Natur, Mensch und Gesellschaft im Anthropozän. Auf dem Weg zu einer mehr-als-menschlichen Soziologie?
Rezensierte Publikationen:
Frank Adloff / Sighard Neckel (Hrsg.), Gesellschaftstheorie im Anthropozän. Frankfurt am Main: Campus 2020, 284 S., kt., 24,95 €
Hannes Bajohr (Hrsg.), Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung. Berlin/Boston: De Gruyter 2020, 244 S., gb., 89,95 €
Dipesh Chakrabarty, Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter. Berlin: Suhrkamp 2022, 443 S., gb., 32,00 €
Eva Horn / Hannes Bergthaller, Anthropozän zur Einführung. Hamburg: Junius 2019, 256 S., kt., 15,90 €
Bruno Latour / Nikolaj Schultz, Zur Entstehung einer ökologischen Klasse. Ein Memorandum. Berlin: Suhrkamp 2022, 93 S., br., 14,00 €
Jason W. Moore, Kapitalismus im Lebensnetz. Ökologie und die Akkumulation des Kapitals. Berlin: Matthes & Seitz 2020, 471 S., gb., 32,00 €
Markus Schroer, Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens. Berlin: Suhrkamp 2022, 644 S., kt., 30,00 €
1. Einleitung
Ein Gespenst geht um in der Soziologie – das Gespenst des Anthropozäns. Das Anthropozän bezeichnet eine grundlegende Veränderung im Verhältnis von Mensch und Erde. Der namensgebende Anthropos soll dabei zu einer geophysikalischen Kraft in einem planetaren Maßstab geworden sein, der existenzielle Grenzen überschreitet und das Funktionieren des Erdsystems als Ganzes gefährdet. Der Begriff wurde Anfang der 1980er Jahre vom Süßwasserbiologen Eugene Stoermer geprägt, um auf die anthropogenen Prozesse hinzuweisen, die zur Versauerung der Meere beitragen und die Lebensbedingungen auf der Erde nachhaltig verändern (Crutzen & Stoermer, 2000). Vom Atmosphärenchemiker Paul Crutzen (2002) popularisiert,[1] ist das Anthropozän in den letzten zwei Jahrzehnten weit über die Erdsystemwissenschaften hinaus zu einem zentralen Signifikanten des gegenwärtigen geologischen, geohistorischen und geopolitischen Moments geworden. Während Geolog:innen noch darüber zu entscheiden haben, ob wir es tatsächlich mit einer neuen geochronologischen Epoche zu tun haben,[2] ist in den letzten Jahren disziplinübergreifend eine Fülle an Literatur über und als Antwort auf das Anthropozän verfasst worden (u. a. Bonneuil & Fressoz, 2016; Ellis, 2018; Latour, 2017a; Lewis & Maslin, 2015; Zalasiewicz, 2015).
Wie Eva HornundHannes Bergthaller in „Anthropozän zur Einführung“ verdeutlichen, liegen die Gründe für die Vervielfältigung des Anthropozäns auf der Hand. Das Anthropozän stellt nämlich eine Zäsur im doppelten Sinn dar, die unser Denken und Handeln radikal herausfordert. Es handelt sich sowohl um einen „Bruch mit den ungewöhnlich stabilen ökologischen Verhältnissen des Holozäns: Umweltbedingungen, in denen alles entstanden ist, was wir als menschliche Zivilisation kennen“ (Horn/Bergthaller, S. 10) als auch um eine Unterbrechung, die auf einen „Neuanfang im Denken“ (Horn/Bergthaller, S. 25) hinausläuft. Denn Mensch und Erde lassen sich nicht mehr getrennt voneinander verhandeln oder einander antagonistisch gegenüberstellen. Vor diesem Hintergrund versteht sich der Band als eine Kartierung fortlaufender Debatten, die auf eine kritische Überprüfung unseres Verhältnisses zur Natur und unseres Selbstverständnisses als Gattungswesen abzielen. Als empirischer Sachverhalt und als Gegenwartsdiagnose verstanden, bilde das Anthropozän eine Art „Kulminationspunkt“ (Horn/Bergthaller, S. 19) einer ebenso langen wie heterogenen Geschichte der Auseinandersetzung mit den materiellen und ökologischen Bedingungen menschlichen Lebens. Vorschläge wie das Kapitalozän (Malm; Moore), Plantagozän (Haraway, 2018) oder Thanatozän (Bonneuil & Fressoz, 2016) stellen sich aus solch einer historischen Perspektive nicht als sich wechselseitig ausschließende Konzepte dar, sondern könnten viel eher als „aufeinander aufbauende Phasen des Anthropozäns“ (Horn/Bergthaller, S. 40) begriffen werden, die sich weniger ablösen als überlagern. Besonders eindrücklich warnen HornundBergthaller daher über das Buch hinweg vor einem in den Kultur- und Sozialwissenschaften bisweilen verbreiteten Reflex, die Einsichten und Konzepte der Naturwissenschaften pauschal als instrumentell oder technokratisch zurückzuweisen. Denn das Zusammenlaufen von Mensch als biologisches Wesen und Mensch als Kulturwesen im Anthropozän verdeutliche nicht zuletzt auch die Notwendigkeit einer Neuausrichtung und Schärfung sozial- und kulturwissenschaftlichen Denkens. Dabei geht es „um nichts weniger als eine neue Art des In-der-Welt-Seins“ (Horn/Bergthaller, S. 27) mit der eine „massive Verschiebung der Perspektive in eine andere Größenordnung – das Planetarische“ (Horn/Bergthaller, S. 177) einhergehe. Widerhall findet dieses Plädoyer in allen hier in der Folge besprochenen Texten, die das Anthropozän als eine Klammer begreifen, die die Soziologie herausfordert, über ‚alte‘ und ‚neue‘ Begriffsbestimmungen von Mensch, Gesellschaft und Natur sowie Subjektivität, Handeln und Verantwortung nachzudenken.
