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Holocaust, Kolonialismus und NS-Imperialismus

Forschung im Schatten einer polemischen Debatte
  • Frank Bajohr EMAIL logo und Rachel O’Sullivan
Veröffentlicht/Copyright: 1. Januar 2022
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Abstract

Seit 2020 wird in der Bundesrepublik mit wachsender Heftigkeit um die Ausrichtung der deutschen Erinnerungskultur gestritten: Ist diese zu einseitig und katechistisch auf Holocaust und Judenverfolgung im „Dritten Reich“ konzentriert und ignoriert damit beharrlich einen erweiterten Kontext von Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus? Der vorliegende Beitrag versucht zu zeigen, dass die Dichotomien und Polemiken dieser Debatte die wissenschaftliche Forschung nahezu verdecken, die sich seit Jahrzehnten um eine angemessene Kontextualisierung der NS-Verbrechen bemüht. Einfache Kontinuitätskonstruktionen zwischen Kolonialismus und Holocaust hat die Forschung dabei mehrheitlich abgelehnt. Die nationalsozialistische Massengewalt jenseits des Holocaust sowie die NS-Okkupationspolitik in Osteuropa lohnen jedoch, unter kolonialen Prämissen näher analysiert zu werden.

Abstract

Since 2020, there has been an increasingly heated debate in the Federal Republic concerning German remembrance culture: Is it too one-sided and catechistically focused on the Holocaust and the persecution of Jews in the Third Reich, thus persistently ignoring a broader context of colonialism, imperialism and racism? This article attempts to show that the dichotomies and polemics of this debate almost obscure the scholarly research that has been striving to adequately contextualize Nazi crimes for decades. The majority of research on the topic has rejected simple constructions of continuity between colonialism and the Holocaust. However, Nazi mass violence beyond the Holocaust, as well as Nazi occupation policies in Eastern Europe, are worth analyzing more closely under colonial premises.

Vorspann

Glaubt man den Feuilletons, ist zurzeit der zweite Historikerstreit in vollem Gange. Hatte sich der erste 1986/87 noch in Auseinandersetzung mit den Thesen von Ernst Nolte um die Frage nach dem Verhältnis von Bolschewismus, Nationalsozialismus und Holocaust gedreht, so geht es derzeit um die Frage nach verhängnisvollen Kontinuitäten zwischen Vernichtungsfeldzügen vor 1914 und nach 1939, wobei die koloniale Vergangenheit Deutschlands verstärkt in den Blick gerät. Besondere Brisanz gewinnt die gegenwärtige Debatte wegen der Frage nach der Singularität des Holocaust, die der einen Seite als unanzweifelbar gilt, der anderen aber diskutabel scheint. Frank Bajohr und Rachel O’Sullivan ziehen eine vorläufige Bilanz der Kontroverse. Sie wägen die Argumente beider Seiten ab und suchen jenseits aller Polemik nach produktiven Anknüpfungspunkten für die historische Forschung.

Seit knapp zwei Jahren wird in der Bundesrepublik mit wachsender Heftigkeit um die Aus­rich­tung der deutschen Erinnerungskultur gestritten. Der Streit nahm seinen Anfang im Frühjahr 2020 mit der öffentlichen Debatte um den Politikwissenschaftler Achille Mbembe, einen der be­kanntesten Theoretiker des Postkolonialismus, dem unter anderen der Antisemitis­mus­be­auf­trag­te der Bundesregierung, Felix Klein, vorwarf, in seinen Schriften den Holocaust zu re­la­ti­vie­ren und das Existenzrecht Israels infrage zu stellen.[1] Seitdem ist zunehmend die HolocaustEr­­innerung als zentrales Element der deutschen Erinnerungskultur in den Mit­tel­punkt der Aus­ein­­andersetzung gerückt, die neben vielen bedenkenswerten Stellungnahmen zunehmend schril­le und polemische Töne hervorgebracht hat. Vorwürfe einer Holocaust-Leugnung von links an die Adresse von Postkolonialisten und Vertretern einer vergleichenden Ge­nozid­for­schung werden von letzteren mit nassforschen Angriffen auf die deutsche Erin­nerungs­kultur be­antwortet: Die Erinnerung an den Holocaust und der Kampf gegen den Anti­semitismus sei – so lautet der Vorwurf – in der Bundesrepublik als „Erlösungsnarrativ“ in den Rang eines „Ka­te­­chismus“ erhoben worden, der nahezu jede Form der Kritik am Staat Israel als Antisemitismus ver­teufele.[2] Gegenüber dem Postkolonialismus verharre man in pro­vin­zieller Blindheit und las­se jede breitere, vergleichende Perspektive auf Imperialismus und Ko­lo­nia­lismus, Rassismus, Ge­nozide und Massengewalt vermissen.

