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Silke Van Dyk / Tine Haubner, Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 176 S., kt., 15,00 €

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Published/Copyright: April 12, 2023
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Silke Van Dyk / Tine Haubner, Community-Kapitalismus. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 176 S., kt., 15,00 €


Gemeinschafts-Kapitalismus dank schmaler Soziologie der Gemeinschaft

Aus Jena beleben seit Hegel und Fichte immer wieder Beiträge zu einer Theorie der Gemeinschaft die Diskussion. In jüngerer Zeit kommen kapitalismuskritische Beiträge hinzu, die bei Autoren wie Rosa, Dörre und Lessenich Spätmarxismus und Nachhaltigkeitstheorie kombinieren. Die langjährige Mitarbeiterin von Stephan Lessenich, Silke van Dyk, wurde seine Nachfolgerin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und legt nun mit ihrer Mitarbeiterin Tina Haubner ein schmales, doch im Anspruch gewaltiges Werk vor. Die Autorinnen verknüpfen Gemeinschafts- und Kapitalismus-Kritik unter weitgehendem Verzicht auf eine Theorie der Nachhaltigkeit, doch unter Heranziehung von zwei weiteren Theoriefeldern, Feminismus und Wohlfahrtsstaatsanalyse. Das klingt kompliziert und ist es auch.

Was ist Community-Kapitalismus?

Die zentrale These des Buches lautet: Der neoliberale Kapitalismus tritt in ein neues Stadium, indem umfassend Gemeinschaft propagiert und zur Stabilisierung der Verhältnisse insbesondere in den sozialen Dienstleistungssektoren benutzt wird. Der neue ‚Community-Kapitalismus‘ ist die „Verknüpfung von Posterwerbs- und Gemeinschaftspolitik“ (S. 122). Posterwerbsarbeit bezeichnet nicht regulär entlohnte Arbeit, sie ist, so die Autorinnen, gerade nicht das Ende der Erwerbsarbeit, vielmehr die Vermischung von Erwerbsarbeit und Nicht-Erwerbsarbeit, das Auftreten „fließender Übergänge“ (S. 117), eine Informalisierung und Deprofessionalisierung der Erwerbsarbeit. Das zeigt sich in der Relevanzerhöhung des freiwilligen Engagements in Initiativen, Projekten, Wohlfahrtsverbänden und Vereinen im Bereich der Sorgetätigkeiten. Gemeinschaftspolitik umfasst alle Formen der Sozialpolitik, die auf die Einbeziehung gemeinschaftsbasierter Sorgeformen zur Deckung sozialstaatlicher „Versorgungslücken“ (S. 13) zielen. Gemeinschaftsarbeit und Freiwilligenengagement werden folglich über eine Defizitthese begründet.

Öffentliche Propagierungen und Programme zur Förderung des freiwilligen Engagements sind seit den 1990er-Jahren von allen staatlichen Ebenen verstärkt zu beobachten, Arbeit werde als ‚Hilfe‘, ‚Freizeit‘, ‚Gemeinschaft‘ und ‚Engagement‘ gedeutet. Dabei handele es sich aber nicht mehr um die Mobilisierung traditionaler Gemeinschaften, die in Familie und Verwandtschaft, Nachbarschaft, religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit wurzeln; es gehe dem gemeinschaftsfördernden Wohlfahrtsstaat vielmehr um posttraditionale Gemeinschaften, die auf Freiwilligkeit und gemeinsamem Interesse an einer bestimmten Aufgabe beruhen. Frei eingegangene Commitments hielten derartige Gemeinschaften zusammen. Die Diagnose einer „grenzenlosen Ökonomisierung des Sozialen“ (S. 107) sei daher falsch, so die Autorinnen. Vielmehr komme es zu einer „Verzivilgesellschaftung der sozialen Frage“ (S. 112).

Wie gelangen die Autorinnen zu diesen starken Thesen? Empirische Grundlage ihrer Analyse eines Community-Kapitalismus sind umfassende Literaturauswertungen und die Ergebnisse eines eigenen Forschungsprojektes mit dem Titel ‚Neue Kultur des Helfens oder Schattenökonomie? Engagement und Freiwilligenarbeit im Strukturwandel des Wohlfahrtsstaats‘, das von der Hans-Böckler-Stiftung von 2017 bis 2020 gefördert wurde. Dokumentenanalysen, problemzentrierte Interviews mit 46 Engagierten und leitfadengestützte Experteninterviews mit 80 Expert:innen aus jeweils zwei Mittelstädten und Landkreisen in Baden-Württemberg und Brandenburg stellen das Material bereit, aus dem diese Arbeit schöpft (S. 12–13). Einige Passagen beruhen zudem auf einem seit November 2020 laufendem DFG-Projekt von Stefanie Graefe und Silke van Dyk unter dem Titel ‚Freiwilligkeit als Ressource im Gegenwartskapitalismus‘.