2. Der Mensch zwischen Dezentrierung und Rezentrierung
Während an anderer Stelle (u. a. Barla & von Verschuer, 2022; Davis & Todd, 2017; Haraway, 2018; Yusoff, 2018) bereits darauf hingewiesen wurde, dass es gerade die Vorstellung, dass sich der Mensch zu einer geophysikalischen Kraft entwickelt habe, ist, die sich als Teil des Problems anstatt als dessen Lösung erweisen könnte, zeigt Hannes Bajohr im Sammelband „Der Anthropos im Anthropozän. Die Wiederkehr des Menschen im Moment seiner vermeintlich endgültigen Verabschiedung“, dass die Frage nach dem Menschen und seiner Rolle vor dem Hintergrund gegenwärtiger Krisen und Katastrophen keineswegs trivial ist. Weniger an einer Auseinandersetzung mit dem Begriff des Anthropozäns oder konkreten ökologischen Krisen interessiert, geht es den Autor:innen um eine Neubefragung des Signifikanten „Mensch“ vor dem Hintergrund eines „Deutungskampf[s] um die diskursive Wiederkehr des Menschen“ (Bajohr, S. 2) in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Ausgehend von der verbreiteten Anrufung des Anthropos als die ursächliche Kraft, das eigentliches Subjekt der Sorge und den herbeieilenden Retter in der Not in weiten Teilen der Debatte um das Anthropozän, unterzieht der Band den Menschen einer diskursiven Revision, die sich über die Formulierung einer negativen Anthropologie vollzieht. Negativ ist solch eine Anthropologie insofern, als dass sie mit Günther Anders (2018) gesprochen die Bestimmung des Menschen im Kontext einer drohenden Zukunftslosigkeit vornimmt, die sie zugleich abwenden möchte. Die Bestimmung des Menschen per Negation, die sich allen menschlichen Apriori verweigere und mit dem für Anders das einzige „Recht“ einhergehe, „den Singular ‚der Mensch‘ zu verwenden“ (Anders, 1982, S. 11), ermögliche es, den Menschen nach einem halben Jahrhundert poststrukturalistischer und posthumanistischer Kritik wieder „zum Zentrum des Interesses“ zu machen (Bajohr in Bajohr, S. 11). Mit Helmuth Plessner hingegen betont der Vorschlag einer negativen Anthropologie die Sonderstellung des Menschen, die sich aus seiner „exzentrischen Positionalität“ eröffne. Für Plessner zeichnet sich der Mensch im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen auf dem Planeten durch ein spezifisches Dasein aus. Während allem Leben die Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Seinsweise fehle, verfüge einzig der Mensch über die Befähigung nicht bloß zu existieren, sondern sein Leben zu führen. Erst durch diese reflexive Distanz zur Mitwelt ist der Mensch in Plessners Augen in der Lage, das Gegebene zum Gegenstand seines Denkens und Handelns zu machen. (Plessner, 1975) Und so sind sich auch die Autor:innen das Bandes darin einig, dass sich Menschsein innerhalb des Spannungsverhältnisses von Weltverbundenheit und Weltfremdheit vollziehe. Gerade weil damit eine ethische und politische Anrufung einhergeht, wäre der Begriff des Menschen nicht vorschnell zu verabschieden, sondern sollte erneut zu einer Schlüsselfigur des Denkens gemacht werden. Indem sie dieser Idee folgen, zeichnen sich die Beiträge des Bandes durch einen Drahtseilakt aus, den Menschen zwar privilegiert „als Adressat ethischer Forderungen“ sowie als „politisch Handelnden“ (Bajohr in Bajohr, S. 10) zu verhandeln, ohne ihn jedoch als einzigen Akteur in den Blick zu nehmen.
Dieses Vorhaben wird am ehesten von jenen Beiträgen verwirklicht, die eine Brücke zwischen Plessners philosophischer Anthropologie und postkonstruktivistischen Theorien schlagen. Der Beitrag von Katharina Block etwa betont nicht nur die Notwendigkeit einer Dezentrierung des Menschen im Anthropozän, sondern problematisiert auch „Nivellierungstendenzen“ (Block in Bajohr, S. 77) in so manchen posthumanistischen Ansätzen. Sowohl gegen die Absicht einer ontologischen Verflachung der Welt als auch gegen die Verlockung Handlungsmacht ausschließlich beim Menschen zu verorten positioniert, verdeutlicht Block den (macht)analytischen Gewinn eines differenzierten Verständnisses von agency. Dieses differenziert zwar weiterhin zwischen intentionalem Handeln und widerständigem Wirken hinsichtlich seines „jeweiligen Machtpotenzials“, betont zugleich aber auch, dass dabei keinesfalls ausgemacht sei, dass intentionales Handeln „eo ipso die stärkste Wirkmacht“ wäre (Block in Bajohr, S. 85–86). Indem Block diese Überlegung an Plessners Begriff der „exzentrischen Positionalität“ rückbindet, plädiert sie für „einen dritten Weg zwischen Hyper- und Anti-Anthropozentrismus“, der auch „Mehr-als-Menschen als exzentrische Vollzugswesen“ begreift; „denn die exzentrische Positionalität besteht selbst nur in ihrem Vollzug und realisiert sich somit relational zu ihrem Umfeld“ (Block in Bajohr, S. 88–90).