Die hitzigen Polemiken der Debatte verdecken zum einen, dass beide Seiten durchaus legitime er­innerungskulturelle Anliegen vertreten, die sich keineswegs ausschließen. So ist die Erin­ne­rung an den Holocaust, die nach 1945 jahrzehntelang kaum eine Rolle gespielt hatte, kein Aus­druck deutscher Provinzialität, sondern ein gelungenes Beispiel einer post-nationalen und bei­na­he globalen Erinnerungskultur, die sich – ausgehend von den USA – seit den 1980er/90er Jah­ren schließlich auch in Deutschland und Europa durchgesetzt hat. Bis heute wird sie aber im­mer noch infrage gestellt, zum Beispiel durch patriotische und na­tio­na­listische Ge­schichts­nar­rative vor allem in Mittel- und Osteuropa.[3] Zugleich ist kaum zu über­sehen, dass Ko­lo­nialis­mus und Imperialismus in vielen Ländern Europas keine vergleichbare öffentliche Er­in­ne­rungs­kul­tur hervorgebracht haben, wobei diese Diskrepanz besonders für Länder mit un­gleich län­ge­rer kolonialer Tradition als Deutschland zu konstatieren ist, vor allem für Groß­britan­nien.[4] Kri­ti­sche Erinnerung an den Holocaust einerseits und an Verbrechen des Kolo­nialismus und Im­perialismus andererseits schließen sich nicht nur nicht aus, zumal Erinnerung kein Null­sum­men­spiel ist, wie es Michael Rothberg treffend formuliert hat.[5] Im Gegenteil kann die mühsam durch­gesetzte Holocaust-Erinnerung vor allem in den Ländern Europas als po­si­tives Beispiel wir­ken, auch der kolonialen und imperialen Vergangenheit des Kontinents die an­gemessene öf­fentliche Beachtung zu schenken.

Zum anderen ist in der schrillen öffentlichen Debatte der irrige Eindruck entstanden, dass es sich bei der oft beschworenen Einzigartigkeit des Holocaust um ein Dogma han­dele, ja sogar ein Vergleichsverbot bestehe. Dabei wird nicht nur übersehen, dass jede Ein­schät­zung als singulär einen systematischen Vergleich geradezu voraussetzt. Die Frage einer an­­gemessenen Kontextualisierung des Holocaust und der NS-Politik hat die Wissenschaft seit Jahr­­zehnten immer wieder beschäftigt und eine Fülle theoretischer Debatten und empirischer Er­trä­ge hervorgebracht. Sie werden in den Feuilletons allerdings kaum zur Kenntnis genommen und von polemischen öffentlichen Debatten nahezu verdeckt. Viele der im Feld der Holocaust Studies tätigen Wissenschaftler wie der israelische Kulturhistoriker Alon Confino kennen beim The­­ma Holocaust und Kolonialismus keine Berührungsängste, auch wenn sie simple Kon­ti­nui­täts- und Kausalitätsthesen skeptisch betrachten.[6] Diese Debatten um vergleichende Aspekte und die Kontextualisierung des Holocaust werden nicht zuletzt von Institutionen geführt, die auf dem Feld der Holocaust Studies tätig sind.

