Abstract
Seit 2020 wird in der Bundesrepublik mit wachsender Heftigkeit um die Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur gestritten: Ist diese zu einseitig und katechistisch auf Holocaust und Judenverfolgung im „Dritten Reich“ konzentriert und ignoriert damit beharrlich einen erweiterten Kontext von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus? Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass die Dichotomien und Polemiken dieser Debatte die wissenschaftliche Forschung nahezu verdecken, die sich seit Jahrzehnten um eine angemessene Kontextualisierung der NS-Verbrechen bemüht. Einfache Kontinuitätskonstruktionen zwischen Kolonialismus und Holocaust hat die Forschung dabei mehrheitlich abgelehnt. Die nationalsozialistische Massengewalt jenseits des Holocaust sowie die NS-Okkupationspolitik in Osteuropa lohnen jedoch, unter kolonialen Prämissen näher analysiert zu werden.
Abstract
Since 2020, there has been an increasingly heated debate in the Federal Republic concerning German remembrance culture: Is it too one-sided and catechistically focused on the Holocaust and the persecution of Jews in the Third Reich, thus persistently ignoring a broader context of colonialism, imperialism and racism? This article attempts to show that the dichotomies and polemics of this debate almost obscure the scholarly research that has been striving to adequately contextualize Nazi crimes for decades. The majority of research on the topic has rejected simple constructions of continuity between colonialism and the Holocaust. However, Nazi mass violence beyond the Holocaust, as well as Nazi occupation policies in Eastern Europe, are worth analyzing more closely under colonial premises.
Vorspann
Glaubt man den Feuilletons, ist zurzeit der zweite Historikerstreit in vollem Gange. Hatte sich der erste 1986/87 noch in Auseinandersetzung mit den Thesen von Ernst Nolte um die Frage nach dem Verhältnis von Bolschewismus, Nationalsozialismus und Holocaust gedreht, so geht es derzeit um die Frage nach verhängnisvollen Kontinuitäten zwischen Vernichtungsfeldzügen vor 1914 und nach 1939, wobei die koloniale Vergangenheit Deutschlands verstärkt in den Blick gerät. Besondere Brisanz gewinnt die gegenwärtige Debatte wegen der Frage nach der Singularität des Holocaust, die der einen Seite als unanzweifelbar gilt, der anderen aber diskutabel scheint. Frank Bajohr und Rachel O’Sullivan ziehen eine vorläufige Bilanz der Kontroverse. Sie wägen die Argumente beider Seiten ab und suchen jenseits aller Polemik nach produktiven Anknüpfungspunkten für die historische Forschung.
Seit knapp zwei Jahren wird in der Bundesrepublik mit wachsender Heftigkeit um die Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur gestritten. Der Streit nahm seinen Anfang im Frühjahr 2020 mit der öffentlichen Debatte um den Politikwissenschaftler Achille Mbembe, einen der bekanntesten Theoretiker des Postkolonialismus, dem unter anderen der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, vorwarf, in seinen Schriften den Holocaust zu relativieren und das Existenzrecht Israels infrage zu stellen.[1] Seitdem ist zunehmend die HolocaustErinnerung als zentrales Element der deutschen Erinnerungskultur in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung gerückt, die neben vielen bedenkenswerten Stellungnahmen zunehmend schrille und polemische Töne hervorgebracht hat. Vorwürfe einer Holocaust-Leugnung von links an die Adresse von Postkolonialisten und Vertretern einer vergleichenden Genozidforschung werden von letzteren mit nassforschen Angriffen auf die deutsche Erinnerungskultur beantwortet: Die Erinnerung an den Holocaust und der Kampf gegen den Antisemitismus sei – so lautet der Vorwurf – in der Bundesrepublik als „Erlösungsnarrativ“ in den Rang eines „Katechismus“ erhoben worden, der nahezu jede Form der Kritik am Staat Israel als Antisemitismus verteufele.[2] Gegenüber dem Postkolonialismus verharre man in provinzieller Blindheit und lasse jede breitere, vergleichende Perspektive auf Imperialismus und Kolonialismus, Rassismus, Genozide und Massengewalt vermissen.
