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Neue Quellen der Beratungsforschung: Marvin Bowers Perspective on McKinsey

  • Alina Marktanner EMAIL logo
Veröffentlicht/Copyright: 1. Januar 2022
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Abstract

Nicht der Firmengründer und Namensgeber James O. McKinsey machte McKinsey & Company zum weltweit umsatzstärksten Beratungsunternehmen. Es war sein Nachfolger Marvin Bower, der eher im Verborgenen wirkte, aber bis in die letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts wegweisend für die Entwicklung der Firma bleiben sollte. Alina Marktanner hat ein seltenes Dokument aus Bowers Feder ausgewertet und zeigt: Die streng gehütete „Firmenbibel“ von 1979 ist zu lesen als Intervention zu einer Zeit, in der die US-amerikanische Beratungsbranche vorübergehend Schwäche zeigte. Nicht nur potentielle Klientinnen und Klienten wollten von der Unternehmensberatung als Dienstleistung überzeugt werden. McKinsey & Company musste auch die eigenen Beraterinnen und Berater an sich binden.

Abstract

Rather than the founder of McKinsey & Company, the eponymous James O. McKinsey, it was his successor Marvin Bower, who by working mostly in the background until the last decades of the 20th century proved formative for the development of the business and turned the company into the consulting firm with the highest turnover worldwide. Alina Marktanner has analysed a rare document written by Bower and shows that the closely guarded “company bible” of 1979 is to be read as an intervention at a time when the whole US consulting industry was experiencing temporary weakness. It was not only potential clients who had to be convinced of company consulting as a service, but McKinsey & Company also had to bind its own consultants to the business.

Vorspann

1926 in Chicago gegründet, entwickelte sich McKinsey & Company nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer weltweit führenden Firma der Unternehmensberatung. Mitte der 1970er Jahre baten deren leitende Mitarbeiter den 1967 in den Ruhestand getretenen langjährigen Geschäftsführer von McKinsey & Company, Marvin Bower, um richtungsweisende Leitlinien für die Consultingtätigkeit. Unter dem Titel Perspective on McKinsey verfasste Bower ein internes Firmenhandbuch, das angeblich bis heute allen Beraterinnen und Beratern ausgehändigt wird. Alina Marktanner analysiert das schwer erhältliche Werk in seinem wirtschafts- und unternehmenshistorischen Kontext und kann zeigen, dass Bower McKinsey & Company als eine elitäre und exklusive Organisation verstanden wissen wollte, die Professionalität zu ihrem Markenzeichen machte.

I. Eine rare „Firmenbibel“

„Geschrieben und privat gedruckt zur Lektüre ausschließlich durch das Personal von McKinsey & Company, Inc.“, heißt es auf der ersten Seite von Marvin Bowers Perspective on McKinsey.[1] Auf gut 300 Seiten formulierte der langjährige Geschäftsführer der international bekannten Beratungsfirma McKinsey & Company 1979 die Unternehmensphilosophie, Akquisestrategie und den internen code of conduct, die die Firmenkultur bis in die Gegenwart prägen. Angeblich erhalten bis heute alle neu rekrutierten McKinsey-Beraterinnen und -Berater eine Ausgabe der „Firmenbibel“ und hüten diese wie einen Schatz. Dafür spricht, dass die Firma das Werk 2004 neu aufgelegt hat. Leicht zugänglich ist es dennoch nicht. Wer das Buch einsehen möchte, muss einige Mühen auf sich nehmen: Auf europäischem Boden sind einzig die Baseler Universitätsbibliothek und zwei dänische Bibliotheken im Besitz je einer Ausgabe. Weltweit ist es zudem in Bibliotheken der Harvard, Stanford und Northwestern University, USA, sowie in Pretoria, Südafrika, zu finden.[2] Einzelexemplare werden bei einschlägigen Online-Versandhäusern für mittlere dreistellige, mitunter vierstellige Beträge gehandelt. Perspective on McKinsey haftet daher der Hauch einer ideell und monetär wertvollen Schrift an.

Was erwartet Historikerinnen und Historiker, die die stattlichen Preise, nicht aber den Weg nach Basel gescheut haben? Als internes Firmendokument erlaubt Bowers Buch einen seltenen Blick hinter die Kulissen. Kaum eine Branche ist so sehr auf Sendungsbewusstsein bedacht wie die der Unternehmensberatung. Der Organisationswissenschaftler Alfred Kieser sprach von impression management, als er beschrieb, wie Unternehmensberaterinnen und -berater versuchen, Glaubwürdigkeit herzustellen.[3] Kleidungsstil, Fahrzeuge und Ausdrucksweise sind mit Bedacht gewählt, um den Habitus von Konzernspitzen – potenziellen Klientinnen und Klienten – zu emulieren. Perspective on McKinsey belegt, dass Beratungsfirmen aber nicht nur nach außen hin Impressionsmanagement betreiben. Auch die eigene Belegschaft will für das Projekt der Managementberatung gewonnen werden und sich in Zeiten ökonomischer Ungewissheit der eigenen Berufswahl vergewissern. Die Ausführungen des ehemaligen Geschäftsführers, dessen Name so eng mit dem frühen Aufstieg der Firma verknüpft ist, dienen noch heute diesem Zweck der Identifikation und Mitarbeiterbindung.