So haben zum Beispiel das Zentrum für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte in Mün­chen und das Hugo Valentin Centre an der Universität Uppsala im November 2020 einen Work­­shop zum Thema „Colonial Paradigms of Violence” organisiert, der Forscherinnen und For­­­scher des Holocaust und der Kolonialgeschichte zusammenbrachte.[7] Die Wiener Holocaust Lib­­rary in London hat verschiedene öffentliche Diskussionen zum weiteren Kontext von ko­lo­nia­ler Gewalt und Völkermord im Rahmen ihrer Vortragsreihe über „Racism, Antisemitism, Co­­lonialism and Genocide“ durchgeführt.[8] Auch das United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) in Washington D.C. veranstaltete Workshops wie „The Holocaust at the Cross­roads of Em­pire“ und präsentiert Fallstudien über andere Völkermorde auf ihrer Website.[9] Sol­che Platt­for­men der wissenschaftlichen Diskussion stimulieren nicht nur die notwendige De­batte um die Sin­gularität und Vergleichbarkeit des Holocaust,sondern auch die empirische For­schung jen­seits gewohnter Grenzen wissenschaftlicher Teildisziplinen.

Schon immer haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nach möglichen Zusam­men­hän­­gen von Holocaust und Kolonialismus gefragt. So definierte der polnische Jurist Raphael Lem­­kin in seinem 1944 erschienenen Buch „Axis Rule in Occupied Europe“ den von ihm ge­schaf­fenen Begriff Genozid als einen Prozess, der durch zwei Phasen gekennzeichnet sei:

„[O]ne, destruction of the national pattern of the oppressed group; the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain, or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization of the area by the oppressor’s own nationals.“[10]

Mehr noch als in seinem berühmt gewordenen Buch hat Lemkin in seinen unveröffentlichten Ar­beiten immer wieder auf Beispiele kolonialer und imperialer Gewalt Bezug genommen, um den Begriff Genozid zu illustrieren.[11] Auch andere Zeitgenossen stellten Bezüge zwischen ko­lo­nial-imperialer Massengewalt und den Massenverbrechen des Nationalsozialismus her, dar­unter Aimé Césaire in seinem 1950 erschienenen Buch „Discours sur le colonialisme“, in dem er Holocaust und NS-Verbrechen als „Anwendung kolonialistischer Praktiken auf Europa“ be­zeich­nete, oder Hannah Arendt in ihrer 1951 erstmals erschienenen Studie „The Origins of To­ta­litarianism“, in der sie Antisemitismus, Expansionsdrang und Rassedenken nicht zuletzt im eu­ropäischen Imperialismus verortete.[12]

Bewegten sich solche Thesen lange Zeit eher im Rahmen allgemeiner Deutungen und Über­le­gun­­gen jenseits empirischer Forschungen, so gewann die Debatte um das Verhältnis von Ko­lo­nia­lismus und Holocaust nach der Jahrtausendwende an Fahrt. Jürgen Zimmerer und an­dere stellten dabei den Holocaust in eine unmittelbare Kontinuitätslinie zu den deutschen Ko­lo­nial­ver­­brechen der Kaiserzeit, vor allem im Hinblick auf den deutschen Vernichtungskrieg gegen die Herero und Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908.[13] Die meis­ten an der Debatte beteiligten Historikerinnen und Historiker, darunter vor allem Birthe Kun­­drus, Robert Gerwarth, Stephan Malinowski und Pascal Grosse, wiesen jedoch solch ein­fach gestrickte Kontinuitätsthesen zurück: Eine kausale Kontinuität „von Windhuk nach Au­schwitz“ und die Deutung des Holocaust als „kolonialer Genozid“ konstruierten einen deut­schen Son­­­derweg kolonialer Massengewalt, der die transnationale Realität westlich-kolonialer Ge­­walt­praxis der damaligen Zeit ignoriere. Eine kausale Rückführung von Genoziden auf ko­lo­­nia­le Ursprünge könne zudem nicht erklären, warum ausgerechnet die Nationen mit der läng­sten und gewaltreichsten Kolonialtradition nach 1918 keine völkermörderischen Exzesse prak­ti­­zierten. Die einseitige Fixierung auf die koloniale Gewalt blende die Gewaltgeschichte des Ers­­ten Weltkriegs und der unmittelbaren Nachkriegszeit aus, die für die nationalsozialistische Ge­­waltpraxis viel bedeutender gewesen sei. Zwischen Windhuk und Auschwitz gebe es weder struk­­turelle noch personelle Kontinuitäten. Überdies sei das Phänomen des Kolonialismus his­to­­risch viel zu komplex, um auf eine bloße Geschichte von Vernichtung reduziert zu werden.[14]