Die hitzigen Polemiken der Debatte verdecken zum einen, dass beide Seiten durchaus legitime erinnerungskulturelle Anliegen vertreten, die sich keineswegs ausschließen. So ist die Erinnerung an den Holocaust, die nach 1945 jahrzehntelang kaum eine Rolle gespielt hatte, kein Ausdruck deutscher Provinzialität, sondern ein gelungenes Beispiel einer post-nationalen und beinahe globalen Erinnerungskultur, die sich – ausgehend von den USA – seit den 1980er/90er Jahren schließlich auch in Deutschland und Europa durchgesetzt hat. Bis heute wird sie aber immer noch infrage gestellt, zum Beispiel durch patriotische und nationalistische Geschichtsnarrative vor allem in Mittel- und Osteuropa.[3] Zugleich ist kaum zu übersehen, dass Kolonialismus und Imperialismus in vielen Ländern Europas keine vergleichbare öffentliche Erinnerungskultur hervorgebracht haben, wobei diese Diskrepanz besonders für Länder mit ungleich längerer kolonialer Tradition als Deutschland zu konstatieren ist, vor allem für Großbritannien.[4] Kritische Erinnerung an den Holocaust einerseits und an Verbrechen des Kolonialismus und Imperialismus andererseits schließen sich nicht nur nicht aus, zumal Erinnerung kein Nullsummenspiel ist, wie es Michael Rothberg treffend formuliert hat.[5] Im Gegenteil kann die mühsam durchgesetzte Holocaust-Erinnerung vor allem in den Ländern Europas als positives Beispiel wirken, auch der kolonialen und imperialen Vergangenheit des Kontinents die angemessene öffentliche Beachtung zu schenken.
Zum anderen ist in der schrillen öffentlichen Debatte der irrige Eindruck entstanden, dass es sich bei der oft beschworenen Einzigartigkeit des Holocaust um ein Dogma handele, ja sogar ein Vergleichsverbot bestehe. Dabei wird nicht nur übersehen, dass jede Einschätzung als singulär einen systematischen Vergleich geradezu voraussetzt. Die Frage einer angemessenen Kontextualisierung des Holocaust und der NS-Politik hat die Wissenschaft seit Jahrzehnten immer wieder beschäftigt und eine Fülle theoretischer Debatten und empirischer Erträge hervorgebracht. Sie werden in den Feuilletons allerdings kaum zur Kenntnis genommen und von polemischen öffentlichen Debatten nahezu verdeckt. Viele der im Feld der Holocaust Studies tätigen Wissenschaftler wie der israelische Kulturhistoriker Alon Confino kennen beim Thema Holocaust und Kolonialismus keine Berührungsängste, auch wenn sie simple Kontinuitäts- und Kausalitätsthesen skeptisch betrachten.[6] Diese Debatten um vergleichende Aspekte und die Kontextualisierung des Holocaust werden nicht zuletzt von Institutionen geführt, die auf dem Feld der Holocaust Studies tätig sind.
So haben zum Beispiel das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in München und das Hugo Valentin Centre an der Universität Uppsala im November 2020 einen Workshop zum Thema „Colonial Paradigms of Violence” organisiert, der Forscherinnen und Forscher des Holocaust und der Kolonialgeschichte zusammenbrachte.[7] Die Wiener Holocaust Library in London hat verschiedene öffentliche Diskussionen zum weiteren Kontext von kolonialer Gewalt und Völkermord im Rahmen ihrer Vortragsreihe über „Racism, Antisemitism, Colonialism and Genocide“ durchgeführt.[8] Auch das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington D.C. veranstaltete Workshops wie „The Holocaust at the Crossroads of Empire“ und präsentiert Fallstudien über andere Völkermorde auf ihrer Website.[9] Solche Plattformen der wissenschaftlichen Diskussion stimulieren nicht nur die notwendige Debatte um die Singularität und Vergleichbarkeit des Holocaust,sondern auch die empirische Forschung jenseits gewohnter Grenzen wissenschaftlicher Teildisziplinen.