Unter welchen Umständen verfasste Bower sein internes Firmenhandbuch? Wie umriss er die Herausforderungen, denen die Beraterbranche Ende der 1970er Jahre gegenüberstand, und welche Lösungen bot er an? Der folgende Abschnitt situiert das Buch in seinem wirtschafts- und unternehmenshistorischen Kontext, bevor analysiert wird, wie Bower in den einzelnen Kapiteln das Bild einer herausragenden Firma und der idealen Beraterpersönlichkeit konstruierte. Ein kurzes Fazit wägt den Stellenwert der Quelle für die historische Beratungs­forschung ab.

II. Die US-amerikanische Beratungsbranche der 1970er Jahre

Die 1970er Jahre stellten, wie für zahlreiche Wirtschaftszweige, auch für die Beratungsbranche eine Zeit des Umbruchs dar. McKinsey & Company war in den USA und in Europa in den 1950er und 1960er Jahren rapide gewachsen. Obwohl schon einige Jahrzehnte alt, erlebte die Firma ihren ersten großen Aufschwung, als sie nach dem Zweiten Weltkrieg das Managementmodell der Divisionalisierung unter amerikanischen Unternehmen verbreitete. Dieses ging zurück auf die Praxis einiger Großkonzerne wie General Motors, unterschiedliche Geschäftsbereiche als autonome Einheiten zu betrachten und dezentral zu führen.[4] Auch in Europa feierte die Firma mit diesem Rezept Erfolge. Ihr erstes europäisches Büro eröffneten Bower und seine Geschäftspartner 1959 in London. Niederlassungen in Genf, Amsterdam, Paris und Düsseldorf folgten bis 1964.[5] Eine neue Managergeneration, die selbst formative Jahre in den Vereinigten Staaten verbracht hatte, stand den US-amerikanischen Effizienzexperten dabei aufgeschlossener gegenüber als ihre Vorgänger.[6] Innerhalb weniger Jahre reorganisierte die Firma eine Vielzahl europäischer Großkonzerne und verzeichnete dadurch in den 1960er Jahren per annum eine Gewinnsteigerung von bis zu 69 Prozent. Im Jahr 1970 waren durch die Intervention von McKinsey & Company 72 von 100 britischen Konzernen auf die multidivisionale Struktur umgestiegen.[7]

Schon kurz darauf stieß die Methode jedoch an ihre Grenzen. Da die meisten Unternehmen zur dezentralen Struktur übergegangen waren, flachte die Nachfrage nach Consultingdiensten ab.[8] Zudem beobachtete die Geschäftsführung von McKinsey & Company beunruhigt, dass sich der Beratungsmarkt ausdifferenzierte. Insbesondere ein Unternehmen an der Ostküste machte ihr ernsthaft Konkurrenz: die Boston Consulting Group (BCG).[9] Das aufstrebende Beratungshaus trieb voran, was Werner Plumpe als das Geschäftsgeheimnis der Branche benannt hat, und schuf „nützliche Fiktionen“.[10] Anhand von Beispielen aus der Management-Literatur, unter anderem aus der Feder Bowers, analysierte der Unternehmenshistoriker, dass Beraterinnen und Berater den Bedarf an ihren Diensten zum Teil selbst generierten. Während sie die Wahrnehmung von Unternehmensführungen amplifizierten, sich in einer zunehmend komplexen und kompetitiv ausgerichteten Weltwirtschaft behaupten zu müssen, präsentierten sie griffige Rahmenwerke, die Entscheidungsfähigkeit und Resilienz suggerieren sollten.

Die BCG perfektionierte diesen Ansatz, indem sie organisationswissenschaftliches und betriebswirtschaftliches Wissen in Form von „Produkten“ vertrieb.[11] Statt diese geheim zu halten und nur einer ausgewählten Kundschaft zugänglich zu machen, nutzte die BCG sie als epistemologische Visitenkarte. Mithilfe der „Erfahrungskurve“ sollten Unternehmen beispielsweise feststellen können, ab welcher Stückzahl die Herstellung von Waren und Dienstleistungen profitabel sei. Die „Vier-Felder-Matrix“ sollte ermöglichen, unterschiedliche Geschäftsbereiche oder Produkte nach Lukrativität zu gewichten und das „Unternehmensportfolio“ grafisch abzubilden: von den poor dogs im Produktbestand (relativ geringe Anteile an stagnierenden oder rückläufigen Märkten) im linken unteren Quadranten zu den stars (relativ hohe Anteile an vielversprechenden oder Wachstumsmärkten) im oberen rechten Quadranten.

Demgegenüber waren die Berater von McKinsey & Company bis dato einem generalistischen Ana­lyseschema gefolgt: der vom Firmengründer James O. McKinsey entworfenen General Sur­vey Outline. Mithilfe dieser Checkliste prüften Berater zu Beginn die Ausgangslage eines Klien­tenunternehmens und legten Umfang und Zielsetzung der Untersuchung fest.[12] Die haus­ei­gene McKinsey Foundation veröffentlichte seit 1964 zusätzlich Kommentare zu aktuellen Ent­wicklungen der Managementtheorie und -praxis im McKinsey Quarterly. Anders als die schil­lernden Beraterprodukte sollten die hier erscheinenden Publikationen bewusst wis­sen­schaft­lich anmuten. Der Erfolg der BCG mahnte die Geschäftsführung jedoch zum Umdenken. Einer­seits öffnete sich McKinsey & Company nun neuen Methoden, indem sie mit einer eige­nen, neun Felder aufweisenden Matrix zur Portfolioanalyse nachzog.[13] Andererseits arbeitete sie verstärkt an ihrem Firmenimage. Dieses sollte McKinsey & Company als eine im besten Sin­ne elitäre und exklusive Organisation ausweisen, die über jede Konkurrenz erhaben schien.