Geht man vom Holocaust im engeren Sinne aus, dann lassen sich weitere Argumente gegen ein­­fache Kontinuitätsthesen anführen: Während sich koloniale Massaker und Massengewalt in der Regel aus einem Guerillakrieg der indigenen Bevölkerung gegen die Kolonialherren ent­­wickelten, lagen dem Holocaust keine realen Konflikte, sondern ideologische Projektionen zu­grun­de. Er war auf kein spezifisches Territorium beschränkt und repräsentierte den prä­ze­denz­lo­sen Versuch, ein Volk mitsamt Frauen und Kindern „von der Erde verschwinden zu lassen“, wie es Heinrich Himmler formulierte.[15] Im Holocaust standen sich auch nicht eine Na­tion und das koloniale „Andere“ gegenüber, waren doch dem Holocaust umfassende rassistisch-antise­mi­tische Neuformatierungen der eigenen Nation im Sinne der nationalsozialistischen „Volks­ge­meinschaft“ vorausgegangen. Vor allem für die antijüdische Politik, wie sie sich beispielhaft in den berüchtigten „Nürnberger Gesetzen“ manifestierte, lassen sich keine direkten kolonialen Vor­läu­fer finden.[16]

Solche Besonderheiten und das auf ihnen gegründete Ar­gument der Singularität sind keine Ex-post-Konstruktionen, die vermeintliche Hohepriester der Erinnerungskultur als Dogma ver­kün­den, sondern wurden schon von Zeitgenossen hervor­ge­hoben. So konnten die verfolgten Juden den Massenmord in ihren Tagebüchern und Auf­zeich­nungen in keine Kontinuität zu vorherigen Ge­waltaktionen oder -erfahrungen einordnen und bezeichneten ihn deshalb vielfach als „das größ­te Verbrechen, das jemals in der gesamten Ge­schichte verübt wurde“.[17]

Doch nicht nur die Opfer, sondern auch die Täter begriffen ihr Vorgehen als singulär. Über­haupt pflegte der Nationalsozialismus ein betont anti-historistisches Selbstverständnis und begriff sich nicht in der Abfolge vorheriger Regime und Reiche, so dass Hitler schließlich sogar die Verwendung des Begriffs Drittes Reich für unerwünscht erklärte.[18] Auf diese Weise sollte nicht nur der Eindruck vermieden werden, der NS-Staat stehe in der Kontinuität zu vorherigen Reichen, sondern auch, dass dem Dritten Reich ein weiteres nachfolgen könne. Vergangenheit und Gegenwart galten dem Nationalsozialismus nämlich als Zustände, die durch radikales Han­deln überwunden und in einen Ewigkeitszustand überführt werden soll­ten: In ein „Tausend­jäh­ri­ges Reich“, in dem Geschichte faktisch abgeschafft und grund­le­gen­de Probleme durch ihre „End­lösung“ für immer beseitigt sein sollten.[19] Es war die­ser Spannungszustand zwischen Ge­genwart und utopischer, prospektiver Ewigkeit, der im Na­tio­nal­sozialismus ständige Be­fürch­tungen auslöste, zu spät zu kommen, und deshalb gleicher­ma­ßen hektische Mo­bi­li­sie­rungs­anstrengungen, Radikalisierungsmechanismen und Vernichtungs­en­er­gien freisetzte.[20]

