Rezensierte Publikation:
Rainer Bohn, Marxistisches Denken: Philosophie – Gesellschaftsgeschichte – Ökonomie. Baden Baden: Tectum Verlag 2021, 728 S., gb., 58,00 €
Bohns Studie stellt eine so umfassende wie allgemein verständliche Einführung in die ungebrochene Aktualität ‚marxistischen Denkens‘ bereit. Damit liefert er einen systematisch angelegten Überblick über Grundbegriffe des klassischen Marxismus sowie deren gelungene Anwendung auf Kultur, Politik und Ökonomie. Hilfreich sind nicht zuletzt die Zusammenfassungen am Ende der jeweiligen Kapitel, die in konziser Weise die Ergebnisse der vorherigen Diskussion komprimieren, was die Argumentation der Studie verdichtet und sie überschaubar gestaltet. Dem Buch sind außerdem begriffliche Strenge, luzider Stil und logischer Aufbau zu bescheinigen, was die Zugänglichkeit – trotz des Umfangs – weiter erleichtert. Dabei ist das präsentierte marxistische Denken, sofern es auf Weiterentwicklungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eingeht, vor allem im bundesrepublikanischen Kontext zu verorten, von der Frankfurter Schule (Adorno) über das Projekt Ideologietheorie (Haug) und die neue Marxlektüre (Heinrich) bis zur kritischen Psychologie (Holzkamp). Besonders zu begrüßen an Bohns Studie ist, dass sie sich nicht in Disziplinen parzelliert, sondern eine historisch-materialistische Totalitätsanalyse kapitalistischer Vergesellschaftung vornimmt – was im heutigen Wissenschaftssystem trotz damit einhergehenden Erkenntnisverlusten selten gewagt wird.
Gegen die liberale Parodie des Marxismus als totalitäre Staatsauffassung hier, als altbackene Weltanschauung da, argumentiert Bohn so zurecht für den Marxismus als Wissenschaft. Dafür versucht er, das marxistische System in zwei materialistischen „Fundamentalaxiom[en]“ (S. 25) zu fundieren, nämlich im Ursprung der Gattung Mensch und der für diese essenziellen Kategorie der Arbeit. Leider kann jene Fundierung des Marxismus, insofern sie sich nicht philosophisch-ontologisch, sondern ethnologisch bzw. kulturanthropologisch begründet, wenig überzeugen (S. 9) – schon, da das Forschungsinteresse dieser Disziplinen lange Zeit verwandt war mit dem Herrschaftsinteresse des kolonialen Kapitalismus. Weiter ist das angebotene Fundament letztlich zu dünn, um darauf eine kritische Totalitätsanalyse der Gegenwart aufzubauen. Gewichtiger noch droht mit ihm die Gefahr, spezifische kapitalistische Entwicklungen auf den Verlauf der Zivilisationsgeschichte zurückzuprojizieren (S. 15–19). Obgleich Bohn durchweg betont, welch epochale Zäsur die Trennung von Produktionsmitteln und Arbeitenden darstelle (S. 103), erscheint der Kapitalismus in seiner Gattungsgeschichte als mehr oder weniger notwendige Folge – führe diese doch wie von selbst Arbeitsteilung, Tauschprinzip, Privatisierung und schließlich noch das Wertgesetz und die Warenform mit sich (S. 21, 73, 227, 257, 349, 473). Insbesondere die unter dem Stichwort Realabstraktion beschreibbaren Prozesse, die etwa mit der Entstehung des Geldwesens einen bedeutsamen Wandel der Formen gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse darstellen, bleiben demgemäß unterreflektiert (S. 98, S. 422). Insofern steckt in Bohns Marxlektüre zwar genug Hegel, aber nicht genug Feuerbach – zwar genug Dialektik, aber nicht genug Religions- bzw. Fetischismuskritik.
