-, Jugend- und Schul­chören oder populären Community Choirs.[25] Überhaupt wird seine Musik international stark rezipiert, wovon zahlreiche Aufnahmen diverser Konzertevents auf YouTube zeugen. Seit den 1990er Jahren ging Rutter auch in Deutschland in das chormusikalische Repertoire ein.[26] Der Cäcilienverband der deutschsprachigen Länder, also der Fachverband der katholischen Kirchen­mu­siker, ehrte ihn 2013 mit der Orlando di Lasso-Medaille,[27] 2019 verlieh ihm die Stadt Schwäbisch Gmünd den Preis der Eu­ro­päischen Kirchenmusik.[28] Die Musik­wis­sen­schaft hat dagegen bislang um John Rutter einen weiten Bogen gemacht. Das gilt auch für die Geschichte der Kirchenmusik, wo das Genre der populären geistlichen Klassik, für das Rutter steht, bislang keinen analytischen Niederschlag gefunden hat.[29]

John Rutter verbindet alle Dimensionen des kulturindustriellen Musikmarkts in sich: Von der Kom­position und dem Arrangement über die Aufführung, die Aufzeichnung, die Distribution bis hin zur Vermarktung hält er alles in seiner Hand. Selbst die Interpretation seiner Werke sucht er über die CD-Produktion und die von ihm geleiteten Workshops und konzertanten Auf­füh­rungen zu beeinflussen. Mit seinem „Renaissance-man approach to the business of making music“ widersetzt sich Rutter erfolgreich allen Usancen des Musikgeschäfts.[30] Systematisch hat er sich nach dem Erfolg seines „Gloria“ in den 1970er Jahren den US-amerikanischen Markt ers­chlossen.[31] Die ökonomischen Möglichkeiten des transatlantischen Markts gaben 1979 den Aus­schlag, seine Stelle als Director of Music am Clare College Cambridge zu kündigen und sich selbstständig zu machen. John Rutter wurde der erfolgreiche Unternehmer seiner selbst, mehr noch: Er baute sich zur Marke auf. Ohne Berührungsängste trieb er die Kommerzia­li­sierung seiner Musik voran, schrieb sie in die Konsumkultur der USA wie Großbritanniens ein, wo­bei er von der Professionalisierung und Kommerzialisierung der klassischen Musik im All­ge­meinen und der Sakralmusik in Europa und den USA im Besonderen seit den 1960er Jahren pro­fitierte.[32] Davon zeugte nicht zuletzt die Verwendung von „What Sweeter Music“, eines sei­ner Weihnachtslieder, als Hintergrundmusik für einen Werbespot des schwedischen Auto­bau­ers Volvo, der 1993 auf den amerikanischen Markt zielte.[33] Die Verkäufe von CDs, die nicht mehr nur über sein Label, sondern auch über Naxos oder Universal Classics produziert werden, und von Notenmaterial gehen in die Hunderttausende. Seine CD-Produktionen stehen regel­mä­ßig weit vorne in den Verkaufs-Charts klassischer Musik.[34] Rutter bedient einen globalen Markt.[35]

Während sich die Rezeption in Deutschland und anderen europäischen Ländern auf das Feld geist­licher Chormusik beschränkt, reicht sie in Großbritannien weit darüber hinaus. Das hat zwei Gründe: Erstens hoben Aufführungen seiner Werke bei und Auftragskompositionen für zen­trale Feiern der britischen Monarchie John Rutter in den Rang eines Vorzeigekomponisten in staatlichem Auftrag. Ein Werk Rutters erklang 2000 während des Gottesdiensts zum 100. Geburtstag der Mutter der Queen,[36] 2002 vertonte er zum Goldenen Thronjubiläum Elisabeths II. den Psalm 150,[37] 2011 schrieb er eine Hymn (ein von Chor und Gemeinde gesungenes Lied des anglikanischen Gottesdiensts) zur Trauung von Prinz William und Kate Middle­ton,[38] und auch bei der Hochzeit von Prinz Harry und Meghan Markle erklang John Rutters Musik („The Lord Bless You and Keep You“).[39] Und zum 75. Thronjubiläum Elisabeths II. 2012 ließ Rutter es sich nicht nehmen, eine CD auf den Markt zu bringen, die „Music on Royal Occasions“ bot – gesungen von den Cambridge Singers, dirigiert vom Meister höchstselbst.[40] Auch wenn beim Trauergottesdienst für Helmut Kohl im Dom zu Speyer 2017 das „Sanctus“ aus Rutters „Requiem“ in einer für diesen Anlass neu geschriebenen Fassung gesungen wurde, wies dies zwar auf die Wertschätzung des Komponisten in der deutschen Kirchenmusik hin, verlieh ihm aber nicht die nationale Bedeutung, die ihm in seinem Heimatland zugeschrieben wird. Dies gilt cum grano salis auch für die USA: Für die beiden zentralen Gedenkgottesdienste für die Opfer der Anschläge des 11. September 2001 wurde Rutters „Requiem“ gewählt.[41] Am 1. September 2018 erklang beim Trauergottesdienst für John McCain in der Washington National Cathedral mit „The Lord is my Shepherd“ ebenfalls ein Satz aus Rutters „Requiem“ und unterstrich die herausragende Stellung des Komponisten in der US-amerikanischen Kirchenmusik.[42]

Zur weit über die geistliche Musiklandschaft hinausreichenden Wertschätzung Rutters trägt, zweitens, seine Profilierung als Komponist von Weihnachtsliedern bei. Neben größeren Chorwerken wie dem erwähnten „Requiem“ (1985), „Gloria“ (1974), „Magnificat“ (1990) oder „Mass of the Children“ (2003) besteht sein Werk vor allem aus Carols, also Weihnachtsliedern. An Rutter kommt zur Weihnachtszeit niemand vorbei – weder in Großbritannien noch in den USA. Die Klangwelten von Rutters Weihnachtsliedern gelten als Inbegriff von Weihnachten, diesseits und jenseits des Atlantiks. Aber sind sie konservativ?

IV. (Selbst-)Positionierungen: Konservative Musik für alle

Danach gefragt, wie er seinen kompositorischen Stil beschreiben würde, antwortete Rutter 2020 kurz und bündig: „Eclectic. Conservative. Accessible. But I hope recognisable as my own.“[43] Andere greifen zu farbigerer Sprache, um Rutters Klangwelten zu beschreiben: „Rutter“, so The Times 2002, „must be marzipan eaten wearing velvet slippers“.[44] Die Frankfurter Allgemeine Zeitung sah sich 1996 bei einer Aufführung von Rutters „Magnificat“ an „die kosmischen Weiten einer Raumschiff-Patrouille im Breitwandformat oder eine Ouvertüre zu ei­ner heilen Familiensaga in leuchtenden Herbstfarben“ erinnert.[45] Rutters Musik ist melodiös, har­monisch, spielerisch, eingängig, geradezu fröhlich und scheut keinerlei Effekt. Der ame­ri­kanische Kirchenmusiker Robert M. McBain beschrieb Rutters Stil bereits 1982 als Mischung aus Unschuld und kindlicher Reinheit auf der einen und Überschwang auf der anderen Seite, grün­dend auf Optimismus und heilsgeschichtlicher Sicherheit.[46] Rutter bedient sich dafür klas­si­scher kompositorischer Techniken: diatonische Melodien, einfache Dreiklänge, traditionelle Ak­kordfolgen, starke Tonalität und transparente Texturen genauso wie schnelle Wechsel in Tem­po und Dynamik, rhythmische Synkopierungen und der großzügige Einsatz von Crescendi prägen seine Werke. Häufig wählt Rutter kleine Formen, die Arrangements sind einfach bis mit­­telschwer und so gesetzt, dass sie auch von weniger ambitionierten Laienchören zu be­wäl­ti­gen sind. Sie können a cappella, mit Orgel- beziehungsweise Klavierbegleitung oder mit Or­ches­ter aufgeführt werden, und auch diese Variabilität macht sie für die Amateurmusik at­trak­tiv. Nicht zuletzt fördert sie den Absatz. „Mr. Rutter is an able craftsman who has estimated the market shrewdly“, stellte The New York Times nüchtern fest.[47]