Weniger überzeugen hingegen jene Beiträge im Band, die posthumanistische und poststrukturalistische Theorien vornehmlich als eine Negativfolie verhandeln. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Aufgabe der philosophischen Anthropologie in ihrer Kraft als „Korrektiv“ gegen „Theorieextremismen und -radikalismen“ (Fischer in Bajohr, S. 28) bemüht wird, jedoch nur um den Preis des Zeichnens einer Karikatur der besprochenen Theorien und Konzepte. So führt etwa Joachim Fischer (Fischer in Bajohr, S. 29), die philosophische Anthropologie als eine „realistische Theorie“ zur „Einhegung“ einer posthumanistischen Anthropozentrismuskritik ins Feld. Eingehegt werden soll insbesondere die „Gaia-Theorie“, die nicht nur darauf hinausliefe, die Erde als ein belebtes Wesen, das „etwas wollen kann und umgekehrt vulnerabel“ sei (Fischer in Bajohr, S. 31), zu begreifen, sondern auch den Menschen als handelnden Akteur von der Bildfläche zu tilgen. Nun können James Lovelocks Ausführungen zu Gaia bisweilen in solch einem Licht gelesen werden.[3] Für die Arbeiten der Biologin Lynn Margulis trifft diese Kritik aber schon nicht zu, hat sie doch unentwegt betont, dass „Gaia is neither vicious nor nurturing in relation to humanity; it is a convenient name for an Earthwide phenomenon: the regulation of temperature, acidity/alkalinity, and gas composition. Gaia is a series of interacting ecosystems that compose a single huge ecosystem at the Earth’s surface. Period“ (Margulis, 1999, S. 150). Noch weniger wird solch ein Vorwurf jedoch Latour gerecht, der GAIA (Schreibweise beachten!) weder als einen Organismus noch als identisch mit dem Planeten begreift, sondern als ein „Gewirr“ (Latour, 2017a, S. 176), als ein Ereignis des unaufhörlichen Relationierens von organischen und anorganischen, lebendigen und nicht-lebendigen Aktanten – ohne dabei jedoch unterschiedliche Formen von agency wie etwa Intentionalität, Begierige und Wille oder Wirkmächtigkeit und Funktion zu nivellieren (Latour, 2017a, S. 172, Fn. 73). Am deutlichsten wird jedoch Haraway (2018), die mit ihrem Verständnis von Symbiose als ein konflikthaftes „Mit-Werden“, als ein verwobenes Leben und Sterben, die Frage der Verantwortung gerade nicht außen vor lässt, sondern ausdrücklich an den Menschen rückbindet. So folgt für Haraway aus der Tatsache, dass wir „nicht alle auf die gleiche Art und Weise responsabel [sind]” (Haraway, 2018, S. 44), der Ruf, „eine Praxis der Sorge und Responsabilität in artenübergreifenden Verweltlichungen auf einer lädierten Erde zu eröffnen“ (Haraway, 2018, S. 144). Der Vorwurf einer vermeintlichen Undifferenziertheit anthropozentrismuskritischer Ansätze, der einige der Beiträge leitet, erweist sich somit bei näherem Hinsehen seinerseits als unscharf und stellenweise polemisch. Zeichnen postkonstruktivistische und neomaterialistische Zugänge die Verwobenheit des menschlichen Körpers, Lebens und Sterbens mit Viren, Mikroben, Tieren, Pilzen und Wäldern nach (u. a. Barad, 2007; Haraway, 2018; Jackson, 2020; Tsing, 2018), ist die materielle Dimension des Menschen verblüffend abwesend in einigen der Beiträge des Bandes. Damit läuft die Frage nach dem Menschen und seiner Rolle in der Biosphäre einmal mehr Gefahr, auf einer vornehmlich diskursiven Ebene abgehandelt zu werden.
3. Anthropozän als Beobachtungskategorie und Gesellschaftstheorie
Im Gegensatz zu der Auffassung, dass „die interpretierenden Sozial- und Geisteswissenschaften nur langsam auf die Krise des Klimawandels reagiert“ (Chakrabarty in Bajohr, S. 233) hätten, hat die Soziologie die Debatte um das Anthropozän mitnichten verschlafen. Tatsächlich ist nicht nur eine ebenso breite wie intensive Bearbeitung des Anthropozäns in den letzten Jahren zu vernehmen, sondern sind einige der aktuellen Fragen bereits in der Vergangenheit Gegenstand der Soziologie gewesen. Befasst sich Bajohr mit der Frage des Menschen im Anthropozän, so zeigt Markus Schroer in „Geosoziologie. Die Erde als Raum des Lebens“, dass der Blick auf die vergessenen und verdrängten Werke der Soziologiegeschichte durchaus fruchtbar für aktuelle gesellschaftstheoretische Fragen sein kann. Schroer macht dabei eine überraschende Aktualität mancher aus den Anfangstagen der Soziologie stammenden Arbeiten aus. Ohne gleich die Idee des Menschen als geologische Kraft vorwegzunehmen, gingen manche dieser Abhandlungen bereits über den Menschen als privilegierten Akteur der Sozial- und Erdgeschichte hinaus. Da wäre etwa Georg Simmel, der zu den Klassikern der Soziologie gerechnet wird, dessen Rezeption in der Regel aber nicht auf seine Überlegungen zur sozialen und vergesellschaftenden Rolle des Bodens eingeht. Oder Werner Sombart, der mit seiner „Noo-Soziologie“ menschliches Sinn- und Bedeutungsverstehen an eine physische Umwelt gebunden verhandelt und sowohl den Boden als auch das Klima als gewichtige Einflussfaktoren gesellschaftlicher Entwicklung betrachtet hat. (Schroer, S. 65–69)