Bei diesem Vorhaben spielte Marvin Bower eine zentrale Rolle. Nach über 30 Jahren bei McKin­sey, davon 17 als Geschäftsführer, war er 1967 in den Ruhestand getreten. Dieser Füh­rungs­wechsel machte die Jahre um 1970 für McKinsey & Company noch turbulenter; bis 1976 lös­ten sich in rascher Folge vier Männer an der Firmenspitze ab. Obwohl Bower bis ins hohe Al­ter selbstständig Klientinnen und Klienten betreute,[14] hielt er sich nach seiner Pensionierung hin­sichtlich Richtungsentscheidungen der Unternehmensführung zurück. Auf den letzten Seiten von Perspective on McKinsey führte er aus, dass er sich ins Tagesgeschäft nur ein­ge­mischt habe, wenn er die Unabhängigkeit und die professionelle Ausrichtung der Firma ge­fährdet sah.[15]

Als eine solche Intervention ist das interne Firmenhandbuch aufzufassen. Laut Bower wurde er von seinen Nachfolgern sowie von Beraterinnen und Beratern verschiedener Niederlassungen Mitte der 1970er Jahre darum gebeten, dem Unternehmen, aber auch ihnen selbst eine „Perspektive“ in Form von Leitlinien zu eröffnen.[16] Wie die Autobiografie John Neukoms, der in den 1930er Jahren einer der ersten McKinsey-Berater gewesen war,[17] sollte auch Bowers historisierender Zugriff die unschlüssige Firma auf ihrer Suche nach Orientierung unterstützen. Das Titelwort Perspective sei zwar bewusst im Singular gehalten, um zu signalisieren, dass es sich um „one man’s view“ handele, hielt der damalige Geschäftsführer Ian Davis im Vorwort zur Ausgabe von 2004 fest.[18] Implizit erhob Bower seine Sichtweise aber zum Maßstab für das Handeln der Firma und jedes ihrer Mitglieder.

III. Marvin Bower und McKinsey: Das Gründungsnarrativ

Zum Einstieg distanzierte Bower sich zwar von dem Auftrag, eine Firmengeschichte zu ver­fassen; dafür sei er nicht objektiv genug.[19] Dennoch entwarf er in den ersten fünf der insgesamt elf Kapitel ein detailreiches Gründungsnarrativ der Firma. Die kritischen Wendepunkte sollten seinem Publikum – eingesessene wie frische McKinsey-Beraterinnen und -berater – noch immer eine Lektion sein, hielt der Autor mehrfach ausdrücklich fest. In der zweiten Hälfte findet sich eine Reihe von Managementleitlinien, die laut Bower ursächlich für den Erfolg von McKinsey & Company seien und daher auch weiterhin Gültigkeit behalten sollten.

Der wichtigste Protagonist des ersten Teils ist keineswegs Bower selbst, der doch der Firma jahr­zehntelang vorgestanden hatte und nun Bilanz zog. Einem au­to­bio­gra­fischen Überblick widmete er nur acht Seiten. Zugeschnitten ist dieser auf seine erste Lauf­bahn als Unternehmensanwalt, auf die er im Laufe der Erzählung immer wieder zurückkam. Ge­boren 1903 in Ohio, besuchte Bower mit 22 Jahren zunächst die Harvard Law School, da­nach die Harvard Business School. Als Firmenanwalt bei der Kanzlei Jones Day, so Bower, lern­te er die Arbeitsweise einer „professional service firm“ kennen, die ihn später beim Aufbau von McKinsey & Company inspiriert habe. Überhaupt sei er dort auf die Marktlücke auf­merk­sam geworden, die die Managementberatung dargestellt habe: Während er in Zeiten der Großen De­pression Banken bei der Schuldnerverwaltung beriet, habe er erkannt, dass es „Bedarf an ei­ner Firma gibt, die so professionell und unabhängig zu Unternehmens- und Management­prob­lemen arbeiten kann wie eine Anwaltskanzlei zu Rechtsproblemen“.[20] Als er über gemeinsame Kon­takte James O. McKinsey kennenlernte, der mit seiner Firma diese Mission zu verfolgen schien, habe er ein Jobangebot sofort angenommen.[21] 1933 trat er in die Firma ein, seit 1935 leitete er ihr Zweitbüro in New York.

Nach diesem Aufschlag widmete Bower ein ganzes Kapitel James O. McKinsey, dem Gründer und Namensgeber der späteren Firma McKinsey & Company, zu dessen Vita die Materialbasis ausgesprochen dünn ist. Bis auf einige Handbücher zum Rechnungswesen und diverse Pamphlete für die American Management Association[22] hinterließ James O. McKinsey keinerlei Schriftzeugnisse. Tatsächlich stellen Bowers Zeilen eine der wenigen Abhandlungen über das Leben und Wirken James O. McKinseys dar und wurden später von Bowers Biografin Elizabeth Haas Edersheim in groben Zügen reproduziert.[23] Da der Farmersohn aus Missouri früh nach höherer Bildung gestrebt habe, sei er „von zu Hause weggelaufen“.[24] Nachdem er 1912 einen Abschluss in Pädagogik vom State Teachers College in Warrensburg, Missouri, erworben hatte, studierte er Jura an der Universität von Arkansas in Fayetteville und daraufhin Philosophie an der Universität Chicago. Sieben Jahre später etablierte er sich als amtlich zugelassener Wirtschaftsprüfer, bevor er um 1925[25] seine Firma gründete. Im Jahr darauf wurde er überdies als Professor für Rechnungswesen an die Universität Chicago berufen. Ein kurzer Steckbrief über McKinsey in dem 1932 publizierten Buch Chicago’s Accomplishments and Leaders deckt sich mit den von Bower umrissenen Lebensstationen.[26]