Doch nicht nur kommerzielle Gründe erklären Rutters Stil. Schon dem jungen Komponisten wur­de attestiert, seine Werke klängen „surprisingly traditional for so young a man“.[48] Tatsächlich setzte Rutter bewusst einen Kontrapunkt gegenüber den in der klassischen Musik do­minierenden Kompositionsstilen. Er wollte gerade nicht Teil der Avantgarde sein, die nach neuen Ausdrucksformen, neuen Klängen suchte, um die vielseitig gebrochene Gegenwart ein­zu­fangen.[49] Vielmehr orientierte sich Rutter an der kompositorischen Tradition vor den ato­na­len Neuansätzen der musikalischen Moderne. Er suchte nach einem Stil des Wohlklangs in mu­si­kalischer Kontinuität zu den alten Meistern. Gleichzeitig wurde er vom amerikanischen musical theater und der Filmmusik inspiriert, von Jerome Kern, Richard Rodger, George Gershwin, Cole Porter, Stephen Sondheim und Irving Berlin.[50] Europäische Tradition und ame­ri­kanische Aufbrüche des 20. Jahrhunderts sollten sich in Rutters Stil verbinden. Die ame­ri­ka­ni­sche Referenz diente ihm besonders zur selbstbewussten Verankerung seiner Musik im Populären. „Popular music“ wollte er im doppelten Sinne verstanden wissen: zum einen im Sin­ne von Kunst für ein breites Publikum, zum anderen im Sinne von Musik, die tatsächlich po­pulär war, die gespielt, gesungen und gehört wurde.[51]

Für die Verbindung von klassischem Erbe und der Öffnung für neue Genres fand Rutter indes Vorbilder, die seiner populären geistlichen Musik historische Tiefe geben sollten. Im 17. Jahr­hun­dert sei aus der Öffnung des dann klassischen Stils für neue Genres und die Populärmusik ei­ne Musik entstanden, die das 18. und 19. Jahrhundert geprägt habe. Erst am Ende des 19. Jahr­hunderts sei diese kompositorische Tradition von der selbsternannten Avantgarde auf­ge­ge­ben worden, was zu einem Bruch zwischen Kunstmusik und Populärmusik geführt habe.[52] Diesen Bruch zu heilen, machte sich Rutter zur Aufgabe.[53]

Eine Quelle dieser holzschnittartigen und kaum theoretisch gestützten konservativen Lesart der Mu­sik­geschichte, die Rutter bereits früh entwickelte, waren die Schriften des amerikanischen Mu­sikkritikers Henry Pleasants.[54] Die Wurzeln der Musik lägen im Lied und im Tanz, so eine der zentralen Thesen, die Pleasants in polemischer Zuspitzung gegen die Musik der Avantgarde richtete. „Serious music is a dead art“, diagnostizierte er 1955, der europäische schöpferische Geist sei an sein Ende gelangt, die Innovationskraft versiegt, und dies spätestens seit dem Ersten Welt­krieg, mit dem sich das 19. Jahrhundert verabschiedet habe. Seitdem sei die kulturelle Füh­rerschaft an die USA übergegangen. „Western civilization is now well into its American phase, and its music is the popular music of America.“[55] Und das hieß: Jazz – nicht allein wegen seiner innovativen musikalischen Ausdrucksformen, dem Schöpfen aus amerikanischen Musik­kul­turen und seiner Wertschätzung für Melodie und Rhythmus, sondern auch weil er die breite Be­völkerung begeisterte. „New music which cannot excite the enthusiastic participation of the lay listener has no claim to his sympathy and indulgence.“[56]

Pleasants’ Musiktheorie atmete den Geist des Kalten Kriegs:[57] in ihrer selbstbewussten und exklusiven Situierung des zeitgenössischen kulturellen Fortschritts in den USA, die ganz der von Hegel abgeleiteten Vorstellung von der im zivilisatorischen Prozess von Ost nach West fort­schreitenden Entwicklung entsprach;[58] in der Vorstellung einer Europa und die USA um­fassenden westlichen Zivilisation, auf deren kultureller Basis die politischen Allianzen errichtet waren und die transatlantische Transfers voraussetzte;[59] und nicht zuletzt in der geradezu ­im­pe­rialistischen Idee von der Überlegenheit US-amerikanischer Populärkultur.[60] Tatsächlich be­tätigte sich hier ein Kalter Krieger als Musiktheoretiker und -kritiker: Henry Pleasants war im Hauptberuf Agent der Central Intelligence Agency (CIA). Zunächst fungierte er als persönlicher Ve­rbin­dungsoffizier des amerikanischen Hochkommissars beim österreichischen Bun­des­kanzler Leopold Figl in Wien, dann wurde er von James H. Critchfield für einige Mo­nate nach Pullach bei München geholt, übernahm 1950 die Leitung des CIA-Büros in Bern und schließ­lich seit 1956 bis zu seinem Ausscheiden aus dem Dienst 1964 die des CIA-Büros in Bonn. Damit gehörte er zu der Spitze des amerikanischen Geheimdiensts im deutsch­spra­chi­gen Eu­ropa und agierte nicht von ungefähr in enger Kooperation mit Reinhard Gehlen.[61] An­­schlie­ßend ließ er sich als Musikkritiker der International Herald Tribune in London nie­der.[62]

Pleasants’ Ideal folgend fußt Rutters Musik auf Melodie, Harmonie, Rhythmus und Tanz sowie auf den Prinzipen von eingängiger Einfachheit und Leichtigkeit. Dabei bezieht er sich auf Wolf­gang Amadeus Mozart, bei dem sich unter der leicht wirkenden Oberfläche ein hohes Maß an Kom­­plexität verberge, sowie auf Gabriel Fauré, dessen „Requiem“ er 1985 neu ediert hat.[63] Die Of­fenheit für populäre Formen erstreckt sich auf lateinamerikanische Rhythmen, die indes nicht für sich selbst stehen, sondern der europäischen Tradition anverwandelt werden.[64] Es ist wohl kein Zufall, dass das „Magnificat“ – in Rutters Worten: eine „bright Latin-flavoured fiesta“[65] – als Auftragskomposition für den die Carnegie Hall bespielenden Konzertveranstalter Mid-America Productions geschrieben wurde und augenscheinlich auf den US-amerikanischen Markt christlicher Musik zielte.