Haben die Arbeiten von Marx, Simmel, Sombart, Tarde und anderen noch dem Raum, Boden und den Bodenverhältnissen einen nicht unerheblichen Einfluss auf die gesellschaftliche Organisation und soziale Differenzierung zugestanden, so nimmt dieser Bezug im Verlauf des 20. Jahrhunderts zunehmend ab, bis er sich gänzlich verflüchtigt oder den Boden lediglich mehr unter rein ökonomischen Gesichtspunkten verhandelt. Mit der Verdrängung dieser Erklärungen, geht ohne Frage auch eine Verarmung soziologischen Denkens einher. Dies zeigt Schroer besonders deutlichen für die Formalisierungsphase der (zumindest deutsch- und französischsprachigen) Soziologie, in der die Weichen für den Blick auf Dinge und eine mehr-als-menschliche Mitwelt als reine Hilfsmittel und Symbole im Dienst der Konkretisierung zwischenmenschlicher Beziehungen gestellt wurden. Schroer exemplifiziert dieses Argument nicht zuletzt mit Verweis auf Leopold von Wieses entscheidende Rolle in der Eingrenzung der Soziologie als eine „Beziehungswissenschaft“ des Menschen. (Schroer, S. 62–63) Wenngleich sich diese „massive Beschneidung des soziologischen Gegenstandsbereichs“ (Schroer, S. 63) aus der spezifischen historischen Situation um die Wende zum 20. Jahrhundert erklärt (und insbesondere als eine Abgrenzung zu Theorieströmungen wie den Sozialdarwinismus, die Lebensphilosophie und den Vitalismus gelesen werden kann), so ist mit Schroer gesprochen die Soziologie doch „längst reif genug“, (Schroer, S. 17) das heißt, als Wissenschaft gefestigt genug, um den „Sprung [...] zur Biologie, Geographie und Geologie zu wagen, ohne dabei die dortigen Denkschemata gleich kritiklos zu übernehmen“. (Schroer, S. 17) Denn kaum etwas wäre heute weniger überzeugend als eine Soziologie, „die nichts sein will als Soziologie“ (Schroer, S. 27), wie Schroer mit Adorno im Schlepptau hervorhebt. Diese Berührungsängste und historische Perspektivenverengung gelte es Schroer zufolge zu überwinden, wenn die Soziologie einen überzeugenden Beitrag zum neuen Erdzeitalter leisten möchte.
Schroer gelingt es einleuchtend zu veranschaulichen, wie uns eine neuerliche Lektüre mancher soziologischer Klassiker im Licht aktueller ökologischer Krisen und Katastrohen ein Verständnis der geographischen Bedingungen, des Raumes und des Bodens, aber auch des Klimas und der Eingebundenheit menschlichen Lebens und Sterbens in eine Umwelt, die nicht bloß eine Leinwand ist, eröffnet. Wer nun jedoch darauf hofft, im Band den Entwurf einer Geosoziologie zu begegnen, die sich der Bearbeitung der Fragen und Folgen des Klimawandels, Massenartensterbens und dem drohenden Kollaps der Biosphäre systematisch verschreibt, wird womöglich enttäuscht werden. Zwar betont Schroer, dass „die hier vorgelegte Geosoziologie weit über das Vorhaben dieser einzelnen Fundstücke hinaus [...] den Anspruch erhebt, eine neue theoretische Basis der Soziologie vor dem Hintergrund der Herausforderungen des Anthropozäns zu entwickeln“ (Schroer, S. 35). Doch letztlich erweist sich dies als ein (vorerst) nicht eingelöstes Versprechen. In diesem Sinn lässt sich Schroers Intervention am ehesten als eine Kontur einer Geosoziologie lesen, die auf eine grundlegende „Ausweitung der soziologischen Denkzone“ (Schroer, S. 13) und einer „Neujustierung soziologischer Begrifflichkeiten“ (Schroer, S. 28) abzielt.
Eine „Neuvermessung des soziologischen Begriffsapparats“ (Henkel & Laux, 2015, S. 9) vor dem Hintergrund planetarischer Krisen und Katastrophen ist auch der Gegenstand des Sammelbands „Gesellschaftstheorie im Anthropozän“ von Frank AdloffundSighard Neckel. Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass das Anthropozän der Soziologie bewusst mache, dass sich die Vorstellung einer „stabilen Natur“ (Adloff/Neckel, S. 10) als bloßen Hintergrund, vor dem sich die menschliche Geschichte entfaltet, nicht mehr länger halten ließe. Herrscht weitgehender Konsens darüber, dass das Verhältnis von Natur und Gesellschaft, von Menschen und ‚ihrer‘ Umwelt aufs Neue erklärungsbedürftig wird, ist weit weniger klar, auf welche Weise die Soziologie diese Entwicklung zum Gegenstand ihrer Analysen zu machen habe. Der Band versammelt mit Blick auf diese Frage unterschiedliche soziologische Beiträge, die ein doppeltes Ziel verfolgen: Auf dem Plan steht einerseits die Erarbeitung von Konzepten für die Analyse gesellschaftlicher Diskurse und andererseits das Vorhaben einer kritischen Reflexion zentraler soziologischer Begriffe. Dabei changieren die Beiträge hin und wieder zwischen einer affirmativen Bezugnahme auf das Anthropozän als theoriegenerierende Kategorie und einer Absage an das Anthropozän als empirische und erkenntnistheoretische Grundlage für die soziologische Theoriebildung.