Schon immer haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach möglichen Zusammenhängen von Holocaust und Kolonialismus gefragt. So definierte der polnische Jurist Raphael Lemkin in seinem 1944 erschienenen Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ den von ihm geschaffenen Begriff Genozid als einen Prozess, der durch zwei Phasen gekennzeichnet sei:
„[O]ne, destruction of the national pattern of the oppressed group; the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization of the area by the oppressor’s own nationals.“[10]
Mehr noch als in seinem berühmt gewordenen Buch hat Lemkin in seinen unveröffentlichten Arbeiten immer wieder auf Beispiele kolonialer und imperialer Gewalt Bezug genommen, um den Begriff Genozid zu illustrieren.[11] Auch andere Zeitgenossen stellten Bezüge zwischen kolonial-imperialer Massengewalt und den Massenverbrechen des Nationalsozialismus her, darunter Aimé Césaire in seinem 1950 erschienenen Buch „Discours sur le colonialisme“, in dem er Holocaust und NS-Verbrechen als „Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa“ bezeichnete, oder Hannah Arendt in ihrer 1951 erstmals erschienenen Studie „The Origins of Totalitarianism“, in der sie Antisemitismus, Expansionsdrang und Rassedenken nicht zuletzt im europäischen Imperialismus verortete.[12]
Bewegten sich solche Thesen lange Zeit eher im Rahmen allgemeiner Deutungen und Überlegungen jenseits empirischer Forschungen, so gewann die Debatte um das Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust nach der Jahrtausendwende an Fahrt. Jürgen Zimmerer und andere stellten dabei den Holocaust in eine unmittelbare Kontinuitätslinie zu den deutschen Kolonialverbrechen der Kaiserzeit, vor allem im Hinblick auf den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908.[13] Die meisten an der Debatte beteiligten Historikerinnen und Historiker, darunter vor allem Birthe Kundrus, Robert Gerwarth, Stephan Malinowski und Pascal Grosse, wiesen jedoch solch einfach gestrickte Kontinuitätsthesen zurück: Eine kausale Kontinuität „von Windhuk nach Auschwitz“ und die Deutung des Holocaust als „kolonialer Genozid“ konstruierten einen deutschen Sonderweg kolonialer Massengewalt, der die transnationale Realität westlich-kolonialer Gewaltpraxis der damaligen Zeit ignoriere. Eine kausale Rückführung von Genoziden auf koloniale Ursprünge könne zudem nicht erklären, warum ausgerechnet die Nationen mit der längsten und gewaltreichsten Kolonialtradition nach 1918 keine völkermörderischen Exzesse praktizierten. Die einseitige Fixierung auf die koloniale Gewalt blende die Gewaltgeschichte des Ersten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit aus, die für die nationalsozialistische Gewaltpraxis viel bedeutender gewesen sei. Zwischen Windhuk und Auschwitz gebe es weder strukturelle noch personelle Kontinuitäten. Überdies sei das Phänomen des Kolonialismus historisch viel zu komplex, um auf eine bloße Geschichte von Vernichtung reduziert zu werden.[14]
Geht man vom Holocaust im engeren Sinne aus, dann lassen sich weitere Argumente gegen einfache Kontinuitätsthesen anführen: Während sich koloniale Massaker und Massengewalt in der Regel aus einem Guerillakrieg der indigenen Bevölkerung gegen die Kolonialherren entwickelten, lagen dem Holocaust keine realen Konflikte, sondern ideologische Projektionen zugrunde. Er war auf kein spezifisches Territorium beschränkt und repräsentierte den präzedenzlosen Versuch, ein Volk mitsamt Frauen und Kindern „von der Erde verschwinden zu lassen“, wie es Heinrich Himmler formulierte.[15] Im Holocaust standen sich auch nicht eine Nation und das koloniale „Andere“ gegenüber, waren doch dem Holocaust umfassende rassistisch-antisemitische Neuformatierungen der eigenen Nation im Sinne der nationalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ vorausgegangen. Vor allem für die antijüdische Politik, wie sie sich beispielhaft in den berüchtigten „Nürnberger Gesetzen“ manifestierte, lassen sich keine direkten kolonialen Vorläufer finden.[16]
Solche Besonderheiten und das auf ihnen gegründete Argument der Singularität sind keine Ex-post-Konstruktionen, die vermeintliche Hohepriester der Erinnerungskultur als Dogma verkünden, sondern wurden schon von Zeitgenossen hervorgehoben. So konnten die verfolgten Juden den Massenmord in ihren Tagebüchern und Aufzeichnungen in keine Kontinuität zu vorherigen Gewaltaktionen oder -erfahrungen einordnen und bezeichneten ihn deshalb vielfach als „das größte Verbrechen, das jemals in der gesamten Geschichte verübt wurde“.[17]