Rutters kompositorischer Referenzrahmen blieb christlich-abendländisch, in dieser Tradition wollte er sich verstanden wissen. Dies wurde in vielerlei Hinsicht deutlich: in der Verwendung alter liturgischer Texte und des Englischen der „King-James-Bible“ (1611) sowie des „Book of Common Prayer“ (1662),[66] im musikalischen Zitat, in der Integration traditioneller Stilele­mente wie des gregorianischen Chorals,[67] aber auch in seiner editorischen Tätigkeit für Oxford University Press, besonders in dem Chorbuch „European Sacred Music“. Dieses bietet eine Aus­wahl klassischer Werke der kontinentaleuropäischen geistlichen Chorliteratur von der Re­nais­sance bis ins späte 19. Jahrhundert und ist für Laienchöre konzipiert.[68] Anlass für die Edi­tion gab die Welle christlicher Pop- und Rockmusik, die seit den 1970er Jahren in vielen Kir­chen­gemeinden immer populärer wurde und das etablierte kirchenmusikalische Repertoire ver­dräng­te.[69] Es bestehe die Gefahr, so Rutter, dass „the bedrock of Western classical music, which is what our tradition and choral experience rests upon“ verloren gehe.[70] Einige Jahre später wur­de Rutter deutlicher: Er sprach der christlichen Popmusik jegliche kompositorische Qualität ab – „it’s junk, it’s Kleenex music: You hear it once and throw it away“.[71] Stattdessen suchte er, eine neue Form des Populären zu etablieren: nicht im Bruch mit der Tradition, sondern in ihrer Weiterentwicklung durch die Integration zeitgenössischer Stile der Populärmusik.

Sich selbst attestierte Rutter jene Qualität, die er der christlichen Popmusik absprach, und berief sich auf seine Ausbildung im Zentrum der englischen Kirchenmusik an der Universität Cam­bridge und ihren Colleges. Bereits während seiner Schulzeit an Highgate School, einer der führenden privaten Eliteschulen des Landes, erfuhr er eine grundlegende musikalische Bildung, wobei sein Mitschüler John Tavener (1944–2013) später zu den bedeutendsten britischen Kom­po­nisten geistlicher Musik gehören sollte. 1964 begann Rutter sein Musikstudium am Clare College Cambridge und wurde von David Willcocks (1919–2015) gefördert, dem einflussreichen Mu­sik­direktor am King’s College Cambridge und Leiter von dessen weltberühmtem Chor. Ein musikwissenschaftliches Promotionsprojekt über das Auseinandertreten von Kunst­musik und Populärmusik im 19. Jahrhundert führte zu nichts, weist indes auf die Be­deu­tung hin, die Rutter dieser These zumaß. Demgegenüber nahm seine kompositorische Tätigkeit immer breiteren Raum ein. Nach einer kurzen Zeit an der Universität Southampton wurde er 1975 Musikdirektor am Clare College Cambridge, ein Jahr später auch Fellow des Colleges. Er baute den Chor aus, der seit wenigen Jahren als gemischtes Ensemble einen neuen Akzent setzte in der von Jungen- und Männerchören geprägten englischen Chorlandschaft, besonders an den alten Uni­­versitäten.[72] Bis zu seiner Entscheidung 1979, den sicheren Posten am Clare College gegen das Wagnis der Selbständigkeit einzutauschen, war Rutter mithin im engen Zirkel Cambridges und da­mit in der Bastion der kirchenmusikalischen Tradition Großbritanniens sozialisiert wor­den. Diese Verbindungen blieben eng. Bis heute lebt Rutter mit seiner Familie in einem kleinen Dorf in der Nähe der Universitätsstadt.

Rutter sah sich biografisch als Glied einer langen Kette sakraler Musikkultur in Großbritan­nien, als Vertreter englischer Kathedralmusik. Nicht durch Zufall hinterließ er bei einem Ge­sprächs­partner den Eindruck einer „fervent love of the past“.[73] Nach zwei Seiten hin suchte er die­se in einem typisch konservativen Duktus zu verteidigen und zugleich durch vorsichtige Wei­ter­entwicklung zu bewahren: auf der einen Seite gegenüber der Avantgarde, auf der an­deren gegenüber der in die Kirchen eindringenden Pop- und Rockmusik. Rutter verortete sich in der Gegenbewegung gegen die musikalische Moderne der 1960er Jahre, die er als eng, dog­ma­tisch, geradezu „stalinistisch“, empfand, und sah sich als Teil eines größeren generationellen Aufbruchs, der sich durch konservativen Stil und die Wendung zum Publikum auszeichne.[74] Sei­ne Haltung entsprach der konservativen Positionierung der englischen Kathedralmusik ge­gen­über der kompositorischen Moderne nach 1945.[75] Gleichzeitig ordnete er sich in eine re­for­me­rische Strömung der amerikanischen Kirchenmusik ein, die als „American school of sacred music composition“ bezeichnet wurde und die sich aus den weiteren Transformationsprozessen des amerikanischen und europäischen Christentums seit den 1960er Jahren erklärt.[76]

Als populären Romantiker beschrieb ihn der amerikanische Kirchenmusiker und Musikwis­sens­chaftler Paul Westermeyer. Rutters Musik setze die Hörer in eine gezuckerte Blase abseits der Realität, da ihr jedes Bewusstsein für die Dissonanz, die Gebrochenheit, die Dunkelheit der Welt und des Evangeliums fehle.[77] Ihre Flüchtigkeit kritisierte auch Debra Bendis, Redakteurin bei Christian Century, so sehr sie auch die Belebung der Kirchenmusik durch die Popularität von Rutters Werken schätzte. Der musikalische Eindruck schmelze rasch dahin, bis nichts mehr davon übrig bleibe.[78] Zu solchen und ähnlichen Urteilen gelangte eine Reihe von Musik­kri­ti­kern – die Musik sei zu durchschaubar, effekthascherisch, unterkomplex, zu glatt, charak­te­ri­siert durch „a cloying sweetness that tends towards the bland“.[79] Das focht und ficht weder Rut­ters Fans an, noch mindert es seinen kommerziellen Erfolg. Als Susan Elkin, Journalistin bei The Daily Telegraph und selbst Chorsängerin, Rutters Musik als banal und seine Werke als „rubbish“ bezeichnete, erntete sie empörte Leserbriefe.[80] Rutter sei der Bruce Springsteen der Sakralmusik, so ein junger amerikanischer Organist.[81] Seine Musik war populär. Und sie ließ sich konservativ lesen.