Schwieriger ist seine Interpretation nachzuvollziehen, James O. McKinsey habe seine Laufbahn gleich­sam am Reißbrett und auf lange Sicht geplant. So habe sich McKinsey im Ersten Welt­krieg vorgenommen, Unternehmen zu beraten: Die Zusammenarbeit mit Material­zulieferern habe ihm gezeigt, dass hier Verbesserungspotenzial bestehe. Ihm sei klar gewesen, dass er dafür drei Voraussetzungen erfüllen müsse: „unhinterfragte Respektabilität“, „professionelle Sicht­barkeit“ und „einen Ruf der besonderen Kompetenz in einem für die Unternehmensführung re­levanten Gebiet“.[27] Wissenschaftliche Forschung und Lehre, anerkannte Publikationen und eine Tätigkeit bei der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Frazer and Torbet sollten ihn in allen drei Belangen als Kapazität ausweisen.

Die These vom strategischen Vorgehen wirkt in mindestens zweifacher Hinsicht zweifelhaft. Zum einen war reines Management Consulting nicht James O. McKinseys Ziel. Nicht umsonst nannte er seine Firma McKinsey & Company, accountants and engineers.[28] Damit verband er die Buchprüfung mit allgemeinen Beratungsaufgaben oder dem zeitgenössisch so bezeichneten ma­nage­ment engineering. Auch im Buch über das Establishment Chicagos wurde seine Tä­tig­keit grob als „Untersuchungen der Finanzen und Unternehmensführung“ umschrieben. Erst Bower selbst begann ab Mitte der 1930er Jahre von „management consulting“ zu sprechen und streb­te an, den Geschäftsbereich Managementberatung von dem der Wirtschaftsprüfung zu tren­nen.[29]

Zum anderen ist zu beachten, dass James O. McKinsey seine Firma aufgab, als sich ihm eine lukrativere Gelegenheit bot. 1935 gewann McKinsey & Company mit der Kaufhauskette Marshall Field & Company den ersten Großkunden – in wirtschaftlich prekären Zeiten ein ent­scheidender Auftrag. Für den Firmengründer hätten die Dinge kaum besser laufen können, denn Marshall Field & Company bot ihm an, die empfohlenen Kursänderungen als neuer Ge­schäfts­führer selbst umzusetzen. McKinsey ergriff die Chance und fusionierte seine eigene Firma mit der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Scoville, Wellington. Bowers Schilderung, sein Vorge­setz­­ter habe den Posten im Einzelhandel nur als Episode betrachtet und stets den festen Plan gehabt, zu seiner Firma zurückzukehren,[30] lässt sich nicht verifizieren. Eine Lungenentzündung riss McKinsey 1937 mit 48 Jahren aus dem Leben.

Dass Bower McKinsey als Mentor verehrte, soll hier nicht in Abrede gestellt werden. Immerhin nannten er und seine Frau Helen 1938 ihr drittes Kind im Gedenken an den Verstorbenen James McKinsey Bower.[31] Seinen ehemaligen Chef Ende der 1970er Jahre als Ideengeber für viele seiner eigenen Ansichten zu stilisieren, erfüllte aber einen persuasiven Zweck. Die Richtungs­ent­scheidungen, die Bower nach McKinseys Ableben vorantrieb und seit 1950 als Geschäfts­führer selbst umsetzte, machte er unangreifbar, wenn er anmerkte, im Geiste des Firmen­grün­ders gehandelt zu haben. So betonte er, bereits James McKinsey habe darauf insistiert, Repu­tation sei am ehesten durch qualitativ hochwertige Arbeit zu gewinnen.[32] In diesem Sinne wollte Bower auch das vom Fir­men­gründer eingeführte interne Mitarbeitertraining deshalb so hoch­halten, weil dieser ihn persönlich darum gebeten habe.[33]

Die inhaltlichen Differenzen, die stets zwischen McKinsey und ihm bestanden hatten, erwähnte Bower hingegen nur beiläufig. Im Unterschied zu seinem Büroleiter betrachtete McKinsey die Verbindung aus Wirtschaftsprüfung und Unternehmensberatung nicht als hinderlich, sondern als einkommensförderndes Alleinstellungsmerkmal.[34] Ohne allzu ausgefeilte kontrafaktische Überlegungen anzustellen, ist denkbar, dass Bower sich über kurz oder lang emanzipiert und, wie der langjährige McKinsey-Berater Andrew Thomas Kearney, eine eigene Firma gegründet hätte. McKinseys früher Tod ermöglichte ihm hingegen, seine Vorstellungen umzusetzen und gleichzeitig auf das Gründungsdatum zu verweisen, das seine Firma zu einem der ältesten Be­ra­tungshäuser der Welt machte. „Wirtschaftliche Stabilität“ sei der Grund gewesen, den Fir­men­namen auch nach 1938 beizubehalten.[35]