Von seiner Einzigartigkeit fest überzeugt, sahen sich die Anhänger des Nationalsozialismus auch nicht in ungebrochener Tradition zum deutschen Kolonialismus. Schon in „Mein Kampf“ hat­te Hitler unmissverständlich erklärt, „bewusst einen Strich unter die außenpolitische Rich­tung unserer Vorkriegszeit“ ziehen zu wollen: „Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Han­delspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.“[21] Zwar stellte die NSDAP umfassende koloniale Planungen an, in denen die Schwerpunkte deutscher Kolo­nial­tradition, vor allem in Afrika, jedoch im­mer nur als sogenannter Ergänzungsraum für das an­gestrebte Ostimperium fungierten.[22] Mit einer gewissen Chuzpe hielten ausgerechnet die Na­tio­nalsozialisten anderen Nationen ihre Kolonial­ver­brechen vor.[23] Und wie zum Hohn auf den Ver­nichtungskrieg in Deutsch-Süd­west­afrika geisterten durch die kolonialen Zeitschriften der NS-Zeit ausgerechnet die Herero als ein mit „tapferen schwarzen Kriegern“ gesegnetes „schwar­zes Herrenvolk“, das im Kampf gegen die deutschen Kolonialherren „verzweifelt um sei­ne Freiheit“ gekämpft habe.[24]

Die ausgeprägt anti-historistische Orientierung des Nationalsozialismus und sein Selbst­ver­ständ­nis, singulär zu sein, werden in der Debatte um Kontexte und Kontinuitäten nicht im­mer an­gemessen gewichtet. Dennoch sollte die historische Forschung der Frage nach Kon­ti­nui­täten, Kau­salitäten und Kontexten der NS-Politik nicht ausweichen und deshalb auch den Ko­lo­nia­lis­mus in seinen Folgewirkungen untersuchen. Dafür eignet sich der Holocaust mit sei­nen Spe­zi­fi­ka jedoch thematisch weitaus weniger als andere Elemente der NS-Herrschaft. Vor al­lem zwei sind in besonderer Weise prädestiniert, unter kolonialen Prämissen näher analysiert zu werden: das weite Feld nationalsozialistischer Massengewalt jenseits des Ho­­lo­caust sowie der Versuch, die Vision neuen „Lebensraums“ durch die Okkupation Mittel- und Osteuropas im Rahmen ei­nes imperialistischen Vernichtungs­kriegs zu verwirklichen.

Mit guten Gründen haben Historikerinnen und Historiker wie Shelley Baranowski oder Dirk van Laak den nationalsozialistischen Imperialismus in den zeitlichen Längsschnitt eines deut­schen Imperialismus eingeordnet, der im Bismarckreich einsetzte und 1945 endete.[25] Dabei nah­men sie auch den Kolonialismus des Kaiserreichs in den Blick, ohne jedoch die Ge­schichte des deutschen Imperialismus als Abfolge bruchloser Kontinuitäten zu präsentieren oder den NS-Imperialismus mit imperialen Strategien anderer Mächte gleichzusetzen. Der bri­ti­sche His­to­riker Mark Mazower hat in letzterer Hinsicht argumentiert, dass die Besonderheiten des natio­nal­sozialistischen Imperialismus in dem Versuch bestanden hätten, eine koloniale Herr­schaft nicht außerhalb, sondern innerhalb Europas zu begründen. Damit aber hätten sie einen weißen Grund­konsens aufgekündigt.[26] Ganz in diesem Sinne haben Wendy Lower und Dieter Pohl von „Nazi Colonialism“[27] oder einer „totalitären Kolonial­ver­waltung“[28] gesprochen, um den NS-Herr­­schaftsaufbau in der Ukraine oder das Set nationalsozialistischer Herrschafts­prak­ti­ken in Ost­­galizien auf den Punkt zu bringen. Dazu zählte vor allem der Versuch, mit eher schwacher Per­­sonalausstattung die schrankenlose Ausbeutung der eroberten Gebiete sicherzustellen und dort zugleich umfassende rassistische Hierarchien zu etab­lie­ren.