V. An English Christmas. Nationale Identitäten und die Feier von Weihnachten

An Weihnachten geht Rutters Popularitätskurve jedes Jahr steil nach oben. Seine Weihnachts­lie­der sind zum festen Bestandteil des Weihnachtsfests in Großbritannien wie in den USA ge­worden. Als The Guardian den Komponisten im Jahr 2000 als das musikalische Äquivalent von Charles Dickens bezeichnete, der literarischen Verkörperung des britischen Weihnachtsfests („A Christmas Carol“, 1843), war seine Erhebung in den Adelsstand der Populärkultur per­fekt.[82] In Rutters Weihnachtsliedern jubilieren Chöre in den höchsten Tönen oder singen das Je­sus­kind in den Schlaf, klingeln Glöckchen, säuseln Pikkoloflöten oder erklingen Harf­en­arpeggios. „The cuter characters in Disney’s vintage cartoons used to leave a trail of what was cal­led ‚Disney dust‘ as they moved around the screen; Rutter’s tunes do exactly the same in sound“, kommentierte The Times bissig.[83]

Chorstücke zu Weihnachten gehörten zu Rutters frühesten Kompositionen, an­gefertigt für Kammerorchester und Chor am Clare College. Durch Vermittlung von David Willcocks veröf­fen­t­lichte Oxford University Press eine Auswahl, darunter auch Rutters bis heute po­puläres „Shepherd’s Pipe Carol“.[84] Dies prädestinierte den Studenten für eine Editionsarbeit, die David Willcocks für den Verlag übernommen hatte: Die Edition einer Chorbuch-Reihe für das Weih­nachts­fest. Den ersten Band von „Carols for Choirs“ hatte Willcocks im Verein mit dem Di­ri­gen­­ten Reginald Jacques verantwortet,[85] nach dessen Tod 1969 machte er Rutter zu seinem Ko-Editor. Als der zweite Band 1970 erschien, enthielt er schon Rutters „Shepherd’s Pipe Carol“. Die Reihe, in der bis 1980 vier von Willcocks und Rutter verantwortete Bände erschienen (er­gänzt um eine Kompendium-Edition 1987),[86] etablierte einen Kanon von Weihnachtsliedern, der sich in wenigen Jahrzehnten in der englischsprachigen Welt durchsetzen sollte. „Carols for Choirs 1“ und „Carols for Choirs 2“ gehören zu den erfolgreichsten Büchern des Verlags, mit Ver­kaufszahlen von jeweils über einer Million Exemplare.[87] Die Bücher, die auf Laienchöre zielen, bieten eine Mischung aus traditionellen Weihnachtsliedern beziehungsweise geistlicher Weih­nachtsmusik aus ganz Europa, zumeist von den Herausgebern neu arrangiert, und neuen Kom­positionen britischer Komponisten, etwa von Ralph Vaughan-Williams, Benjamin Britten oder William Walton. Die Sätze wurden nicht allein für liturgische Zwecke verwendet, sondern füll­ten bald schon landauf, landab die Programme von Weihnachtskonzerten nicht kirchlich ge­bundener Choral Societies.[88] Die geistlichen Kompositionen wurden so in die breite Gesellschaft getragen.

Die Chorbuch-Reihe entsprang einer Musikkultur, die das britische Weihnachtsfest seit dem Ers­ten Weltkrieg entscheidend prägte und die sich um King’s College Cambridge entfaltet hat­te. Zusammen mit der Musik an den großen Kathedralen übte jene an den Kapellen der gro­ßen Colleges der alten Universitäten über Jahr­hunderte bestimmenden Einfluss auf die geist­liche Musik Großbritanniens aus. Mit der Gestaltung der Liturgie beauftragt und konzentriert auf Chormusik a cappella oder mit Orgelbegleitung definierten die Chöre den Klang des angli­ka­nischen Gottesdiensts. Sie bestanden – und bestehen in vielen Fällen bis heute – traditionell aus Jungen und Männern, wobei Rutters Arbeit am Clare College in den 1970er Jahren von einer Öffnung für Frau­en­stimmen zeugte. Der Chor und die Chorleiter von King’s College Cambridge wurden seit dem be­gin­nenden 20. Jahrhundert aus zwei Gründen musikalisch stilprägend: Zum einen formten die Mu­sik­direktoren der Chapel, vor allem Arthur Henry Mann (1876–1929), Bernhard Ord (1929–1957) und David Willcocks (1957–1974), einen spezifischen Chorklang, der sich in die English cathedral tradition fügte, als typisch englisch galt und vorbildhaft wirkte. Er zeichnete sich durch die Jungenstimmen im Chor aus, die durch den Einsatz der Kopfstimme in der Höhe vi­bra­tionslose Klarheit und Durchsichtigkeit erreichten. Die von jungen Männern gesungenen Te­nor- und Bassstimmen fügten sich ein, die Dynamik und Gestaltung der Sätze blieb zu­rück­haltend, der Text indes wurde deutlich artikuliert, so dass ein Klangteppich entstand, der von der Akustik der Kathedralen beziehungsweise College Chapels mit ihren langen Nachhallzeiten ge­tragen wurde und so zu vollem Effekt kam.[89]King’s College stand nicht nur im Zentrum dieser Entwicklung, sondern eignete sie sich auch als Markenimage an. Denn auch die Verantwortli­chen dort verstanden sich auf das Musikgeschäft, so dass durch die professionelle Vermarktung des Chors, seine CD-Aufnahmen und weltweiten Konzerttourneen dieser Klang große Ver­breitung fand. Nicht zuletzt machte die BBC King’s College Choir zu einem nationalen Sym­bol.[90]

Zum anderen rührte die stilprägende Wirkung des Cambridger College-Chores von der Ge­stal­tung des Weihnachtsgottesdiensts her, den die BBC über ihre Radiosender seit 1928 national und seit 1932 auch international (seit 1965 über den BBC World Service) jährlich am späten Nach­­mittag des 24. Dezember ausstrahlte. Seit 1938 schaltete sich das Mutual Broadcasting Sys­tem of America zu, und auch in einigen europäischen Ländern war der Gottesdienst zu hö­ren.[91] Amerikanische Sender übernahmen das Format wieder seit dem Jahr 1979 – mit großem Er­folg.[92] Im Fernsehen zeigte die BBC seit 1963 eine vorproduzierte Kurzversion des Gottes­diensts. Auch in den USA strahlte die Radioübertragung seit den 1980er Jahren weit aus, so dass Gottesdienste nach dem Vorbild von King’s in die durch das imperiale Mutterland geprägte Weihn­achtskultur vieler Länder des vormaligen Empires eingingen.[93]

„A Festival of Nine Lessons and Carols“ ist eine Abfolge von Schriftlesungen und Weihnachts­lie­dern, die als liturgische Form an Weihnachten 1918 erstmals in King’s College Chapel vom amtierenden Chaplain Eric Milner-White nach einem südenglischen Vorbild aus den 1880er Jahren eingeführt worden war. Der Desillusionierung, Verbitterung und dem Glaubensverlust vieler junger Männer nach dem Ersten Weltkrieg wollte Milner-White mittels einer reformierten Liturgie begegnen, die ein ästhetisches und emotionales Glaubenserlebnis schaffen sollte. Zugleich war der Liturgie eine klare Hierarchie eingeschrieben: sowohl theologisch in der Abfolge der Lesungen vom Alten zum Neuen Testament als auch sozial, da sich die Reihenfolge der Lektoren für die einzelnen Lesungen an der Kirchenhierarchie orientierte. Nach Umstellungen und Streichungen im folgenden Jahr etablierte sich die Form des Gottesdiensts 1919 als Modell, das bis in die Ge­genwart Gültigkeit hat.[94] Mit den Übertragungen der BBC wurde „A Festival of Nine Les­sons and Carols“ zu einem Fixpunkt der Weihnachtsfeierlichkeiten des Bürgertums – in Groß­britan­nien genauso wie in den Ländern des Empire.[95] So fügte sich das Festival in die imperiale Kultur des britischen Weihnachtsfests im 20. Jahrhundert ein.[96]