Neben der zentralen Figur James O. McKinsey gehören zu Bowers Gründungsnarrativ auch wich­­tige Zäsuren der Firmengeschichte. Dazu konstruierte er die Jahre 1939 und 1953 als Schick­­sals­momente im Werdegang von McKinsey & Company. Nach dem Ableben James O. McKin­seys führte Bower 1939 gemeinsam mit dem damaligen Geschäftsführer Guy Crochett die Trennung von Scoville, Wellington herbei und bewegte A. Thomas Kearney zum Firmen­aus­­tritt: McKinsey & Company war geboren, eine reine Managementberatung ohne den Ge­schäfts­bereich Wirtschaftsprüfung.[36] Kearney ließ sich dauerhaft in Chicago nieder, während sich McKinsey & Company zunächst auf den New Yorker Firmensitz zurückzog. Das Jahr 1953 er­scheint demgegenüber als Moment der Konsolidierung, da Bower – seit 1950 endlich selbst Ge­­schäfts­führer – auf einer Firmenversammlung die Leitlinien des von ihm anvisierten pro­fes­sio­nal approach darlegte. Seither rekrutierten Bower und seine Partner ihre Mitarbeiter direkt von Business Schools und wählten Klientinnen und Klienten selektiv aus.

Der Senior machte deutlich, dass sich jegliche Entscheidung über das weitere Firmengeschehen an den 1939 und 1953 demonstrierten Werten messen lassen müsse: Unabhängigkeit, Integrität und vor allem Professionalität. Dabei moralisierte er nie mit erhobenem Zeigefinger, sondern stets implizit. Als bedrohliche Momente benannte er weder das Marktgeschehen noch Konkur­renzunter­neh­men. Stattdessen seien es stets charakterliche Schwächen der eigenen Beraterin­nen und Berater gewesen, die die Firma zu Fall zu bringen drohten, während ehrenhafte Tu­genden die Gefahren abwendeten. So habe sein Vertrauen in den Firmengründer und sein Werk dazu geführt, dass er nicht demissioniert, sondern die Firma zu ihrem späteren Erfolg geführt ha­be.[37] Hervorragende McKinsey-Consultants seien zudem solche, die nicht miteinander wett­ei­ferten, sondern andere in ihrem Fortkommen unterstützten.[38]

Mit demselben pädagogischen Anspruch zeichnete Bower ausführlich die nationale und internationale Ausbreitung von McKinsey & Company nach. Deskriptiv zählte er zunächst auf, wie in den 1950er Jahren an der Ost- und Westküste der USA, dann seit den 1960er Jahren in West­europa und Australien immer mehr Niederlassungen entstanden. Zusätzlich platzierte er kleine Anekdoten rund um die Gründungsumstände und beendete einzelne Abschnitte regel­mäßig mit einer Lehre, die aus dem Geschilderten zu ziehen sei. Das Pariser Büro habe die US-ame­rikanischen Zweigstellen beispielsweise um 1965 um personelle Verstärkung gebeten, um ei­nen großdimensionierten Auftrag einer spanischen Bank bewältigen zu können. Statt das Vor­haben zu unterstützen, habe er es verhindert, aus kalkulatorischen Gründen: Die Firma habe sich damals vorgenommen, ihre Europastrategie auf Länder der Europäischen Wirtschafts­gemeinschaft zu konzentrieren. In einer Diktatur wie dem Franco-Regime hätten äußerst vo­latile Rahmenbedingungen geherrscht, die bereits getätigte Investitionen jederzeit hätten zu­nichtemachen können. Da somit keine langfristigen Pläne für eine spanische Niederlassung existierten, sei der äußerst hohe Personalaufwand nicht zu rechtfertigen gewesen. Ein aufgrund von Personalmangel unbefriedigend ausgeführter Auftrag hätte sogar negative Reputation er­zeu­gen und damit kontraproduktiv wirken können. Auch das feine spanische Gästehaus, in dem das Consultingteam untergebracht worden wäre, habe nicht als Anreiz für Geschäfts­ent­scheidungen wirken dürfen. Schließlich gelte: „Wenn wir Strategien, Leitlinien und Pläne ha­ben, sollten wir sie befolgen. Dafür sind sie da.“[39]

IV. Der perfekte Consultant: Eigenschaften, Fähigkeiten und Wissen

Nach dem historisierend und beschreibend angelegten ersten Teil ging Bower in den folgenden vier Kapiteln zu unternehmensphilosophischen Aspekten über. Zentral war hierbei seine Über­zeu­gung: „Die menschliche Natur und die Natur der Unternehmensberatung ändern sich nicht viel.“[40] Diese Feststellung mag quer zum Geschäftsmodell von McKinsey & Company liegen, Un­­ternehmen vor einem sich ständig wandelnden Umfeld zu warnen.[41] In der internen Hand­rei­chung zählte für Bower nur der professional approach, der eine seriöse Firma von einem rein profitorientierten business unterscheide. Der Begriff profession lässt sich ins Deutsche am ehe­sten mit Berufsstand übersetzen. Berufsangehörige in den Bereichen Medizin, Recht oder Ar­­chi­tektur sind staatlich geprüft und anhand feststehender Kriterien als befähigt zertifiziert. In sei­­nem Klassiker „The System of Professions“ wies Andrew Abbott nach, dass Berufsstände mit­einander um Zuständigkeitsbereiche (jurisdictions) konkurrieren, diese für sich reklamieren und sie durch stetige Eigenwerbung verteidigen.[42] In diesem Gerangel sterben periodisch einige Be­­rufsstände aus, während es anderen gelingt, sich neu zu etablieren. Christopher McKenna zeig­te, wie in den USA der 1920er Jahre einige Wirtschaftsprüfer und Ingenieure ihre Berufs­stände verließen, um die Nische der Managementberatung zu besetzen.[43] Dennoch zählt die Ma­­nagementberatung bis in die Gegenwart nicht zu den eingetragenen Berufen. Aufträge von Groß­­konzernen und Regierungsstellen validierten kommerzielle Beraterinnen und Berater zwar als Ansprechpersonen,[44] aber Zulassungsbeschränkungen und Gütekriterien wurden nie institu­tionalisiert.