Doch nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter begriffen ihr Vorgehen als singulär. Überhaupt pflegte der Nationalsozialismus ein betont anti-historistisches Selbstverständnis und begriff sich nicht in der Abfolge vorheriger Regime und Reiche, so dass Hitler schließlich sogar die Verwendung des Begriffs Drittes Reich für unerwünscht erklärte.[18] Auf diese Weise sollte nicht nur der Eindruck vermieden werden, der NS-Staat stehe in der Kontinuität zu vorherigen Reichen, sondern auch, dass dem Dritten Reich ein weiteres nachfolgen könne. Vergangenheit und Gegenwart galten dem Nationalsozialismus nämlich als Zustände, die durch radikales Handeln überwunden und in einen Ewigkeitszustand überführt werden sollten: In ein „Tausendjähriges Reich“, in dem Geschichte faktisch abgeschafft und grundlegende Probleme durch ihre „Endlösung“ für immer beseitigt sein sollten.[19] Es war dieser Spannungszustand zwischen Gegenwart und utopischer, prospektiver Ewigkeit, der im Nationalsozialismus ständige Befürchtungen auslöste, zu spät zu kommen, und deshalb gleichermaßen hektische Mobilisierungsanstrengungen, Radikalisierungsmechanismen und Vernichtungsenergien freisetzte.[20]
Von seiner Einzigartigkeit fest überzeugt, sahen sich die Anhänger des Nationalsozialismus auch nicht in ungebrochener Tradition zum deutschen Kolonialismus. Schon in „Mein Kampf“ hatte Hitler unmissverständlich erklärt, „bewusst einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit“ ziehen zu wollen: „Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.“[21] Zwar stellte die NSDAP umfassende koloniale Planungen an, in denen die Schwerpunkte deutscher Kolonialtradition, vor allem in Afrika, jedoch immer nur als sogenannter Ergänzungsraum für das angestrebte Ostimperium fungierten.[22] Mit einer gewissen Chuzpe hielten ausgerechnet die Nationalsozialisten anderen Nationen ihre Kolonialverbrechen vor.[23] Und wie zum Hohn auf den Vernichtungskrieg in Deutsch-Südwestafrika geisterten durch die kolonialen Zeitschriften der NS-Zeit ausgerechnet die Herero als ein mit „tapferen schwarzen Kriegern“ gesegnetes „schwarzes Herrenvolk“, das im Kampf gegen die deutschen Kolonialherren „verzweifelt um seine Freiheit“ gekämpft habe.[24]
Die ausgeprägt anti-historistische Orientierung des Nationalsozialismus und sein Selbstverständnis, singulär zu sein, werden in der Debatte um Kontexte und Kontinuitäten nicht immer angemessen gewichtet. Dennoch sollte die historische Forschung der Frage nach Kontinuitäten, Kausalitäten und Kontexten der NS-Politik nicht ausweichen und deshalb auch den Kolonialismus in seinen Folgewirkungen untersuchen. Dafür eignet sich der Holocaust mit seinen Spezifika jedoch thematisch weitaus weniger als andere Elemente der NS-Herrschaft. Vor allem zwei sind in besonderer Weise prädestiniert, unter kolonialen Prämissen näher analysiert zu werden: das weite Feld nationalsozialistischer Massengewalt jenseits des Holocaust sowie der Versuch, die Vision neuen „Lebensraums“ durch die Okkupation Mittel- und Osteuropas im Rahmen eines imperialistischen Vernichtungskriegs zu verwirklichen.
Mit guten Gründen haben Historikerinnen und Historiker wie Shelley Baranowski oder Dirk van Laak den nationalsozialistischen Imperialismus in den zeitlichen Längsschnitt eines deutschen Imperialismus eingeordnet, der im Bismarckreich einsetzte und 1945 endete.[25] Dabei nahmen sie auch den Kolonialismus des Kaiserreichs in den Blick, ohne jedoch die Geschichte des deutschen Imperialismus als Abfolge bruchloser Kontinuitäten zu präsentieren oder den NS-Imperialismus mit imperialen Strategien anderer Mächte gleichzusetzen. Der britische Historiker Mark Mazower hat in letzterer Hinsicht argumentiert, dass die Besonderheiten des nationalsozialistischen Imperialismus in dem Versuch bestanden hätten, eine koloniale Herrschaft nicht außerhalb, sondern innerhalb Europas zu begründen. Damit aber hätten sie einen weißen Grundkonsens aufgekündigt.[26] Ganz in diesem Sinne haben Wendy Lower und Dieter Pohl von „Nazi Colonialism“[27] oder einer „totalitären Kolonialverwaltung“[28] gesprochen, um den NS-Herrschaftsaufbau in der Ukraine oder das Set nationalsozialistischer Herrschaftspraktiken in Ostgalizien auf den Punkt zu bringen. Dazu zählte vor allem der Versuch, mit eher schwacher Personalausstattung die schrankenlose Ausbeutung der eroberten Gebiete sicherzustellen und dort zugleich umfassende rassistische Hierarchien zu etablieren.