Der Zweite Weltkrieg lud den Gottesdienst noch weiter mit nationaler Bedeutung auf: Er verband Front und Hei­mat im gesamten Empire in der weihnachtlichen Andacht und der Bitte um Frieden. In deut­schen Kriegsgefangenenlagern etwa inszenierten britische Soldaten nach dem Modell aus der College Chapel in Cambridge ihre eigenen „Nine Lessons and Carols“.[97] Dieser Bedeutungs­ge­winn stand in engem Zusammenhang mit der Transformation der Rolle der anglikanischen Kir­che in der britischen Gesellschaft in den 1930er und 1940er Jahren, die seitdem weniger als re­ligiöse Institution denn als Symbol von Englishness und Bewahrerin nationaler Tra­dition wahrgenommen wurde.[98]

Während der zwei Stunden dauernden Übertragung des „Festivals of Nine Lessons and Carols“, kom­mentierte der Journalist Michael Henderson in typisch britisch-nationalem Überschwang 2012, „Cambridge once again becomes the centre of the world“. Nach dem Ende des Empire, nach Dekolonisation und dem Verlust des einstigen Weltmachtstatus spricht aus diesen Zeilen des konservativen Kolumnisten die Sehnsucht nach vergangener Größe und zugleich die Über­zeugung, es existiere eine englisch geprägte, weltumspannende Kultur, deren Mittelpunkt weiterhin in der imperialen Metropole zu finden sei. „The English choral tradition, rooted in cathedral choirs and the colleges of our two greatest seats of learning, gives the lie to the absurd nostrum that this is ‚a land without music‘. It is one of our greatest achievements and is still very much alive“, unterstrich Henderson seine These.[99] Es passt ins Bild des gegenwärtigen engli­schen Nationalismus, dass er die antideutsche Spitze nicht aussparte. Dass Großbritannien ein Land ohne Musik sei, gehörte zu den kulturarroganten Topoi der deutschen Propaganda des Ersten Weltkriegs und bereichert seither den Zitatenschatz britischer beziehungsweise englischer Nationskonstruktionen.[100]

Seit dem frühen 20. Jahrhundert war der von einigen Kathedral- und College-Chören ent­wickelte Stil des Chorgesangs national aufgeladen worden. Man glaubte in ihm englische We­sens­eigenschaften wie Zurückhaltung, Höflichkeit oder Ausgeglichenheit ausgedrückt und mach­­te ihn gleichzeitig zu einem Symbol von authentischer Englishness. Der Chor von King’s College Cambridge wurde zum „ultimate symbol of English self-effacement“.[101] Obwohl der Stil eine Er­fin­dung des 20. Jahrhunderts war, wurde ihm die Qualität des Historischen zugesprochen, des ewigen, durch die Jahrhunderte immer gleichen Singens im christlichen England. Timothy Day hat gezeigt, wie sich dieses Narrativ in den reformerischen Aufbrüchen in der Anglikanischen Kirche um das von der Romantik inspirierte Oxford Movement herausgebildet hat, um nationale Spe­zifika der Spiritualität im Rückgriff auf angeblich mittelalterliche Vorbilder zu substanti­ie­ren.[102]

„A Festival of Nine Lessons and Carols“ trug seit dem Ersten Weltkrieg zur Verbreitung dieses Nar­rativs und seiner weiteren Nationalisierung entscheidend bei: Der Gottesdienst galt als In­be­griff einer bis ins Spätmittelalter zurückreichenden nationalen Tradition.[103] Das Festival klei­dete dieses Narrativ in Musik, die Performanz der Liturgie in der prachtvollen spätgotischen Kir­­che stattete es mit einer überwältigenden visuellen Ästhetik aus, und die Radioübertragung mach­te es überall und für jede und jeden zugänglich. So wurde nicht allein die Konstruktion his­torischer Kontinuität, sondern auch der elitäre Ort verborgen, den King’s College Cambridge in der britischen Klassengesellschaft darstellte.[104] Es verwundert nicht, dass Eric Hobsbawm, der seine Studienzeit in diesem College verbracht hatte, in seinem einflussreichen Buch „The Invention of Tradition“ zuallererst auf das „Festival of Nine Lessons and Carols“ verwies.[105]

In diesem institutionellen Zusammenhang sind Rutters Weihnachtsliedkompositionen situiert, was nicht zuletzt zwei Kompositionsaufträge von King’s College für die „Festivals“ von 1987 und 1999 zeigen.[106] Rutter wurde nicht müde, der Form des Carols seine Reverenz zu erweisen. Darunter werden in englischsprachigen Ländern Weihnachtslieder verstanden, die in einer Tra­di­tion populären Singens stehen. Der Begriff geht zurück auf das Mittelalter und bezeichnet Lie­der in englischer oder lateinischer Sprache, bei denen jeweils Strophe und Refrain wech­sel­ten und zu denen man tanzen oder im Rahmen von Prozessionen voranschreiten konnte. Carols hatten ihren Platz bei Hofe, bei liturgischen Feiern und in der populären Kultur. Hier dominierte eine Form des religiös-moralischen Carols mit oft weihnachtlichen Themen, in der sich Volks- und Tanzlied mischten. Auf diese Tradition beriefen sich die Wiederentdecker des Carols im 19. Jahrhundert. Nachdem durch Reformation und Puritanismus die Form des Carols im geist­li­chen Liedgut an den Rand gedrängt worden war, wurden sie zum Sammlerobjekt der briti­schen Romantik, die in ihnen wahre Volkskunst überliefert glaubte und im carolling, dem Um­her­ziehen von Gesangsgruppen an Weihnachten zur Überbringung guter Wünsche, eine tief in der Volkskultur verankerte soziale Praxis sah. Die Sammlung ging einher mit der Adaption ein­zelner Lieder an den viktorianischen Geschmack sowie mit Neukompositionen und Editionen – immer mit dem Ziel, eine vorgeblich verlorene Tradition in Kirche und All­tags­kul­tur neu zu beleben.[107]

In diese historische Linie ordnet sich die Edition von Willcocks und Rutter ein. Carols und ihr gemeinsames Singen an Weihnachten, ob in der Kirche, auf der Straße oder in den eigenen vier Wän­den, sind eine viktorianische Erfindung, wie die britische Kultur des Weihnachtsfests über­haupt aus dem viktorianischen Zeitalter stammt.[108] Sie gelten als Ingredienz eines spezifisch eng­lischen Weihnachtens, gar als „key expression of Englishness“,[109] und hierin dürfte wohl der Kern des modernen Verständnisses des Carols liegen. Denn formal ist diese musikalische Form schwer zu fassen und kaum von anderen Weihnachtsliedern wie Hymns oder Pop-Songs abzugrenzen.