Bowers Schrift belegt anschaulich, dass sich einige der ersten Beratergrößen in den Kampf der Be­rufsstände begaben. In Perspectives on McKinsey bezeichnete er den „professionellen An­satz“ als „heimliche Stärke“ der Firma, die gar nicht so geheim sei: Schließlich habe die Ärzte­schaft wie die Anwaltschaft schon immer danach gehandelt.[45] Die klassischen Berufsstände hätten herausgefunden, dass sie durch striktes Einhalten von Qualitätsstandards ihren Klientin­nen und Klienten, und damit sich selbst, am besten dienen könnten. Daher sei Professionalität zu­gleich ein idealistisches und eigennütziges Konzept. Diese Ansicht vertrat Bower nicht al­lein: Berufsverbände wie die Association of Consulting Management Engineers oder der Bund Deutscher Unternehmensberater etablierten sich in der Nachkriegszeit mit dem Ziel, berufliche Stan­dards unter Consultants zu sichern und der Beratungsbranche damit ein seriöses Image zu ver­leihen.[46] Professionelles Vorgehen war damit kein Distinktionsmerkmal von McKinsey & Com­pany. Viel eher war es Ende der 1970er Jahre geboten, die Bedeutung von Professionalität auch einer neuen Generation von Consultants zu vermitteln.

Damit setzte Bower mit seiner Firmenschrift eine Reihe an Kodifizierungsbemühungen fort, die er kurz nach seiner Pensionierung begonnen hatte. Das Institute of Management Con­sul­tants, dem er als dessen erster Präsident vorstand, veröffentlichte 1970 einen Code of Pro­fes­sio­nal Responsibility, den sich ernstzunehmende Unternehmensberaterinnen und -berater an­eig­nen sollten. Vier Jahre später erließ auch McKinsey & Company einen Firm Code, den jede neu eintretende Beraterin und jeder neu eintretende Berater unterzeichnen musste. Danach be­kannten sich McKinsey Consultants zu folgenden fünf Leitlinien, die hier im englischen Ori­ginal zitiert seien:

„1. To put the client interest ahead of the Firm interests. 2. To serve the client competently. Our standard is to serve ‚in a superior manner‘ – i.e., better than the situation calls for and better than the client managers typically expect (so long as it is not uneconomic to the client to do so). 3. To adhere to high ethical standards in everything we do; to be truthful at all times and to avoid any form of deception. 4. To preserve the confidences of clients and client personnel. 5. To maintain an independent position, being ready to differ with client managers and telling them the truth as we see it even though it may adversely affect Firm income or endanger continuance of the relationship.“[47]

Das gesamte Firmenhandbuch atmet die hier von Bower postulierten Prinzipien. Vom ersten Ka­pitel an betonte er sein ewiges Bestreben, McKinsey & Company „zu der Firma zu ent­wickeln, wie ich sie mir vorstellte“: Unternehmensexpertise gepaart mit dem Erfolgsgeheimnis ei­ner Anwaltskanzlei, dem „professionellen Ansatz“.[48] Dass dieser nicht mehr selbst­ver­ständlich praktiziert werde, begründete Bower einmal mehr mit erodierten Werten unter den Be­raterteams. In den Entstehungsjahren der Firma und viel mehr noch während der Großen De­pre­ssion habe eine Karriere in der noch unbekannten Beratungsbranche als riskant gegolten. Sich aus dem etablierten Unternehmensrecht in eine ungewisse Zukunft zu begeben, sei ein Wag­nis gewesen, das er seiner Frau zugemutet habe.[49] Die Nachkriegsjahrzehnte gestalteten sich demgegenüber lukrativ, so dass Einstiegsgehälter im Consulting-Geschäft an diejenigen von Großkonzernen heranreichten und diese sogar zu übersteigen begannen. Schließlich habe McKin­sey & Company Ende der 1960er Jahre eine Welle an Kündigungen beobachtet, da junge Con­sultants von schnellen Aktiengewinnen fasziniert schienen und rasch höheres Einkommen generieren wollten.[50]

Der edukative Anspruch des Firmenhandbuchs verweist erneut darauf, dass das Credo der Pro­fes­sionalität in der Firma nicht so unumstritten und althergebracht war, wie Bower suggerierte. Seit der Neuerfindung von McKinsey & Company 1939 hatten er und die Belegschaft die Gren­zen professionellen Handelns wiederholt ausgelotet. Eine Werbebroschüre, die seine Ge­schäfts­partner als unabdingbar betrachteten, wollte Bower beispielsweise zunächst nicht mittragen, aus Sorge, sie könne als unseriös wahrgenommen werden.[51] Auch lange nachdem er sich zur Ru­he gesetzt hatte, oszillierten McKinsey-Beraterinnen und -berater in ihrem Verständnis von Pro­fessionalität zwischen Idealismus und Zweckmäßigkeit. Herbert Henzler, von 1985 bis 1999 Leiter der deutschen Niederlassungen, beschrieb in seiner Autobiografie, wie sich zumindest der Sprachgebrauch der internationalen Managementberatung vom Dienstleistungsverständnis der 1950er Jahre entfernt hatte. Als er anlässlich einer internationalen Partner-Konferenz 1994 über das „Business System“ der Firma referierte, habe ihn der anwesende Marvin Bower scharf ge­maßregelt: „Dies ist kein Business!“[52] Dass er den Begriff nur „rein technisch“ verwendet hatte und keinesfalls ein „Herätiker“ sei, habe der über 90-Jährige nicht hören wollen.