Bohns problematische Fundierung des marxistischen Denkens entspringt aus der Art, wie er dessen Methodologie im dialektischen Materialismus grundlegt, der seines Erachtens „universell gilt“ (S. 58) – sodass nicht nur Dialektik in eine omnipotente Ontologie verwandelt, sondern Naturbeherrschung als „historische[r] Fortschritt[]” (S. 48) ohne Raum für Kurswechsel erzählt wird. Solches Erzählen mag zurückgehen auf den Versuch, Marxismus als reine Wissenschaft und damit als vollends amoralische Deskription der Wirklichkeit zu formulieren. Zwar ist Bohn zuzustimmen, wenn er moralphilosophische Überlegungen historischer Tendenzen zurückweist, die etwa die „Abnahme roher Zwangsarbeit“ – statt als kapitalimmanente Notwendigkeit – als „geistesgeschichtlichen Zivilisierungs- und Humanisierungsprozess deuten“ (S. 133). Doch tritt marxistisches als dialektisches Denken gerade nicht für die abspaltende Purifikation, sondern für die Vermittlung zwischen Subjektivität und Objektivität und damit zwischen Präskription und Deskription ein. Denn die Produktivkräfte selbst, wie fortgeschritten sie auch seien, beinhalten immanenzlogisch betrachtet weder ein notwendigerweise transzendierendes Moment noch eine Entscheidung über die ‚richtigen‘ Produktionsverhältnisse. Beide können vielmehr nur realisiert bzw. determiniert werden durch das politische Primat einer substanziell demokratisierten Menschheit und ihrer kollektiven Selbstorganisation, wie Bohn an anderer Stelle selbst argumentiert (S. 227). Insofern präsentiert Bohn weniger ‚das‘ als einspezifisches ‚marxistisches Denken‘, in dessen ‚Orthodoxie‘ (S. 685) etwa französische Intellektuelle wie Lucien Goldmann, Henri Lefebvre oder Guy Debord, die Praxisphilosophien Zagrebs und Budapests oder Theoretikerinnen der ‚transition to capitalism‘ von Ellen Meiksins Wood bis Silvia Federicci nicht vorkommen.
Misst man die Studie andererseits am Ziel, den Leser:innen mittels modellhafter Analysen begrifflich ausgearbeitete Kriterien zur marxistischen Kritik verschiedener ökonomischer Gesellschaftsformationen an die Hand zu geben, wird der Text seinem Ziel auf voller Linie gerecht. Weiterhin überzeugt die ‚unorthodoxe‘ Verteidigung einer politischen Begründung des Klassenbegriffs und des Klassenkampfes mit dem Ziel einer Aufhebung der ökonomisch klassifizierten Masse (S. 243) ebenso wie die Kritik am politischen Liberalismus mit seinem Dualismus zwischen Privatem und Politischem (S. 265). Insbesondere Bohns Differenzierung zwischen den arbeitsteilig-positivistischen (bürgerlichen) Wissenschaften und dem Marxismus als wissenschaftlicher Totalitätsanalyse kann als wichtiges Korrektiv zu den heute binarisierenden Debatten zwischen Szientismus und Populismus verstanden werden (S. 80): Weil keine Wissenschaft abstrahierbar sei von ihrem polit-ökonomischen Kontext, sei der Weg zur Verteidigung der Wissenschaftlichkeit nicht die Neutralität, sondern die distanzierende Bewegung der Kritik (S. 90). Hervorragend sind weiterhin Bohns Ausführungen zum dialektischen Widerspruch zwischen Klassen- und Einzelinteresse der Kapitalist:innen sowie zur Entstehung des Banken- und Finanzsektors (S. 189–206) und zu den Ungleichzeitigkeiten moderner Staaten (S. 285–321), die er allesamt erklären kann, ohne je den Boden materialistischer Theoriebildung zu verlassen.