Für Rutter, der zu ihrer Popularität in den letzten Jahrzehnten nicht unwesentlich beigetragen hat, scheinen Carols vor allem drei Charakteristika zu besitzen: zum Ersten ihr Changieren zwischen Volks- und Kunstmusik, die Mischung aus „[a]rt and artlessness, the polished and the in­stinctive“, wie ein Musikkritiker vermerkte;[110] zum Zweiten ihr Akzent auf Melodie und Tanz, Ein­fachheit und Kindlichkeit;[111] zum Dritten ihre emotionale Kraft: „They have all this extra­ordi­nary ability to just awaken happy memories [...], somehow hearing the music of Christmas brings back the magic and the mood of Christmas.“[112] Es geht mithin um die Erzeugung einer woh­ligen Erinnerung an die Weihnachtsfeste der Kindheit, an sorgenfreie Momente in einer ge­ordneten Welt von Familie, Gemeinschaft und Konsum. Eines religiösen Hintergrunds be­darf es dafür nicht unbedingt, ohnehin nimmt der Agnostiker Rutter von jeder Theologisierung sei­ner Werke Abstand.[113] Die christlichen Texte und musikalischen Formen fungieren vielmehr als Erinnerungsschnipsel oder Traditionsgefäße und fügen sich so in die säkularisierte Weih­nachts­kultur der Gegenwart.[114] Gleichwohl lässt sich Rutters Musik ebenso in eine weiterhin re­ligiös durchdrungene Kultur des Weihnachtsfests einpassen, ganz analog zu seinen übrigen geist­lichen Werken. Wenn sich am Ende des 20. Jahrhunderts in den westlichen Gesellschaften zwei Weihnachtskulturen ausgebildet hatten, eine religiöse und eine säkulare, so funktionierte Rutters Musik in beiden.[115] Seine Carols eignen sich gleichermaßen für Liturgie und Kaufhaus; das macht sie so populär.

Dazu trägt Rutters Vermarktungsmaschinerie nicht unwesentlich bei, die rund um Weihnachten den Markt mit CDs in immer neuen Varianten und nun auch mit Download-Files bedient. Auch mit „John Rutter’s Christmas Celebration“ in der Royal Albert Hall in London partizipiert der Kom­ponist jährlich an der weihnachtlichen Konsum- und Unterhaltungskultur: ein Kon­zert­event mit dem Royal Philharmonic Orchestra unter Rutters Dirigat, Carol-Klassikern zum Mitsingen, einem Christmas Quiz und 5.200 zahlenden Zuhörerinnen und Zuhörern.[116] Solche Carol-Konzerte haben sich in Großbritannien als fester Bestandteil des adventlichen Kalenders etabliert.[117]

Die Nationalisierung des Weihnachtsfests, die im 20. und 21. Jahrhundert ein globales Phäno­men darstellte,[118] zeigte sich im britischen Fall auch an bestimmten Lesarten dieser gesellschaftlichen Fixpunkte: „It is one of the great joys of English life“, kommentierte The Times im Millenniumsjahr,

„that the season of holly and ivy is also a time for sweet singing in the choir. [...] Choral music is at any time of year one of this country’s most sublime musical achievements. It combines the austere purity of worship and our folk memories of mossy village churches in a green and pleasant land, building from them a haunting tonal architecture with foundations in the depths of our collective being.“[119]

Mitunter wurde das gesellschaftliche Singen im Chor zu einem einzigartigen Gut sti­lisiert und zu einem Fixpunkt nationalen Stolzes: „These days, Britain might not be much cop at building domes and bridges, and it no longer seems able to run a health service or a rail­way system. But there are some things we can still do and that you feel obliquely proud to be part of. Producing choirs out of communities is one of them.“[120] Niedergang allenthalben, nur im Kulturellen verteidigt Großbritannien seine Weltmachtstellung, so lautete zugespitzt die Bot­schaft im Jahr 2000.[121] Eine Dekade später war der Daily Telegraph nicht nur weiterhin davon überzeugt, dass „British choirs lead the world“, sondern auch dass die kirchliche Ge­sangs­kultur die beste Rückzugsmöglichkeit aus der krisenhaften Gegenwart sei. „Anyone who feels assaulted by the weight of economic doom [...] should try an hour of Gibbons, Byrd or Her­bert Howells with a decent choir“ – oder John Rutter, könnte man hinzufügen.[122] Musik diente der Fundierung nationaler Identität.[123]

In genau dieser Weise werden Rutters Weihnachtsmusik und die Kultur, die sich um die Praxis des Musik-Machens gebildet hat, beschrieben: als Ausdruck wahrer, der Zeit enthobener, im­mer gleicher Englishness, als Lebenskultur um Kirche, Dorf, Gemeinschaft und Familie, als pas­to­rale und rurale Idylle. Die Musik wird narrativ umwoben, nicht zuletzt vom Komponisten selbst – bis hinein in seine Selbststilisierung als einfacher musikalischer Handwerker auf dem eng­lischen Dorf. Nur zu gern wird diese Erzählung von Journalisten aufgenommen, zumal sie amerikanische Klischees von Großbritannien bestärkt: „It is the sort of English village which you may find on Christmas cards: a medieval church, a placid river, thatched cottages, swans. So it’s no great surprise that it is also where you can find John Rutter“, war 2017 in der New York Times zu lesen.[124]

Diese Bilder und Erzählungen zitieren aus einem einflussreichen Narrativ des Nationalen, das sich seit den 1920er Jahren etabliert hat und das typisch Englische beschreibt – wohlgemerkt nicht das Britische. Die Idee des „kleinen Mannes“ als Hüter nationaler Charaktereigenschaften zeichnete es ebenso aus wie das Loblied auf die englische, dörflich geprägte Landschaft. Stanley Baldwin, konservativer Premierminister der Zwischenkriegszeit, und George Orwell, linker Schriftsteller und Publizist, gehörten zu den bekanntesten Konstrukteuren der über Par­tei­grenzen hinweg integrierenden Erzählung.[125] Rutters Musik zu Weih­nachten, gab The Telegraph 2011 zu bedenken, sei deshalb so erfolgreich, weil „his tolerant, nostal­gic Englishness“ bei der Hörerschaft eine ebenjener Idee von Englishness zugewandte Sai­te zum Klingen bringe.[126] Sie war Teil der Pop-Englishness und damit ein bisher kaum be­achtetes Pendant zu Punk, Britpop und Northern Soul.[127] Vor diesem Hintergrund lässt sich Ru­tters Popularität tatsächlich auch als kultureller Ausdruck eines sich seit der Jahrtausend­wen­de herausbildenden neuen englischen Nationalismus deuten. Befeuert und radikalisiert wurde er durch De­vo­lution, Deindustralisierung, Migration, kulturelle Globalisierung und ei­nen populistischen Po­litik­stil; in der britischen Entscheidung für den Austritt aus der Euro­pä­ischen Union entfaltete er destruktive Wirkung.[128] Doch diese Politisierung war nicht not­wen­digerweise angelegt und Rutters Musik bestimmt keiner ihrer Treiber.

Nichtsdestoweniger manifestierten sich darin Vorstellungen von Englishness, die mit den britischen Re­alitäten der jüngsten Zeitgeschichte wenig gemein haben. Weder fanden sich die Kon­flikthaftigkeit der postimperialen, multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft wie­der noch die dominierend großstädtischen Kulturen noch die sozialen Verwerfungen des briti­schen Neoliberalismus. Im Gegenteil, die um Rutters Musik entstandene weihnachtliche Fest­kultur beschwor ein weißes, christliches, von der Moderne unberührtes, wohl geordnetes En­gland imperialer Größe. Sie hatte einen dezidiert konservativen Klang.