Besonders die umfassenden Pläne zur ethnischen Säuberung und Neuordnung der besetzten Gebiete inklusive deutscher Siedlungskerne und sogenannter Wehrdörfer in Osteuropa, wie sie vor allem im „Generalplan Ost“ zum Ausdruck kamen und nach dem Holocaust verwirklicht werden sollten, drängen sich thematisch geradezu auf, um unter kolonialer Perspektive vergleichend analysiert zu werden.[29] Sie können auch als Form des Settler Colonialism betrachtet werden, der darauf ausgerichtet war, die angestammte Bevölkerung nicht primär für Arbeitszwecke auszubeuten, sondern sie langfristig durch eine neue Bevölkerung der Kolonialnation zu ersetzen.[30] Wie Patrick Wolfe hervorgehoben hat, versucht der Siedler-Kolonialismus „zu zerstören, um zu ersetzen“.[31] In diesem Sinne können auch koloniale Versuche der Assimilation, mit denen die indigene Bevölkerung in Kultur und Gesellschaft der Besatzer aufgehen sollte, als Versuch aufgefasst werden, die Natives letztlich auszulöschen. Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lange Zeit den Begriff Genozid eher vermieden, wenn es um die Analyse von Massenmord in kolonialen Kontexten ging, hat er sich im Zusammenhang mit dem Settler Colonialism mittlerweile durchgesetzt.[32] So argumentierte beispielsweise Lorenzo Veracini, dass die kolonialen Siedlungsprojekte auf „Fantasien der ultimativen ‚Reinigung‘ der Siedlergemeinschaft von allen inneren und äußeren Besonderheiten basierten“.[33]
Caroline Elkins und Susan Pederson haben die Expansion NS-Deutschlands nach Osteuropa in eine vergleichende Analyse kolonialer Siedlungsprojekte integriert und auch mit der japanischen Expansion nach China, Taiwan und Korea in Beziehung gesetzt: als Versuch, internationale Machtstellung und regionale Hegemonie durch territoriale Eroberungen und den Einsatz von Siedlern zu verwirklichen.[34] Auch die Ansiedlung von Volksdeutschen und sogenannte Wiedereindeutschungsverfahren in den ausdrücklich ins Deutsche Reich inkorporierten Ostgebieten, wo eine rassisch stratifizierte deutsche Bevölkerung geschaffen werden sollte, können unter kolonialen Perspektiven analysiert und mit kolonialen Vorgehensweisen verglichen werden. Zugleich zeigen solche Beispiele, wie rassische Neuordnungsfantasien in NS-Deutschland wie in anderen kolonialen Kontexten mit zahlreichen ähnlichen Problemen, Herausforderungen und Widersprüchen konfrontiert waren, als es darum ging, sie in die Realität umzusetzen.[35]
Eine Interpretation nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft in Osteuropa unter kolonialen Vorzeichen ist schon deshalb nahezu unvermeidlich, weil die deutschen Akteure koloniale Begriffe und Deutungsmuster fast inflationär verwendeten, um ihre Tätigkeit und das mittel- oder osteuropäische Umfeld zu beschreiben. Das ab 1942/43 faktisch abgewickelte Kolonialpolitische Amt der NSDAP, das sich geographisch stark auf Afrika und überseeische Gebiete konzentrierte, monierte 1942 ausdrücklich die uferlose Verwendung kolonialer Termini im Bereich der besetzten Ostgebiete.[36] Trotzdem bezeichnete der Reichskommissar für die Ukraine, Erich Koch, die Ukrainer oft als „Neger”, die bei Fehlverhalten öffentlich ausgepeitscht werden sollten.[37] Dementsprechend notierte auch eine ukrainische Frau in ihrem Tagebuch: „Wir sind wie Sklaven. Ich muss oft an das Buch ‚Onkel Toms Hütte‘ denken. Einst haben wir über diese Neger Tränen vergossen, nun erleben wir offensichtlich das Gleiche.