Exemplarisch für eine stärkere Berücksichtigung der materiellen Grundlagen von Gesellschaft steht der Beitrag von Frank Adloff. Ähnlich wie Latour und der französische Anthropologe Philippe Descola, wendet sich auch Adloff gegen „kulturalistisch“ verkürzte Erklärungsansätze, die eine plural verhandelte Kultur stets einer singulären, jedoch unterschiedlich sinnhaftgemachten Natur gegenüberstellen. (Adloff in Adloff & Neckel, S. 98–99) Dieses „ontologische Standardmodell“, das Latour (2008) auch unter der Chiffre der „Verfassung der Modernen“ verhandelt, informiere nach Adloff nach wie vor weite Teile soziologischer Theorieproduktion. Innerhalb dieses Modells stehen Gesellschaften einer äußeren Natur gegenüber, die zugleich bedrohlich und bedroht sein kann; einer Natur, von den Gesellschaften zwar materiell abhängig sind, die aber dennoch weiterhin als geschichtslos, stabil oder schlicht als gegeben hingenommen wird. Demgegenüber stellt Adloff ein Gabenmodell, dass Natur als „Interaktionspartnerin“ anerkennt. Innerhalb dieses Modells geht es nicht mehr um einen reinen Austausch von Materie und Energie mit der Natur, sondern um eine Art „aufgeklärten“ oder „methodologischen Animismus“, der die Natur so behandelt, als würde sie über Subjektivität und Intentionalität verfügen, ohne dies jedoch zu behaupten. (Adloff in Adloff & Neckel, S. 110–111) Zwar betont solch eine Zugang die Praxis des (Aus-)Tauschs und der Verbindung zwischen Menschen und ihrer Mitwelt, fraglich ist jedoch, inwiefern er auch den Dualismus von Natur und Gesellschaft tatsächlich zu unterlaufen vermag oder im Kern doch weiterhin innerhalb der modernen Verfassung verbleibt. Denn obgleich die Natur nicht mehr als bloße Ressource oder antagonistische Gewalt verstanden wird, verbleit sie doch weiterhin das Andere, dass sich nun jedoch zumindest „verweigern, unerbittlich nehmen oder Schlechtes geben [kann]“ (Adloff in Adloff & Neckel, S. 111).
Es scheint, als würde sich gegenwärtig vieles von dem, was weite Teile der Soziologie über das letzte Jahrhundert hinweg für gegeben gehalten haben, vor unseren Augen verflüchtigen: der Mensch, das Soziale, intentionales Handeln, das autonome Subjekt und eine stabile Natur. Dipesh Chakrabarty setzt dem eins drauf, wenn er in „Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter“ schreibt, dass wir es nicht mehr mit zwei voneinander getrennten Geschichten – einer Geschichte des Planten und einer Geschichte der Menschen – zu tun hätten. Vielmehr würde uns das Anthropozän veranschaulichen, dass wir es mit einer verbundenen Geschichte zu tun haben, in der sowohl die Geschichte der Technologien, Imperien und des Kapitals als auch die Geschichte des Lebens auf dem Planeten zusammenfiele. Das Anthropozän zwinge uns zwar eine Geschichte, jedoch, „in zwei zutiefst unterschiedlichen Zeitmaßstäben [zu] denken“ (Chakrabarty, S. 264). Die Schwierigkeit, die damit einhergeht, besteht allerdings in der Erfahrbarkeit von Zeit. So entziehen sich für Chakrabarty planetarische Prozesse menschlicher Zeitvorstellungen, schließlich kann niemand Jahrtausende oder gar Millionen von Jahren erfahren. Es ist in diesem Licht zu verstehen, wieso Chakrabarty beklagt, dass in vielen Diskussionen über das Anthropozän geologische Zeitfragen hinter der Geschichte des Kapitalismus und der menschlichen Weltgeschichte zurückfielen. Wenn nun jedoch Chakrabarty darauf insistiert, dass der Planet und das Planetarische fundamental neue Kategorien der Sorge darstellen würden, die unser Denken herausfordern und von der Erde und dem Globus als „humanzentrische Konstruktionen“ (Chakrabarty, S. 14) zu unterscheiden wären, lässt sich einwenden, dass die Reflexion der existenziellen Gefährdung des Planeten der Soziologie keineswegs fremd ist. So hat beispielsweise Ulrich Beck vor dem Hintergrund der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl bereits argumentiert, dass „die Phase der Latenz der Risikobedrohung [zu] Ende“ ginge (Beck, 1986, S. 73), insofern sich Risiken wie etwa die Freisetzung radioaktiver Stoffe in die Atmosphäre nicht mehr „an den Ort ihrer Entstehung“ (Beck, 1986, S. 29) beschränken, sondern global und bisweilen planetarisch werden.