Und dieser Klang reichte weit über das Vereinigte Königreich hinaus. Die Rezeption der Musik in den USA spielte in die Vorstellungswelten einer gemeinsamen christlich-abendländischen Tra­dition angelsächsisch geprägter Nationen, diejenige in Australien und Kanada in solche der Anglo­­sphere, die seit den 1990er Jahren in konservativen Zirkeln populär wurden.[129] In ge­wis­ser Weise stellen Rutters Carols das Gegenstück zu den weihnachtlichen Pop-Songs dar, die als Produkte des US-amerikanischen Musikgeschäfts Eingang in das Musikrepertoire Groß­bri­tan­niens gefunden haben.[130] In seinem Fall erfolgte der Transfer in die andere Richtung, ge­tra­gen von der transatlantischen Musikkultur populärer Klassik, die nicht weniger Teil west­licher Pop­­kultur ist als Rock, Pop oder Punk.[131]

VI. Die konservativen Potenziale der populären Klassik und die Fluidität der Popkultur

Nicht jeder Chorsänger, der Rutters Musik sang, nicht jede Harfinistin, die Rutters Musik spiel­te, nicht jeder Dirigent, der eine von Rutters Kompositionen wählte, nicht jede Konzert­gän­ge­rin, die in seinen Klangwelten versank, war konservativ. Dies zu behaupten wäre absurd. Aber je­de und jeder Einzelne hatte die Möglichkeit, sich die konservativen Potenziale dieser Musik an­zueignen – als Ausweis einer Lebenshaltung, als Ingredienz eines Lebensstils oder auch als po­litisches Symbol.[132] Um die Praxis des Musizierens oder des Musikhörens konnten sich Kul­tu­ren des Konservativen ausbilden, die den kulturellen Konservatismus der Musik in soziale, all­tägliche Zusammenhänge überführten. Besonders deutlich wird die Vielschichtigkeit der An­eig­nungsmöglichkeiten im Blick auf die national so verschiedenen Rezeptionsweisen Rutters: Wäh­rend seine Musik in Großbritannien eine nationale Aufladung erfuhr, verblieb sie in Deutsch­land im Rahmen der geistlichen Chormusik, wo sie von der neuen „stilistischen Plu­ra­lität“ in der Kirchenmusik der Gegenwart zeugte.[133] Die konservative Gestalt der Kompo­sitio­nen hingegen, die in musikalischer Form und Struktur angelegt ist und die sich aus einer ge­teilten Auffassung über die (europäische) Musikgeschichte erklärt, tradierte sich über alle na­tio­nalen Brüche hinweg. Sie ist der Musik im wahrsten Sinne des Wortes eingeschrieben.

Als Unternehmer in eigener Sache replizierte Rutter das Bild des erfolgreichen Individuums, des un­ter­nehmerischen Selbst,[134] das im Zentrum neoliberaler Weltdeutungen und nicht zuletzt des That­cherismus stand. Er personifizierte den Künstlertyp, den Margaret Thatcher pro­pagierte – ohne dass er sich je öffentlich politisch positioniert hätte.[135] Rutter lebte und lebt weiter­hin gut von seiner Kunst, weil sie für ein breites Publikum attraktiv war, er war weder auf Kultursubventionen angewiesen noch auf staatliche Institutionen. Er machte sein Glück am Markt. Tatsächlich war der transatlantische Musikmarkt, dessen Logiken Rutter durchschaute, der Schlüssel zu seinem Erfolg. Er wusste zentrale Entwicklungen seit den 1970er Jahren für sich zu nutzen: die fortschreitende Transnationalisierung, Kommerzialisierung und Konsum­kul­tu­ralisierung der klassischen Musik, die Möglichkeiten der Digitalisierung und Massenmedialisierung.[136] Früh erkannte er die Chancen des Internets: Bereits 1998 bereitete er einen über die Website AOL Culture Finder zusammengestellten Chor in den USA mittels E-Mails, Aufnahmen und einem Internet-Chat auf eine Aufführung von Händels „Messias“ unter seinem Dirigat in der Carnegie Hall in New York vor.[137] John Rutter gelang es, die Figur des ver­ehrten Künstler-Komponisten, welche die Moderne geprägt hatte, in die Postmoderne zu trans­fe­rieren. Die Popkultur hatte eben doch Raum für einen „composer hero“, nur gehörte der nun nicht mehr zur kompositorischen Avantgarde.[138]

So unpolitisch Rutters Musik daherkam, so sehr wurde sie kulturpolitisch auf konservativer Sei­te positioniert. Denn die Kulturpolitik des Thatcherismus korrespondierte in der Musik mit der Kritik an der Avantgarde. Sie öffnete einem musikalischen Konserva­tis­mus die Türen, der auf eine spezifisch englische Tradition rekurrierte und sich auf das Populäre ka­prizierte – im Gegensatz zu einer vorgeblich kontinental geprägten Kunstmusik, die auf eine klei­ne, musikalisch gebildete Elite zielte, deren Vertreter und Förderer die kulturpolitischen Schaltstellen des Arts Council und der BBC besetzt hielten.[139] Am Markt zu reüssieren hieß in die­ser Sicht, das zu tun, was Kunst tun sollte: das breite Publikum erreichen und unterhalten. Die staatliche Zulassung des Radiosenders Classic FM, der sich auf die populäre Klassik spe­zia­lisierte und 1992 zu senden begann, war gegen die Programmpolitik des Klassiksenders BBC Ra­dio 3 gerichtet. Seine Popularität in Großbritannien verdankt Rutter nicht zuletzt dieser Konkurrenz. Die konservative Kritik an der BBC entzündet sich bis in die Gegenwart gerade auch an ihrem Ver­hält­nis zur populären Klassik. Es nimmt kaum wunder, dass John Rutter als Exempel für die aus der BBC verbannten Klassikstars bemüht wird,[140] wie überhaupt seine Nichtberück­sich­ti­gung durch die Musikwissenschaft beklagt wird.[141] Diese konservative Politisierung ging Hand in Hand mit der Nationalisierung britischer Chor- und Gesangskultur. Sie trug und trägt Rut­ters Erfolg.

Sein Aufstieg erfolgte zudem vor dem Hintergrund der religiösen Transformationsprozesse, die sich in Europa wie den USA seit den 1960er Jahren Bahn brachen, wenn auch in geradezu ent­ge­gen­ge­setzter Weise.[142] Während in Europa das Christentum seine dominierende kulturelle wie so­ziale Stellung einbüßte und in einer ebenso multireligiösen wie säkularen Gesellschaft einen neuen Platz finden musste, bildete ein missionarischer, evangelikaler Protestantismus in den USA eine politische Kraft, die seit den 1970er Jahren als wichtige Strömung des New Conservatism beziehungsweise der New Right den Kurs der Republikanischen Partei ent­schei­dend beeinflusste und dem konservativen Christentum eine kulturell einflussreiche Stimme ver­lieh.[143]

Diese Transformationsprozesse waren indes kulturell keineswegs eindeutig markiert. Einerseits wur­den sie von reformerischen Bewegungen angestoßen, die eine Öffnung der Kirchen zur Welt einforderten, mithin auf eine Liberalisierung von Glaubensvollzügen drängten. Ander­er­seits wurden sie als Alternative zu ebenjener gesellschaftlichen Liberalisierung entworfen, die als Kampfansage an eine gute Gesellschaftsordnung und eine lebendige Tradition verstanden wur­de. Rutters Musik verband beides in sich. Sie integrierte Neues, indem sie sich dem Po­pu­lä­ren, dem Amerikanischen öffnete, und so die Klangwelten der geistlichen Musikkultur re­formierte. Zugleich hielt sie an der klassischen europäischen Tradition fest und verteidigte sie ge­gen die Avantgarde wie gegen die Popmusik gleichermaßen. Sie war in die Pop- und Kon­sum­kultur genauso eingebettet wie in die Welt der Kirchenmusik. Sie repräsentierte ein kon­ser­vatives Idiom, das zugleich modern klang.