“ Auch die ukrainischen Hilfstruppen der SS wurden oft als „Schwarze“ oder „Askaris“ bezeichnet, in Anlehnung an die farbigen Kolonialtruppen im Ersten Weltkrieg unter dem Kommando des Generals von Lettow-Vorbeck.[38] Im annektierten Polen beschrieben die Reichsdeutschen selbst die volksdeutschen Umsiedler in einer Sprache, die den Darstellungen eines kolonialen „Anderen“ ähnelte. Sie betonten ihre angebliche Primitivität, Nachlässigkeit und Naivität und legitimierten damit die nationalsozialistische Germanisierungsmission in den Reichsgauen.[39] Ein polnischer Zeuge berichtete, dass Reichsdeutsche die Baltendeutschen häufig als „die dummen Hottentotten“ bezeichneten.[40]
Zwar kann man von keiner größeren Präsenz ehemals deutscher kolonialer Akteure in Osteuropa sprechen, vor allem nicht unter den führenden Vertretern der deutschen Besatzungsmacht, doch sind Personen aus kolonialen Kontexten durchaus auszumachen. So befanden sich zum Beispiel Absolventinnen der Kolonialen Frauenschule ebenso im „Osteinsatz“ wie Repräsentanten früherer kolonialwirtschaftlicher Unternehmen, die in den Wirtschaftsstäben der Besatzer Dienst taten oder bei der Anlage von Tabakpflanzungen in der Ukraine assistierten.[41] Im Generalgouvernement waren zahlreiche Bremer und Hamburger Handelsunternehmen als sogenannte Kreisgroßhändler eingesetzt, die zuvor wirtschaftlich vor allem in Afrika tätig gewesen waren und nicht zuletzt wegen ihrer kolonialen Erfahrungen im besetzten Polen verwendet wurden. In ihren Berichten hoben sie vielfach hervor, dass die „Primitivität Polens sehr stark an Afrika“ erinnere.[42]
Insgesamt lieferte der Kolonialismus offensichtlich ein willkommenes Deutungsarsenal für die Akteure der deutschen Besatzungsmacht im Osten, auch wenn diese – schon wegen ihres oft jungen Alters – über keinerlei koloniale Erfahrungen verfügten. Kolonisation verlieh der eigenen Tätigkeit gewissermaßen höhere Weihen als Mission und Pionieraufgabe für künftige Generationen; gleichzeitig legitimierte sie auch die rassistische Hierarchisierung der besetzten Gebiete und das Selbstverständnis als sogenannter Herrenmensch. Allerdings wurde koloniale Rhetorik von manchen Akteuren auch bemüht, um gerade im Namen des Kolonialismus die deutsche Besatzungspraxis im Osten zu kritisieren. So mokierte sich ein deutscher Kreishauptmann im Generalgouvernement wortreich über das „östliche Halbmenschentum“ am Einsatzort und definierte sich ausdrücklich als „Kolonist“. Der Größe der kolonialen Aufgabe sei jedoch das deutsche Besatzungspersonal wegen Unfähigkeit, primitiver Raffgier und Bereicherungssucht überhaupt nicht gewachsen, es sei „ärger als 10 nackte Neger“: „Statt dass man kolonisiert, wofür die Besten gerade gut genug wären, betrachtet man im Reich den Osten als eine Art Müllhaufen, auf den man jeden Dreck abladen kann.“[43]
Neben der deutschen Besatzungsherrschaft im Osten lohnt auch das breite Feld nationalsozialistischer Massengewalt jenseits des Holocaust, um unter der Perspektive kolonialer Kausalitäten und Kontinuitäten analysiert zu werden. Bekanntlich wurzelte die NS-Exklusions- und Vernichtungspolitik nicht allein im Antisemitismus, sondern verfügte über ein deutlich breiteres ideologisches Fundament, zu dem auch die Rassenhygiene und (kolonialer) Rassismus, Antiziganismus und Anti-Slawismus gehörten.