Zu Bowers Verständnis einer seriösen Firma zählte auch, nicht aggressiv und aufdringlich für sich zu werben. Im Kapitel Building Our Clientele legte er seine Sicht der professionellen Kundenakquise dar: Qualitativ hochwertige Arbeit sei das beste Aushängeschild und inspiriere Kli­entinnen und Klienten, die Dienstleistung der Managementberatung weiterzuempfehlen. Da­her gehöre bereits deren Auswahl zur guten Imagepflege. Abzulehnen seien Aufträge von Un­ternehmen, denen das nötige Prestige fehle und McKinsey & Company außer der Gage kei­nen ideellen Wert einbrächten.[53] Wählerisch könnten Dienstleister aber nur sein, wenn sie zu vie­le Anfragen bekämen. Auf über 20 Seiten führte Bower daher aus, welche Strategien die Fir­ma sowie jedes Mitglied des Beraterstabs anwenden könne, um diskret auf sich aufmerksam zu machen. Seminarangebote für Führungskräfte, schriftliche Firmenkommunikation in Form von Newslettern und Artikeln im McKinsey Quarterly sowie Experteninterviews für Tages- und Woc­henzeitungen machten die Firma überregional und international bekannt.[54] Auch nach Ab­schluss eines erfolgreichen Projekts sollten Consultants gute Beziehungen zu Klientinnen und Kli­enten aufrechterhalten, um zu einem späteren Zeitpunkt gegebenenfalls erneut zu Rate ge­zogen zu werden. Zusätzliche Kontakte könnten durch Umfragen unter Führungskräften sowie ge­meinnützige Studien für öffentliche Einrichtungen generiert werden.

Das längste Kapitel von über 50 Seiten widmete Bower, abgestimmt auf das imaginierte Pub­li­­kum, seiner Personalphilosophie.[55] Bereits in den 1930er Jahren sei er nicht mit James O. McKin­seys Rekrutierungsstrategie einverstanden gewesen. Dieser habe überwiegend ehe­ma­li­ge Geschäftsführer im fortgeschrittenen Alter eingestellt, die über ein breites Netzwerk von po­tentiell an Beratung interessierten Firmen verfügten. In mehreren Passagen erläuterte Bower, e­rfahrene Geschäftsleute seien oft weder dazu befähigt noch daran interessiert, eine Dienst­leis­tung nach dem von ihm skizzierten „professionellen Ansatz“ zu erbringen. Da junge, auf­stre­bende Geister hingegen noch formbar und daher viel eher für die vielseitige und dynamische Con­sultingtätigkeit geeignet seien, werbe man nun besonders unter Absolventinnen und Ab­sol­ven­ten von Business Schools für eine Laufbahn bei McKinsey & Company. Den Se­lek­tions­prozess habe vereinfacht, dass er und seine Partner ein gemeinsames Verständnis „erfolg­ver­spre­chender Eigenschaften“ gefunden hätten: „[Der] erfolgreiche Consultant ist ein aus­ge­glichener Mensch von attraktivem Äußeren, mit einer durchschlagenden Persönlichkeit, Selbst­be­wusstsein, überlegener intellektueller Befähigung und einer langen Reihe menschlicher Qua­li­täten.“[56]

Diese Aufzählung von Allgemeinplätzen leitet eine ganze Abfolge listenartiger und grafischer Dar­stellungen ein, die Rekrutierungsvorgänge möglichst systematisch erscheinen lässt. Bower be­tonte den elitären, zugangsbeschränkten Charakter der Organisation, wenn er darauf insis­tier­te, Teammitglieder sollten genau wie Klientinnen und Klienten nach strengen Kriterien aus­ge­wählt werden. Ein Diagramm zeigt auf drei Ebenen „Eigenschaften, Fähigkeiten und Wissen ei­nes hervorragenden McKinsey-Beraters“.[57] Die Basis bilde ein Katalog „grundlegender Ei­gen­­schaften“ (basic qualities), die exzellente Unternehmensberaterinnen und -berater kenn­zeich­neten, darunter „Charakter“, Persönlichkeit, mentale Ausstattung, Ehrgeiz und zwi­schen­mensch­liche Kompetenz. Wer die „grundlegenden Eigenschaften“ besitze, könne die weiteren not­wendigen Qualifikationen erwerben, um für die Firma tätig zu werden: grundlegende Bera­tungs­fähigkeiten (basic consulting skills) und das nötigste Wissen (essential knowledge). Ers­tere umfassten Professionalität, Basiskenntnisse der Unternehmensführung, Interview- und Re­cher­chefähigkeiten, Problemlösungskompetenz, ein zielorientiertes Verhältnis zum Personal der beratenen Unternehmen wie zur Verwaltung der eigenen Firma; dazu kamen Kom­mu­ni­ka­tions- und Überzeugungsfähigkeiten in Wort und Schrift. Zum nötigsten Wissen zählte Bower je­gliche technische Kompetenz, die ein Spezialgebiet der Beratung erfordere, über­durch­schnitt­liche Urteilskraft, Verinnerlichen der Unternehmensphilosophie und -strategie, einen für­sorg­li­chen Führungsstil sowie Aufbau und Pflege eines eigenen Klientenstamms. Obwohl Bower das Diagramm als Idealtypus darstellte, der realiter nicht existierte, wiesen alle erfolgreichen McKinsey-Consultants die erwähnten Persönlichkeitsmerkmale in variierenden Anteilen auf.[58] Während Kandidatinnen und Kandidaten Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben könnten, seien die grundlegenden Eigenschaften naturgegeben. Die Ansprüche der für die Einstellung ver­ant­wort­lichen McKinsey-Partner dürften hier also nicht sinken, um spätere Enttäuschungen sowohl aufseiten der Firma als auch der Berufsanfängerinnen und -anfänger zu vermeiden. Sei­ne Leserschaft dürfte sich geschmeichelt gefühlt haben; schließlich signalisierte allein die Kennt­nis von Bowers Zeilen, dass man zu einem erlauchten Kreis gehörte.