Rutters Musik als einfache Gegenbewegung gegen die Liberalisierung von Kultur und Gesell­schaft zu lesen greift deshalb zu kurz. Vielmehr gehörte sie zu den konservativen Aufbrüchen in­mitten jener kulturellen Transformationsprozesse, die seit den 1960er Jahren die westlichen In­dustriegesellschaften erfassten und die den kulturellen Boden bereiteten, auf dem sich der po­litische Konservatismus erst entfalten konnte. Das Beispiel John Rutters legt die Vielfalt an Er­scheinungsform­en und Kontexten offen, in denen sich konservative Haltungen in populären Musik­kulturen manifestieren konnten, in denen sie aber auch entstanden oder hergestellt wur­den. Es zeigt das Spektrum zeitlicher Qualitäten von Kulturen des Konservativen auf, die nur ein flüchtiges Phänomen sein, aber auch zu verdichteten und auf längere Dauer gestellten Lebenswelten gerinnen konnten. Sie boten Anknüpfungsmöglichkeiten für Politisierungen oder po­litische Vereinnahmungen, die seitens der Künstlerinnen und Künstler bewusst hergestellt werden konnten, gleichzeitig aber auch ihrer Steuerung entzogen waren. Evident sind die Plu­ra­lisierung von Kulturen des Konservativen seit den 1970er Jahren und ihre Politisierungs­po­ten­ziale. Ein Politisierungstrend hin zum Konservativen ist indes nicht zu erkennen. Kulturen des Konservativen waren Ausdruck einer Suche nach neuer Ordnung in einer Zeit, als über­kom­mene Gewissheiten zerbrachen, Fortschritt im bekannten Sinne fraglich erschien und die Auf­brüche der 1950er und 1960er Jahre selbst historisch geworden waren. Sie waren Teil des „Age of Fracture“.[144]

Das Beispiel John Rutters verweist aber auch auf die Popkultur als Epochensignatur des späten 20. Jahrhunderts. Die Popkultur war eben nicht nur progressiv, und sie umfasste längst nicht mehr nur Jugendkulturen. Dass die Popkultur durch und durch kommerzialisiert und ihr da­her schon aus Marktlogiken heraus eine prinzipielle kulturelle wie politische Offenheit eigen war,[145] trug wesentlich zu den Möglichkeitsräumen bei, die sich für konservative Anverwand­lun­gen auftaten. Dies entsprach den Formen sozialer Vergemeinschaftungen, die Kultur­in­dus­trien produzierten. Sie waren in vielen Fällen sicherlich kaum mehr als „loose and transitory so­li­darities“,[146] doch zeigen gerade die Erfolge von John Rutters Chormusik in kirchennahen Mi­lieus, dass von ihnen auch Vergesellschaftungsimpulse ausgehen konnten. Zwar zerfielen so­ziale Welten des Konservatismus in den 1960er Jahren, wie Lawrence Black am Beispiel der bri­tischen Young Conservatives eindrucksvoll gezeigt hat und worauf auch die deutsche Bür­ger­tumsforschung hindeutet,[147] doch es begannen sich neue konservative Welten zu etablieren. Die populäre Musik führte mitnichten zu einer Einebnung sozialer Strukturen und Hierarchien, und sie führte auch nicht generell zu einer Entpolitisierung.[148] Diesen Prozess hat die Forschung zu­künftig näher zu analysieren.[149]

Die Bedenken der konservativen wie linken Kulturkritik gegenüber der Massenkon­sum­gesell­schaft und ihren kulturellen Manifestationen wurden beiseite gewischt und aus dem konserva­ti­ven Spektrum heraus popkulturelle Formen entwickelt.[150] Die Konservativen umarmten seit den 1970er Jahren geradezu die Popkultur, und John Rutter steht für diese neue Nähe. Dass der popkulturelle Unternehmer zu einer Vorbildfigur des amerikanischen wie britischen Kon­ser­vatismus wurde, die kommerzialisierte Popkultur mithin als konservatives Schmuckstück west­licher Kultur galt, war nur ein Element einer um einiges tiefer reichenden kulturellen Sym­bio­se. Die Popkultur bot ein „breite[s] Spektrum an Möglichkeiten, ein Verhältnis zu sich selbst zu gewinnen, es zu pflegen, zu behaupten oder zu verändern“, wie Alexa Geisthövel bemerkt hat.[151] Das galt auch für konservativ orientierte Identitätsentwürfe und dies zumal seit den 1970er Jahren, als zunehmend individualistische Vorstellungen auch in das konservative Den­ken eingingen und sich dafür in der konsumorientierten Popkultur eine Fülle an Anknüp­fungs­möglichkeiten fanden.[152]

Deutlich zutage tritt zudem die Rolle der Popkultur in der Transnationalisierung des Kon­ser­va­tismus seit den 1970er Jahren. Die Popkultur war eine der „augenfälligsten Manifestationen“ des Globalisierungsschubs der jüngsten Zeitgeschichte, wie Bodo Mrozek kürzlich festgestellt hat.[153] Die popkulturelle Dominanz von britischen und US-amerikanischen Künstlerinnen und Küns­tlern und ihren Werken, die sich aus den Marktlogiken ebenso erklärt wie aus den kul­tu­rel­len Konstellationen des Kalten Kriegs,[154] hatte ihre Entsprechung im politischen und intel­lek­tuellen Einfluss des erneuerten angloamerikanischen Konservatismus à la Reagan und That­cher. Die Popkultur etablierte transatlantische Räume geteilter Kultur, und sie gab der Idee des Wes­tens im Kalten Krieg eine kulturelle Substanz.[155] Sie konnte im konservativen Sinne aus­gedeutet werden, wobei – und das wird am Beispiel Rutters augenscheinlich – nationale Deu­tungs­kulturen voneinander abweichen und sich Ideen des Westens auch aus der imperialen Ver­gan­genheit speisen konnten. In jedem Fall gingen hier wie anderswo universalisierende und par­tiku­larisierende Tendenzen im Globalisierungsprozess Hand in Hand.[156] Transnationale und na­tionale Kulturen des Konservativen bedingten sich gegenseitig.

Rutters unschuldige Weihnachtslieder wiesen weit über die Klangwelten englischer – und auch aus­tralischer – Kathedralen und Dorfkirchen hinaus. Einerseits war und ist John Rutter in der Tat ein „very English superstar“; andererseits aber gerade auch nicht, sondern der höchst erfolgreiche Akteur eines kulturell vermittelten transnationalen Konservatismus.

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 17.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0007/html
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