So waren die nationalsozialistischen Konzentrationslager bekanntlich auch Stätten medizinischer Experimente an Häftlingen und ein abschreckendes Beispiel für eine „Medizin ohne Menschlichkeit“.[44] Repräsentierten diese Menschenversuche aber einen außergewöhnlichen Sonderfall oder hatten sie nicht – zumindest partiell – auch koloniale Vorläufer? So hatte sich bereits Nobelpreisträger Robert Koch in der Kolonialzeit für die Einrichtung von „Konzentrationslagern“ für Kranke ausgesprochen,[45] wobei sich die deutsche Kolonialmedizin in ihren Methoden nicht entscheidend von ihren europäischen Pendants unterschied. Bereits frühere medizinhistorische Forschungen, die weder in der Geschichtswissenschaft noch von einer breiteren Öffentlichkeit intensiv rezipiert wurden, hatten auf eine fragwürdige Tradition von Menschenversuchen in den Kolonien hingewiesen, die Kolonialärzte nach 1933 fortsetzten.[46] Ein bekanntes Beispiel war der Direktor der tropenmedizinischen Abteilung am Robert Koch-Institut, Claus Schilling. Als Kolonialarzt in Togo und Deutsch-Ostafrika hatte Schilling bereits vor 1914 Menschenversuche durchgeführt, die er später unter anderem an Insassen psychiatrischer Anstalten im faschistischen Italien sowie an rund 1.000 Häftlingen des KZ Dachau fortsetzte, die er mit Malaria-Erregern infizierte, um ein mögliches Gegenmittel zu testen.[47] Neuere Forschungen von Sarah Ehlers zeigen darüber hinaus, dass manche Ärzte, die in Deutsch-Ostafrika die Schlafkrankheit erforscht und dabei medizinische Experimente an der indigenen, in Internierungslagern festgehaltenen Bevölkerung durchgeführt hatten, diese Menschenversuche ebenfalls im Dritten Reich fortsetzten. Dabei griffen sie auf KZ-Häftlinge und partiell auch auf Insassen jüdischer Ghettos zurück.[48]
Schon länger bekannt ist die Verquickung der Rasseforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit den Massenverbrechen in der NS-Zeit, darunter an KZ-Häftlingen sowie an Sinti und Roma.[49] Dies gilt nicht zuletzt für die kolonialen Bezüge der dort tätigen Wissenschaftler, zum Beispiel des Institutsdirektors Eugen Fischer, der 1913 eine Studie über die „Rehobother Bastards“ in Deutsch-Südwestafrika vorgelegt hatte und im Dritten Reich unter anderem für die Zwangssterilisation von Kindern deutscher Frauen und farbiger Besatzungssoldaten mitverantwortlich zeichnete, die in der NS-Diktion als „Rheinlandbastarde“ bezeichnet wurden.[50] Das von Manuela Bauche geleitete Projekt „Geschichte der Ihnestr. 22“ – der Sitz des Instituts – wird sich dieser thematischen Komplexe noch einmal besonders annehmen.[51]
Insgesamt dokumentieren die erwähnten Forschungsfelder und Projekte, dass Studien zu kolonialen Bezügen der NS-Herrschaft voranschreiten. Entsprechende Diskussionen werden seit Langem geführt, ohne in der weiteren Öffentlichkeit oder in erinnerungskulturellen Deutungskämpfen gebührende Beachtung zu finden. Dabei beurteilt man eine unmittelbare Verbindung von Holocaust und Kolonialismus insgesamt und mit guten Gründen eher skeptisch. Entsprechende Kontinuitätskonstruktionen oder der Vergleich an sich sind aber kein Tabu, sondern fester Bestandteil von Kontextualisierungsdiskussionen nicht zuletzt im Feld der Holocaust Studies. Darüber hinaus ist kaum zu bestreiten, dass sich der NS-Imperialismus und das breite Feld nationalsozialistischer Massengewalt geradezu aufdrängen, vergleichend und damit auch unter kolonialen Prämissen erforscht und analysiert zu werden.
© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Artikel in diesem Heft
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- Aufsätze
- Historische Erfahrung und politisches Handeln
- Arbeiterwiderstand, faschistische Repression und internationale Solidarität
- Mehr Integration?
- Miszelle
- Neue Quellen der Beratungsforschung: Marvin Bowers Perspective on McKinsey
- Dokumentation
- Innenansichten einer „Staatspartei“
- VfZ-Schwerpunkt
- Kulturen des Konservativen in der jüngsten Zeitgeschichte – das Beispiel Großbritannien
- „A very English superstar“
- Diskussion
- Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus
- Aus der Redaktion
- „Ich bin ganz aus Disziplin zusammengesetzt!“
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- 16. Aldersbacher Schreib-Praxis
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