Die Wirtschaftswissenschaften wohl hätten es am nötigsten, sich von Bohn auf die soziologischen Füße ihrer eigenen Disziplin stellen zu lassen. Die Arbeitswertlehre vollständig zu verwerfen und den Wertbegriff durch ein so substanzloses Konzept wie subjektive Wertschätzung im Rahmen abnehmenden Grenznutzens zu ersetzen, wird von Bohn zurecht als ideologisch motiviert zurückgewiesen (S. 427). Umso dringender braucht es einen konsequent systematischen und logisch stringenten Ansatz, um den wissenschaftlichen Stellenwert marxistischer politischer Ökonomie nicht nur gegen, sondern auch innerhalb der Wirtschaftswissenschaften hinreichend zu verdeutlichen. Brilliant trifft Bohn etwa das Herz betriebswirtschaftlicher Managementdiskurse mit der Identifikation einer Dialektik zwischen der ‚Sehnsucht nach perfekter Kontrolle‘, die sich seit dem 20. Jahrhundert u. a. in einer Welle wirtschaftsinformatischer Technologien zur Prozesssteuerung verwirklicht, und der post-tayloristischen Wende hin zu subjektiver Integration der Ware Arbeitskraft durch den ‚neuen Geist des Kapitalismus‘ (S. 491). Auch Bohns Ausarbeitung des Verhältnisses zwischen Basis und Überbau als dialektisches (S. 69, 255) ist von fundamentaler Bedeutung für zeitgenössisches marxistisches Denken – wodurch etwa aufzeigbar wird, dass es der ‚ganze Mensch‘ ist, der im ‚postfordistischen‘ Zeitalter ausgebeutet wird, statt dass der Ausbeutungsbegriff nur auf Handarbeit oder den globalen Süden anzuwenden sei (S. 347).
Andererseits konzentriert sich die Studie so lückenlos auf den globalen Norden, hier auf den Westen und im Westen auf bezahlte Lohnarbeit, dass eine problematische theoretische Verengung der Kapitalismusanalyse insgesamt auftritt – nämlich die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Lohnbeschäftigung, welche selbst die Anerkennung der Reproduktionsarbeit explizit zurückweist (S. 455). Solcher Reduktionismus minimiert nicht nur theoretisch die reale Arbeiter:innenklasse, die sich heute gerade in reproduktiven, informellen, illegalisierten und anderen vermeintlich ‚vorkapitalistischen‘ Arbeitsverhältnissen konstituiert. Mehr noch legitimiert er auch öko-feministische und postkoloniale Kritiken am ‚marxistischen Denken‘, denen dieses Denken – bei erweitertem, jedoch präzise bleibendem Mehrwert- und Ausbeutungsbegriff – sonst gelassen begegnen könnte. Tatsächlich hat sich marxistisches Denken in unserer Zeit weiterzubilden als feministisch-antikolonialistischer Marxismus, der ausbeuterische Verwertung nicht nur als Abschöpfung des Mehrwerts von Lohnarbeitenden versteht, sondern auch als fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation der Expropriation, des Extraktivismus, der Enteignung von oben und der expandierenden Kommodifizierung aller Lebensbereiche rund um den kapitalistischen Globus. Hier hätten mehr Weltsystemanalyse, mehr Wertkritik, mehr feministischer Marxismus, aber auch mehr Weiterentwicklungen Luxemburgischer Akkumulationstheorie (S. 577–580) sowie ein verstärkter Rückgriff auf öko-marxistische Strömungen mit Sicherheit geholfen. Dennoch teilt Bohn mit letzteren die Einsicht, dass die imminente Klimakrise nur bewältigbar ist in einer transkapitalistischen „Gesellschaft, die ihren Naturstoffwechsel auf radikal andere Weise organisiert und damit auch andere Subjekte hervorbringt.“ (S. 698) Bohn analysiert die politische Ökonomie des Kapitalismus mit einer solchen Genauigkeit, dass er nur wenige Sätze braucht, um klar darzulegen, warum privatistisch geführte Diskurse über das Thema Nachhaltigkeit die Zwangsgesetzlichkeiten des Kapitalismus analytisch verfehlen und daher klimapolitische Einbahnstraßen sind (S. 543).