Besonders die umfassenden Pläne zur ethnischen Säuberung und Neuordnung der besetzten Ge­biete inklusive deutscher Siedlungskerne und sogenannter Wehrdörfer in Osteuropa, wie sie vor allem im „Generalplan Ost“ zum Ausdruck kamen und nach dem Holocaust verwirklicht wer­­den sollten, drängen sich thematisch geradezu auf, um unter kolonialer Perspektive ver­glei­chend analysiert zu werden.[29] Sie können auch als Form des Settler Colonialism be­trach­tet wer­den, der darauf ausgerichtet war, die angestammte Bevölkerung nicht primär für Ar­beits­zwecke aus­zubeuten, sondern sie langfristig durch eine neue Bevölkerung der Kolonialnation zu ersetzen.[30] Wie Patrick Wolfe hervorgehoben hat, versucht der Siedler-Kolonialismus „zu zer­stö­ren, um zu ersetzen“.[31] In diesem Sinne können auch koloniale Versuche der As­similation, mit denen die indigene Bevölkerung in Kultur und Gesellschaft der Besatzer auf­gehen sollte, als Versuch aufgefasst werden, die Natives letztlich auszulöschen. Obwohl viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler lange Zeit den Begriff Genozid eher ver­mieden, wenn es um die Analyse von Massenmord in kolonialen Kontexten ging, hat er sich im Zusammenhang mit dem Settler Colonialism mittlerweile durchgesetzt.[32] So argumentierte bei­spielsweise Lorenzo Veracini, dass die kolonialen Siedlungsprojekte auf „Fantasien der ulti­ma­tiven ‚Reinigung‘ der Siedlergemeinschaft von allen inneren und äußeren Besonderheiten basierten“.[33]

Ca­roline Elkins und Susan Pederson haben die Ex­pan­sion NS-Deutsch­lands nach Osteuropa in eine vergleichende Analyse kolonialer Sied­lungs­pro­jekte integriert und auch mit der japanischen Expansion nach China, Taiwan und Korea in Be­zie­hung gesetzt: als Ver­such, internationale Machtstellung und regionale Hegemonie durch territoriale Eroberungen und den Einsatz von Siedlern zu verwirklichen.[34] Auch die Ansiedlung von Volksdeutschen und so­ge­nann­te Wiedereindeut­schungs­ver­fah­ren in den ausdrücklich ins Deutsche Reich inkorporierten Ost­­ge­bieten, wo eine rassisch stra­tifizierte deut­sche Bevölkerung geschaffen werden sollte, können un­ter kolonialen Per­spek­ti­ven analysiert und mit kolonialen Vorgehensweisen verglichen wer­­den. Zugleich zeigen solche Bei­spiele, wie ras­sische Neuordnungsfantasien in NS-Deutsch­­land wie in anderen kolo­nia­len Kontexten mit zahlreichen ähnlichen Problemen, Heraus­for­­derungen und Wi­der­sprü­chen konfrontiert wa­ren, als es darum ging, sie in die Realität um­zu­­setzen.[35]

Eine Interpretation nationalsozialistischer Besatzungsherrschaft in Osteuropa unter kolonialen Vor­­zeichen ist schon deshalb nahezu unvermeidlich, weil die deutschen Akteure koloniale Be­grif­fe und Deutungsmuster fast inflationär verwendeten, um ihre Tätigkeit und das mittel- oder ost­europäische Umfeld zu beschreiben. Das ab 1942/43 faktisch abgewickelte Ko­lo­nial­po­li­ti­sche Amt der NSDAP, das sich geographisch stark auf Afrika und überseeische Ge­bie­te kon­zen­trierte, monierte 1942 ausdrücklich die uferlose Verwendung kolonialer Termini im Bereich der besetzten Ostgebiete.[36] Trotzdem bezeichnete der Reichskommissar für die Ukrai­ne, Erich Koch, die Ukrainer oft als „Neger”, die bei Fehlverhalten öffentlich aus­ge­peitscht werden soll­ten.[37] Dementsprechend notierte auch eine ukrainische Frau in ihrem Ta­ge­buch: „Wir sind wie Skla­ven. Ich muss oft an das Buch ‚Onkel Toms Hütte‘ denken. Einst ha­ben wir über diese Ne­ger Tränen vergossen, nun erleben wir offensichtlich das Gleiche.“ Auch die ukrainischen Hilfs­truppen der SS wurden oft als „Schwarze“ oder „Askaris“ bezeichnet, in Anlehnung an die farbigen Kolonialtruppen im Ersten Weltkrieg un­ter dem Kommando des Generals von Let­tow-Vor­beck.[38] Im annektierten Polen beschrieben die Reichsdeutschen selbst die volks­deutschen Umsiedler in einer Sprache, die den Dar­stellungen eines kolonialen „Anderen“ ähn­el­te. Sie betonten ihre angebliche Primitivität, Nach­läs­sigkeit und Naivität und legitimierten da­mit die nationalsozialistische Germanisierungs­mis­sion in den Reichsgauen.[39] Ein polnischer Zeu­ge berichtete, dass Reichsdeutsche die Bal­ten­deut­schen häufig als „die dummen Hot­ten­tot­ten“ bezeichneten.[40]