Geologisch kann kein Zweifel daran herrschen, dass die Geschichte des Planeten, der Geschichte der Menschen vorausgeht. Soziologisch birgt solch eine Erzählung hingegen einige Schwierigkeiten in sich. Für Chakrabarty folgt nämlich aus dem Schluss, dass der Planet immer schon der menschlichen Beziehung zur Welt „vorausgeht“, (Chakrabarty, S. 153) eine Unterordnung menschlicher Geschichte unter die planetarische. Deutlich zutage tritt dies, beispielsweise wenn er schreibt, dass die Menschheit im Zuge der industriellen Revolution schlicht in das Anthropozän als historische planetarische Umwälzung „hineingestolpert“ (Chakrabarty, S. 75) wäre, als handle es sich bei den gegenwärtigen Katastrophen schlicht um einen nicht intendierten Nebeneffekt undifferenziert menschlicher Lebensweisen. Oder wo schlicht davon die Rede ist, dass sich niemand, egal ob Arm oder Reich, planetarischen Katastrophen entziehen könnte, da es nun auch „keine Rettungsboote für die Reichen und Privilegierten“ (Chakrabarty, S. 84) mehr gäbe. Die Behauptung, dass der Klimawandel Menschen „in wohlhabenden Vierteln in Kalifornien“ (Chakrabarty, S. 84) ebenfalls bedroht, nivelliert jedoch gerade die Unterschiede in der Art und Weise, in der insbesondere indigene, enteignete und ausgebeutete Menschen in vielen Regionen der Welt von multiplen Krisen und Katastrophen existenziell betroffen sind. Dementsprechend zeigen sich hier auch die Grenzen der Nützlichkeit einer weitestgehend unkritischen Einführung geologischer und geochronologischer Begriffe über den Umweg der Geschichtswissenschaft in die soziologische Theoriebildung. Denn ohne gleich am Primat des Sozialen festhalten zu wollen, droht die Vorstellung eines Zusammenlaufens von planetarischer und menschlicher Geschichte auf das soziologisch wenig zufriedenstellende Fazit hinauszulaufen, Menschen als lediglich „eine planetarische Kraft unter anderen“ zu betrachten, „nicht aber als zentrale Akteure mit Macht und Verantwortlichkeit“ (Neckel in Adloff & Neckel, S. 165).
4. Ökologie, Subjektivität und das Politische
Während die zuvor erwähnten Beiträge verdeutlichen, dass die erkenntnistheoretischen, ontologischen und normativen Konsequenzen des Anthropozäns soziologisch durchaus ambivalent diskutiert werden, greifen Bruno LatourundNikolaj Schultz die Debatte um die Frage der Subjektivität im Anthropozän auf. Das politische Subjekt, das sie dabei zu skizzieren beabsichtigen, ist nun gerade nicht das „globale politische Subjekt“ (Neckel in Adloff und Neckel, S. 159), dass sowohl soziologisch als auch realpolitisch zurecht als völlig unbrauchbare Fiktion zu betrachten ist, sondern vielmehr als Versuch des Entwurfs einer verantwortungsvollen „terrestrischen“ Subjektivität zu werten. Bereits im „Terrestrischen Manifest“ hat Latour (Latour, 2017b, S. 76) darauf hingewiesen, dass die soziale Frage im beginnenden 21. Jahrhundert immer mehr zur „neuen geo-sozialen Frage“ werde (Latour, 2017b, S. 76). Mit Blick auf die (über-)lebensnotwendige Rolle von Boden und Territorium forderte er uns auf, uns zu „erden“ und zu verantwortungsvolleren Erdbewohner:innen zu werden. Indem er sich nationalistischen und völkischen Fantasien von Boden und Territorium grundlegend entzog, drängte uns Latour zu einer Bindung an einen anderen Boden, die auf der „Sorge für ein Stück Erde“ (Latour, 2017b, S. 65) fußt. Die Figur des „Terrestrischen“ diente Latour in dieser Vorstellung als eine Alternative zu der modernen Aufteilung der Welt in Natur und Gesellschaft, Mensch und Umwelt, global und lokal. Das „Terrestrischen“ ist nämlich „an Erde und Boden“ gebunden, „aber auch welthaft in dem Sinne, dass es sich mit keiner Grenze deckt und über alle Identitäten hinausweist“ (Latour, 2017b, S. 66). Indem er zu seinem Vorschlag eines Relationierens und Versammelns von Kollektiven zurückkehrt, denkt Latour die oben angesprochenen Überlegungen in dem posthum veröffentlichten Buch nun gemeinsam mit Schultz weiter. Weniger an ein soziologisches Publikum adressiert, versteht sich der Text dabei als ein Memorandum – eine Denkschrift, aber auch eine Erinnerung – an Klimaaktivist:innen, Ökologiebewegungen und „grüne“ Parteien. Folgt man LatourundSchultz, ist die institutionalisierten Ökologiebewegung träge und sklerotisch geworden. Sie habe es, trotz der Mobilisierung eines Berges an Fakten aus den Klimawissenschaften und der Allgegenwärtigkeit des Klimawandels, nicht geschafft, die Mehrheit der Menschen zu einem anderen Denken und Handeln zu bewegen. Geleitet vom Wunsch, Ökologie als Anliegen in das Gravitationszentrum politischen Lebens zurück zu bringen, sehen Latour und Schultz analog zu den Kämpfen der Arbeiter:innenklasse gegen ihre Ausbeutung und Entfremdung, nur in der Herausbildung einer „ökologischen Klasse“ eine realistische Chance, der Klimakrise und Klimawandelleugnung die Stirn zu bieten. Der Begriff der Klasse böte sich dabei an, da er erlaube, „die Grenzen der Struktur der sozialen und der materiellen Welt festzulegen [...] indem er politische Dynamiken in der Begrifflichkeit sozialer Konflikte, der Herausbildung von Erfahrungen und kollektiver Horizonte“ (Latour/Schultz, S. 13) vorantreibt.