Insgesamt ist Bohns Studie, während sie philosophisch-erkenntnistheoretisch mitunter geschwächt auftritt, in soziologisch-ökonomischen Belangen (S. 421–674), aber auch in politischen Fragen (S. 681) große theoretische Stärke, Schärfe und Kohärenz zu attestieren. Wenngleich sie nur einen spezifischen Ausschnitt aus dem ‚marxistischen Denken‘ zugänglich macht, ist ihr grundsätzliches Votum für eine kritisch-emanzipatorische Totalitätsanalyse des Kapitalismus, für ein dialektisches Verständnis, insbesondere von Basis und Überbau, sowie für eine Kritik am Liberalismus und an bürgerlichen Subjektivierungsformen Erfüllung eines Desiderats in Zeiten ‚postmarxistischer‘ Hegemonie wie den unseren: nämlich des Desiderats, zurückzufinden in eine transkapitalistische Perspektive, die unter dem Ignorieren von 170 Jahren marxistischer Wissenschaft nur leiden kann. Bei fortgesetztem Ausblenden marxistischer Forschung droht die ökologische Krise ebenso unlösbar zu werden wie die politischen, ökonomischen und kulturellen Krisen des 21. Jahrhunderts – wogegen Bohns systematische Argumentation durchgängig überzeugend Einspruch erhebt.
© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Ein ungleichheitssoziologischer Blick auf „Die Doppelte Spaltung Europas“
- Die Soziologisierung europäischer Ungleichheiten
- Essay
- Auf der Suche nach der ostdeutschen Identität
- Sammelbesprechung
- Natur, Mensch und Gesellschaft im Anthropozän. Auf dem Weg zu einer mehr-als-menschlichen Soziologie?
- Doppelbesprechung
- Herrschaft: Wiedergewinnung einer verlorenen Kategorie der Arbeit
- Einzelbesprechung Kapitalismus
- Silke Van Dyk / Tine Haubner, Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 176 S., kt., 15,00 €
- Einzelbesprechung Marxismus
- Rainer Bohn, Marxistisches Denken: Philosophie – Gesellschaftsgeschichte – Ökonomie. Baden Baden: Tectum Verlag 2021, 728 S., gb., 58,00 €
- Einzelbesprechung Migration
- Madlen Preuß, Elias’ Etablierte und Außenseiter: Eine quantitativ-empirische Modellierung am Beispiel der deutschen Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2020, 278 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Wirtschaft
- Jan Sparsam, Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaft auf Wirtschaftspolitik und Ökonomie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 266 S., kt., 64,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)
Artikel in diesem Heft
- Frontmatter
- Frontmatter
- Editorial
- Symposium
- Ein ungleichheitssoziologischer Blick auf „Die Doppelte Spaltung Europas“
- Die Soziologisierung europäischer Ungleichheiten
- Essay
- Auf der Suche nach der ostdeutschen Identität
- Sammelbesprechung
- Natur, Mensch und Gesellschaft im Anthropozän. Auf dem Weg zu einer mehr-als-menschlichen Soziologie?
- Doppelbesprechung
- Herrschaft: Wiedergewinnung einer verlorenen Kategorie der Arbeit
- Einzelbesprechung Kapitalismus
- Silke Van Dyk / Tine Haubner, Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 176 S., kt., 15,00 €
- Einzelbesprechung Marxismus
- Rainer Bohn, Marxistisches Denken: Philosophie – Gesellschaftsgeschichte – Ökonomie. Baden Baden: Tectum Verlag 2021, 728 S., gb., 58,00 €
- Einzelbesprechung Migration
- Madlen Preuß, Elias’ Etablierte und Außenseiter: Eine quantitativ-empirische Modellierung am Beispiel der deutschen Migrationsgesellschaft. Bielefeld: transcript Verlag 2020, 278 S., kt., 40,00 €
- Einzelbesprechung Wirtschaft
- Jan Sparsam, Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaft auf Wirtschaftspolitik und Ökonomie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 266 S., kt., 64,99 €
- Rezensentinnen und Rezensenten des 1. Heftes 2023
- Eingegangene Bücher (Ausführliche Besprechung vorbehalten)