Zwar kann man von keiner größeren Präsenz ehemals deutscher kolonialer Akteure in Ost­eu­ro­­­pa sprechen, vor allem nicht unter den führenden Vertretern der deutschen Besatzungsmacht, doch sind Personen aus kolonialen Kontexten durchaus auszumachen. So befanden sich zum Bei­­spiel Absolventinnen der Kolonialen Frauenschule ebenso im „Osteinsatz“ wie Re­prä­sen­tan­­ten früherer kolonialwirtschaftlicher Unternehmen, die in den Wirtschaftsstäben der Be­sat­zer Dienst taten oder bei der Anlage von Tabakpflanzungen in der Ukraine assistierten.[41] Im Ge­­neralgouvernement waren zahlreiche Bremer und Hamburger Handelsunternehmen als so­ge­nannte Kreis­großhändler eingesetzt, die zuvor wirtschaftlich vor allem in Afrika tätig ge­we­sen waren und nicht zuletzt wegen ihrer kolonialen Erfahrungen im besetzten Polen ver­wen­det wur­den. In ihren Berichten hoben sie vielfach hervor, dass die „Primitivität Polens sehr stark an Afrika“ erinnere.[42]

Insgesamt lieferte der Kolonialismus offensichtlich ein willkommenes Deutungsarsenal für die Ak­­teure der deutschen Besatzungsmacht im Osten, auch wenn diese – schon wegen ihres oft jun­gen Alters – über keinerlei koloniale Erfahrungen verfügten. Kolonisation verlieh der ei­ge­nen Tätigkeit gewissermaßen höhere Weihen als Mission und Pionieraufgabe für künftige Ge­ne­rationen; gleichzeitig legitimierte sie auch die rassistische Hierarchisierung der besetzten Ge­biete und das Selbstverständnis als sogenannter Herrenmensch. Allerdings wurde koloniale Rhetorik von manchen Akteuren auch bemüht, um gerade im Namen des Ko­lo­nialismus die deut­sche Besatzungspraxis im Osten zu kritisieren. So mokierte sich ein deut­scher Kreis­hauptmann im Generalgouvernement wortreich über das „östliche Halb­men­schen­tum“ am Ein­satz­ort und definierte sich ausdrücklich als „Kolonist“. Der Größe der kolonialen Aufgabe sei je­doch das deutsche Besatzungspersonal wegen Unfähigkeit, primitiver Raffgier und Bereiche­rungs­sucht überhaupt nicht gewachsen, es sei „ärger als 10 nackte Neger“: „Statt dass man ko­lonisiert, wofür die Besten gerade gut genug wären, betrachtet man im Reich den Os­ten als ei­ne Art Müllhaufen, auf den man jeden Dreck abladen kann.“[43]

Neben der deutschen Besatzungsherrschaft im Osten lohnt auch das breite Feld national­so­zia­lis­tischer Massengewalt jenseits des Holocaust, um unter der Perspektive kolonialer Kausali­tä­ten und Kontinuitäten analysiert zu werden. Bekanntlich wurzelte die NS-Exklusions- und Ver­nich­tungs­politik nicht allein im Antisemitismus, sondern verfügte über ein deutlich breiteres ideo­­lo­gisches Fundament, zu dem auch die Rassenhygiene und (kolonialer) Rassismus, Anti­zi­ga­­nismus und Anti-Slawismus gehörten.