Zwei Konzepte erfahren mit diesem Vorhaben eine bemerkenswerte Erweiterung: Erstens folgt für LatourundSchultz aus der Überlegung, dass wir heute mit Blick auf Natur „nicht mehr mit derselben Materie konfrontiert“ (Latour/Schultz, S. 20) seien, wie sie Marx Mitte des 19. Jahrhunderts vorfand, auch eine Erweiterung des Materialismus. Unsere materielle Existenz habe sich in dem Moment verändert, indem wir einsehen mussten, dass das Produktionssystem, das sowohl die Arbeiter:innenklasse brutal unterjocht als auch Ausgangspunkt für ihre Revolte gegen die Bourgeoisie darstellt, „zu einem Synonym für ‚Zerstörungssystem‘ geworden“ (Latour/Schultz, S. 21) sei. Der Klassenkonflikt, den die „neue ökologische Klasse“ auszutragen habe, könne somit nicht innerhalb des Produktionssystems verlaufen. Vielmehr bedeute „[h]eute Materialist zu sein [...] zusätzlich zur Reproduktion der für die Menschen günstigen materiellen Bedingungen auch die Voraussetzungen zur Bewohnbarkeit der Erde zu berücksichtigen“ (Latour/Schultz, S. 21). Zweitens ist das Subjekt, das von LatourundSchultz angerufen wird, nicht mehr ein Lockesches – d. h. ein abgeschlossenes Selbst, das über sich selbst verfügt – sondern ein terrestrisches Subjekt, dass sich seiner Abhängigkeit und Verschränktheit mit einer mehr-als-menschlichen Welt bewusst zu werden habe. Das „terrestrische Subjekt“, das Latour und Schultz im Kopf haben, bricht nicht nur mit einem humanexzeptionalistischen Subjektverständnis, sondern weist auch einige Parallelen zu Haraways (1995) Plädoyer für ein partiales, fragmentiertes und radikal unabgeschlossenes, jedoch stets verkörpertes Subjekt auf, das sich über Affinität und bewusste Koalitionsbildung statt über Identität als Schicksal konstituiert.
Der Gedanke, dass die Welt, in der wir leben und die Welt, von der wir leben, ein und derselbe Raum verbindet, zieht sich schließlich auch durch Jason Moores „Kapitalismus im Lebensnetz“. Weisen LatourundSchultz darauf hin, dass es sich beim Kampf um die Produktionsverhältnisse immer schon um eine geo-soziale Fragen handelte, verfolgt Moore ein ähnliches Motiv, wenn er betont, dass nicht der Mensch als eine undifferenzierte Wirkmacht für die heutigen Krisen und Katastrophen verantwortlich ist, sondern der Kapitalismus. Was auf den ersten Blick kaum überraschend klingt, erfährt bei Moore jedoch eine unerwartete Wendung, wenn er weiter ausführt, dass der Kapitalismus weniger eine Wirtschaftsform als eine „Weltökologie“ darstelle. Als diese zeichne sich der Kapitalismus durch eine doppelte Bewegung aus: Kapital arbeitet durch die Natur und Natur verrichtet Arbeit durch den Kapitalismus. „Der Kapitalismus ist kein Wirtschaftssystem; er ist kein Gesellschaftssystem; er ist eine Weise, Natur zu organisieren“, (Moore, S. 9) und wird zugleich „durch die Natur ins Werk gesetzt“ (Moore, S. 53). Diese dialektische Bewegung findet Ausdruck in Moores Unterscheidung zwischen Kapitalismus als Projekt und Prozess der Geschichte: Als ökonomisches Projekt trachte der Kapitalismus danach, eine nach außen verschobene Natur zu kartieren, zu quantifizieren und zu kommodifizieren. Als historischer Prozess entwickelt sich der Kapitalismus Moore zufolge durch das „Lebensnetz“. Mit dem Begriff des „Lebensnetzes“ verschiebt Moore den Blick auf eine fundamental relationale Ebene. Obgleich die Vorstellung eines Stoffwechsels zwischen Natur und Gesellschaft nicht sonderlich originell erscheint und grundlegender Bestandteil sozialökologischer Theorieproduktion der letzten zwei Jahrzehnte ist, tatsächlich sogar auf Marx selbst zurückverfolgt werden kann, geht es Moore nicht um einen Zugang, der zwischen Mensch und Umwelt vermittelt. Der Begriff des „Lebensnetzes“ ist vielmehr als Antwort auf einen Mangel an Begriffsvokabular (Moore, S. 60) zu verstehen, und soll erlauben, die Relationen selbst und nicht erst ihre möglichen Effekte in den Blick zu nehmen. Im Begriff des „oikeios“ meint Moore eine Sprache, Methode und narrativen Strategie gefunden zu haben, um das dialektische Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt, in ihrer wechselseitigen Hervorbringung adäquat fassen zu können. Als ontologischer Angelpunkt verweist das oikeios auf ein Beziehungsgeflecht, während es als methodische Prämisse bei den Beziehungen ansetzt, durch die Menschen und andere Arten die biologischen, geologischen und sozialen Bedingungen für (ihr) Leben mitgestalten.
Für die Soziologie hat Moores Vorschlag zunächst zur Folge, dass Gesellschaften nicht mit der Natur interagieren, sondern sich durch ihre relationale Verwobenheit mit einer mehr-als-menschlichen Welt entwickeln. Zugleich geht mit solch einem Vorschlag jedoch auch die Einebnung einer analytischen Trennung von Gewordenem und Gemachtem einher. Tatsächlich betont Moore selbst, dass eine Verschiebung der Perspektive von Umwelt im Singular zu „Umwelt-machen“ (Moore, S. 452) als eine kollektive, heterogene und plurale Praxis, nicht nur Umwelt gründlich denaturisiert, sondern auch keinen ontologischen Unterschied zwischen Bergen, Wäldern und Wiesen auf der einen Seite und Häusern, Fabriken und Kohlebergwerken auf der anderen Seite macht – die allesamt „Umwelten“ darstellen. Nun könnte man argumentieren, dass dies der zu zahlende Preis für eine Perspektive ist, die mit einem dualistischen Denken grundlegend bricht. Doch bleibt die Schwierigkeit, dass solch eine Vorstellung einer „Koproduktion des Lebens“ (Moore, S. 10) nicht symmetrisch ist. Denn hinter der Aneignung der Kraft von Flüssen, der Körperarbeit von Tieren oder des Bodens innerhalb des Lebensnetzes stehen stets konkrete Menschen. Dass Umwelten nicht von Menschen allein hergestellt werden, sondern aus dem „Lebensnetz“ hervorgehen, bleibt somit ebenso sehr Gemeinplatz wie analytisch unscharf. Doch auch ökologisch bleibt Moores Ansatz erstaunlich blass. So verspricht Moore zwar eine ökologisch begründete Perspektive – „keine Theorie, sondern eben nichts anderes als eine Perspektive“ (Moore, S. 49) – des Kapitalismus, scheitert aber an einer überzeugenden Synthese. Während wohl einige Marxist*innen ihre Schwierigkeiten mit der Intrusion der Ökologie in die Ökonomie und die Umdeutung der marxschen Werttheorie haben werden (etwa, wenn Moore behauptet, dass die Aneignung „Billiger Natur“ und nicht so sehr die Ausbeutung der Lohnarbeit der Sockel der Arbeitsproduktivität wäre), vermissen ökologisch interessierte Leser:innen möglicherweise eine tiefergehende Auseinandersetzung mit zeitgenössischen ökologischen Ansätzen. Moderne Geschichte ist einmal mehr die Geschichte des Kapitals – diesmal allerdings innerhalb des „Lebensnetzes“ erzählt.