Ausschließlich Menschen dieses Schlags trügen die Managementphilosophie mit, die Bower im folgenden, ebenso zentralen Kapitel erläuterte. Bereits 1939, nach dem Bruch mit Scoville, Wellington, hätten er und die damaligen Partner sich auf eine Firmenmission geeinigt. Diese zie­le darauf ab, „leitenden Führungskräften Management Consulting Assistenz dabei zu bieten, zen­trale Managementprobleme ihrer Organisationen zu lösen“.[59] Der Problembegriff sei dabei weit gefasst und schließe mit ein, sich als Unternehmen verbessern zu wollen und neue Ge­le­gen­heiten zu ergreifen. In einer weiteren Aufzählung fächerte Bower die 14 Ma­nagement­prin­zi­pien auf, die sich über die Jahre als zweckmäßig erwiesen hätten: Professionelle Standards spielten auch im Innern der Firma eine wichtige Rolle; dazu kamen faktenbasierte, faire Per­so­nal­­entscheidungen und partnerschaftlicher Umgang. Allen Teammitgliedern sollten außerdem Un­abhängigkeit und der dauerhafte Fortbestand von McKinsey & Company am Herzen liegen, was Fusionen und Übervorteilung zulasten der Firma ausschließe. Der Leitgedanke der „einen Firma“ sehe standardisierte Dienstleistungen überall auf der Welt vor und stelle die Interessen der Firma über die Interessen einzelner Niederlassungen. Flache Hierarchien sowie die „Ver­ant­­wortung zu widersprechen“, wenn einem Consultant eine Firmenentscheidung falsch oder inak­zeptabel erscheine, stärkten zudem McKinsey & Companys Robustheit.[60]

In den letzten beiden Kapiteln Perspective from the Sidelines und Gearing the Firm to a Successful Future rekapitulierte Bower, wie sich die Firma seit seiner Pensionierung entwickelt hatte, und blickte auf mögliche künftige Chancen und Risiken. Der Managementberatung im All­gemeinen und McKinsey & Company im Besonderen prophezeite er eine erfreuliche Nach­frage – solange die Partner den „professionellen Ansatz“ hochhielten, Personal nach strengen Kriterien auswählten und die Managementphilosophie verinnerlichten.

V. Ein Selbstzeugnis der besonderen Art

Als kurzes Fazit sei festgehalten: Wer sich für rare Quellen der Beratungsbranche interessiert, für den lohnt sich ein Besuch der Universitätsbibliothek Basel.[61]Perspective on McKinsey ist ein seltenes Beispiel interner Assimilierungsversuche einer damals noch jungen, aber sich fes­ti­gen­den Branche. Als Selbstzeugnis ist Bowers Schrift mit der üblichen quellenkritischen Vor­sicht zu genießen. In der gesamten Abhandlung legte der Autor eine Mischung aus betonter Be­scheidenheit und Selbstdarstellung an den Tag, in der er doch kaum zu greifen ist. Ohne sorg­fältige Kontextualisierung können der persuasive Charakter seiner Ausführungen sowie zahl­reiche Diskrepanzen bei der damaligen Orientierungssuche von McKinsey & Company ver­borgen bleiben. Ebenso wie weiteres Material, das die Branche der historischen Forschung hin­­terlassen hat, zeugt das Firmenhandbuch von ihrer „heimlichen Stärke“: Der „professionelle An­­satz“ schuf auch ohne äußere Validierung eigene Standards und präsentierte die Ni­schen­ak­teu­­re – daran gemessen – als seriös. Auch andere Dokumente erzählen hiervon: offizielle Fir­men­­historien, Autobiografien oder Lehrbücher von Consultants für Consultants. Perspective on McKinsey fällt in alle drei Quellenkategorien und kann daher für zahlreiche wirtschafts-, un­ter­neh­­mens-, wissens- und professionshistorische Fragestellungen fruchtbar ausgewertet wer­den.

Published Online: 2022-01-01
Published in Print: 2021-12-25

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Heruntergeladen am 17.11.2025 von https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/vfzg-2022-0004/html?lang=de
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