So waren die nationalsozialistischen Konzentrationslager bekanntlich auch Stätten me­di­zi­ni­scher Experimente an Häftlingen und ein abschreckendes Bei­spiel für eine „Medizin ohne Mensch­lichkeit“.[44] Repräsentierten diese Menschenversuche aber ei­nen außergewöhnlichen Sonderfall oder hatten sie nicht – zumindest partiell – auch koloniale Vor­läufer? So hatte sich be­reits Nobelpreisträger Robert Koch in der Kolonialzeit für die Ein­rich­tung von „Kon­zen­tra­tions­lagern“ für Kranke ausgesprochen,[45] wobei sich die deutsche Ko­lo­nial­medizin in ihren Me­­thoden nicht entscheidend von ihren europäischen Pendants un­ter­schied. Bereits frühere me­di­zinhistorische Forschungen, die weder in der Geschichtswissenschaft noch von einer breite­ren Öffentlichkeit intensiv rezipiert wurden, hatten auf eine fragwürdige Tradition von Men­schen­versuchen in den Kolonien hingewiesen, die Kolonialärzte nach 1933 fortsetzten.[46] Ein be­kanntes Beispiel war der Direktor der tropenmedizinischen Abteilung am Robert Koch-In­stitut, Claus Schilling. Als Kolonialarzt in Togo und Deutsch-Ostafrika hatte Schilling bereits vor 1914 Menschenversuche durchgeführt, die er später unter anderem an Insassen psychia­tri­scher Anstalten im faschistischen Italien sowie an rund 1.000 Häftlingen des KZ Dachau fort­setzte, die er mit Malaria-Erregern infizierte, um ein mögliches Gegenmittel zu testen.[47] Neuere For­schun­gen von Sarah Ehlers zeigen darüber hinaus, dass manche Ärzte, die in Deutsch-Ost­af­rika die Schlafkrankheit er­forscht und dabei medizinische Experimente an der indigenen, in Internierungslagern fest­ge­hal­tenen Be­völkerung durchgeführt hatten, diese Menschenversuche eben­falls im Dritten Reich fort­setz­ten. Dabei griffen sie auf KZ-Häftlinge und partiell auch auf Insassen jüdischer Ghettos zu­rück.[48]

Schon länger bekannt ist die Verquickung der Rasseforschung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthro­pologie, menschliche Erblehre und Eugenik mit den Massenverbrechen in der NS-Zeit, darunter an KZ-Häftlingen sowie an Sinti und Roma.[49] Dies gilt nicht zuletzt für die kolonialen Be­­züge der dort tätigen Wissenschaftler, zum Beispiel des Institutsdirektors Eugen Fischer, der 1913 eine Studie über die „Rehobother Bastards“ in Deutsch-Südwestafrika vorgelegt hatte und im Dritten Reich unter anderem für die Zwangssterilisation von Kindern deutscher Frauen und farbiger Besatzungssoldaten mitverantwortlich zeichnete, die in der NS-Diktion als „Rhein­land­­bastarde“ bezeichnet wurden.[50] Das von Manuela Bauche geleitete Projekt „Geschichte der Ihnestr. 22“ – der Sitz des Instituts – wird sich dieser thematischen Komplexe noch einmal be­sonders annehmen.[51]

Ins­gesamt dokumentieren die erwähnten Forschungsfelder und Projekte, dass Studien zu ko­lo­nia­len Bezügen der NS-Herrschaft voranschreiten. Entsprechende Diskussionen werden seit Lan­gem geführt, ohne in der weiteren Öf­fentlichkeit oder in erinnerungskulturellen Deu­tungs­­kämpfen gebührende Beachtung zu fin­den. Dabei beurteilt man eine unmittelbare Verbindung von Holocaust und Kolonialismus ins­gesamt und mit guten Gründen eher skeptisch. Ent­spre­chen­de Kontinuitäts­kon­struk­tionen oder der Vergleich an sich sind aber kein Tabu, sondern fes­ter Bestandteil von Kon­textualisierungsdiskussionen nicht zuletzt im Feld der Holocaust Studies. Darüber hinaus ist kaum zu bestreiten, dass sich der NS-Imperialismus und das breite Feld national­so­zia­lis­ti­scher Massengewalt geradezu aufdrängen, vergleichend und damit auch unter kolonialen Prä­mis­sen erforscht und analysiert zu werden.

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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