5. Fazit: Auf dem Weg zu einer mehr-als-menschlichen Soziologie?
Der Klimawandel, das sechste große Massensterben und häufiger werdende Naturkatastrophen rücken die Erde auf neuartige Weise und als fundamental gefährdet in das Zentrum soziologischen Denkens. Noch ist nicht ausgemacht, ob mit dieser neuen Wirklichkeit auch eine Neuausrichtung der Soziologie einhergeht. Ebenso wenig herrscht Einigkeit darüber, ob das Anthropozän über eine Beobachtungskategorie hinaus auch als Grundlage für die soziologische Theoriebildung eine überzeugende Antwort auf die gegenwärtigen und noch kommenden planetarischen Krisen und Katastrophen bereitzustellen vermag. Warnungen vor einer unkritischen Übernahme naturwissenschaftlicher Begriffe sowie vor einer „Vernaturwissenschaftlichung globaler Probleme, die keine anderen als historisch-gesellschaftliche Ursachen haben“ (Neckel in Adloff & Neckel, S. 162) gilt es ernst zu nehmen. Gleichzeitig kann die Soziologie es sich aber auch nicht mehr leisten, hinter eine kritische Auseinandersetzung mit ihrer eigenen anthropozentrischen Geschichte zurückzufallen. Ironischerweise führt uns die Rede vom Zeitalter des Menschen vors Auge, dass nicht nur Menschen aktiv am Werden der Welt teilnehmen. Soziologisch gilt es daher weiterhin zu überprüfen, worin die Chancen und Fallstricke einer Neujustierung traditioneller Begriffe wie Gesellschaft, Subjektivität und Handeln liegen könnten. Dafür wird sich die Soziologie weiter öffnen und ihre selbst auferlegten Einschränkungen überdenken müssen. Gleichwohl wird sie sich aber nicht neu erfinden müssen. Eine „nicht-anthropozentrische Soziologie“ (Roßler, 2018), Geosoziologie oder besser mehr-als-menschliche[4] Soziologie erscheint gegenwärtig nämlich nicht nur „denkbar“, sondern lässt sich bereits in ihren Konturen ausmachen. (Hoppe, 2022) Die Mobilisierung einer reichhaltigen soziologischen Tradition und der Wille, sich auf die Wissensbestände, Methoden und Theorien anderer Disziplin einzulassen, zeichnet diese Zugänge ebenso aus wie ein über den Menschen hinausgehendes Interesse. Statt auszuschließen und zu verengen, betreiben diese Ansätze Soziologie als eine mehr-als-menschliche Beziehungslehre. Der Blick auf die gewichtige Rolle des Mehr-als-Menschlichen in sozialen Relationen und Praktiken bedeutet keineswegs, den Menschen aus der Gleichung zu streichen. Im Gegensatz zu HornundBergthaller, die davon überzeugt sind, dass der Fokus auf ontologische Fragen von drängenden ethischen und politischen Fragen der Verantwortung „ablenke“ (Horn/Bergthaller, S. 21), betont eine mehr-als-menschliche Soziologie gerade die Verwobenheit von ontologischen, erkenntnistheoretischen, ethischen und politischen Fragen, ohne dabei menschliche Verantwortung und Verantwortlichkeit zu übergehen. Der Einwand, dass der Vorschlag einer materiellen agency „in eine theoretische Sackgasse“ (Adloff in Adloff & Neckel, S. 103) führe, mag somit zwar innerhalb der Logik der Moderne zutreffen. Sobald wir begreifen, dass niemand allein handelt und wir nie das autonome Subjekt gewesen sind, das wir dachten zu sein (Haraway, 2018), verändert sich jedoch auch die Ausgangslage. Die Konvergenz planetarischer Krisen und Katastrophen drängt uns dazu, brauchbarere Begriffe, Methoden und Theorien zu entwickeln. Eine der Schlüsselaufgaben zeitgenössischer Soziologie als „Krisenwissenschaft“ bleibt folglich, sich weiterhin gegenwartsdiagnostisch mit der Frage auseinanderzusetzen, was es bedeutet, auf einem beschädigten Planeten gemeinsam zu leben, sterben und Verantwortung zu übernehmen. Denn Kategorien wie Mensch, Subjekt, Handlungsfähigkeit, Gesellschaft und Natur sitzen nicht still. Die Soziologie ist gut beraten, es ebenso wenig zu tun.
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