Die Forschungsergebnisse beziehen sich nicht auf eine Systematik oder zumindest Kartographierung der Freiwilligenarbeit im Bereich sozialer Dienstleistungen, sondern auf die fallbezogene Identifizierung von Aussagen, die die problematischen Seiten dieser Arbeitsform aufzeigen. Wenn informelle Arbeit in die Aufgabenerfüllung staatlichen Handelns über öffentliche oder private Agenten sozialpolitischer Aufgabenerfüllung eingeht, so sei dies problematisch, weil keine Entlohnung und Einordnung in ein reguliertes Arbeitsmarktregime stattfinde. Statt eines kapitalistisch und staatlich instrumentalisierten Engagements mit Aufwandsentschädigung und ohne hinreichende Qualifizierung sollte lieber eine Verberuflichung und Überführung in sozialversicherungspflichtig abgesicherte Erwerbstätigkeit erfolgen. So stehen auch in der Empirie Kritiken im Vordergrund: die Kritik an der Instrumentalisierung von Mehrgenerationenhäusern für die Frühförderung von Flüchtlingskindern (S. 50), am verstärkten Einsatz von organisierter Nachbarschaftshilfe (S. 76–77), an dem angeblich weitgehenden Verzicht auf professionelle Arbeit im Feld der Flüchtlingshilfe (S. 52) und vor allem an den Zuständen in der Altenpflege, denen ein ganzes Kapitel gewidmet ist (Kapitel 5). Gerade in diesem Sektor zeige sich eine Tendenz der Deprofessionalisierung als Folge der Übertragung von Care-Aufgaben an Ehrenamtliche ohne hinreichende Schulung und der Konzentration der Cure-Funktionen auf die knappen verbleibenden Professionellen. Die Folge seien sinkende qualitative Versorgungsniveaus zur bloßen Deckung des Grundbedarfs, da ohne die Freiwilligen Kostendruck und Fachkräftemangel nicht bewältigt werden könnten. Mangelnde Entlohnung oder das Ausweichen auf Aufwandsentschädigungen gelte zudem auch dort, wo digitale Plattformen eingesetzt werden, wie in der Nachbarschaftsplattform ‚nebenan.de‘; eine Kritik, die auf viele Formen der ‚Mitwirkung‘ als Prosumer an der Plattformökonomie ausgedehnt wird bis hin zur Radler-App ‚Komoot‘ (S. 85). Die empirischen Befunden bringen viel Unwohlsein im Feld an den Tag, allerdings ohne genauere, gar quantitative Gewichtung. Eine soziologische Systematik des Feldes der Gemeinschaftsarbeit leitet die zugrundeliegenden Forschungen nicht an. Ihrer Defizitthese widersprechende, empirische Befunde der internationalen Freiwilligenforschung (z. B. Cameron et al., 2021) fehlen.

Die Autorinnen propagieren im abschließenden Kapitel 10 die normative Konzeption eines zivilgesellschaftlichen Sozialstaates, der auf sozialen Rechten und professioneller Erwerbstätigkeit in all seinen Sektoren und Aufgabenfeldern beruht. Es gehe um ein „Insourcing zivilgesellschaftlicher Akteure als handlungsmächtige Gestalter*innen in die Organisation der öffentlichen Daseinsvorsorge und Infrastruktur“ (S. 156; Herv. i.O.). Analog zur Selbstverwaltung in den Sozialversicherungen (die allerdings nur abstrakt betrachtet wird) soll auch das Feld sozialer Dienstleistungen der zivilgesellschaftlichen Mitbestimmung und Entscheidungsfindung geöffnet werden. Gefordert wird eine Vergesellschaftung des Sozialstaates. Die Autorinnen wollen die „Gestaltung und Verwaltung sozialer Rechte, Infrastruktur und Daseinsvorsorge konsequent vergesellschaften“ (S. 159). Weiter als dieser vergesellschaftete Sozial- und Infrastrukturstaat reiche nur ein vom Kapitalismus befreiter Zustand einer „nichtmonetarisierten Tätigkeitsgesellschaft“ (S. 156), in der die gegenseitige Hilfe an die Stelle geldvermittelter Sozialbeziehungen tritt. Solange aber keine Aussicht auf einen wie immer näher zu kennzeichnenden „Kommunismus“ bestehe (S. 152), sei der vergesellschaftete Sozialstaat mit seinem System sozialer Rechte das anzustrebende politische Ziel.

Diese im Rahmen der allerdings nicht herangezogenen Wohlfahrtsregime-Theorie als sozialistisch oder stark sozialdemokratisch zu bezeichnende Utopie wird kontrastriert mit der rechtspopulistischen Indienstnahme von Gemeinschaft als Volks- oder sonstwie naturalisierter Gemeinschaft. Der Inhumanismus dieser Gemeinschaftsanrufungen erscheint den Autorinnen selbstevident. Wirklich bedenklich erscheint ihnen die Ansteckungsgefahr: „Das Erstarken der Rechten hat bei nicht wenigen linken und linksliberalen Akteuren dazu geführt, Bezüge auf Nation, Heimat und Gemeinschaft in einer Weise zu re-artikulieren, die posttraditionale Elemente in den Hintergrund rücken oder suspendieren.“ (S. 147–148) Genannt werden beispielsweise Mark Lilla und Slavoj Žižek, aber auch Wolfgang Merkel, Ruud Koopmans und Michael Zürn, denen die „gewisse wissenschaftliche ‚Adelung‘“ (S. 145) einer „Anrufung der produktiven und rassistisch homogenisierten Gemeinschaft“ (S. 145) vorgeworfen wird, die „im Zentrum rechter Antworten auf die soziale Frage“ (S. 145) stehe. Das sind starke Vorwürfe, die zumindest eine soziologisch präzise Unterscheidung zwischen traditional und posttraditional erfordern würden, zudem eine Klärung der Persistenz und Relevanz traditionaler Elemente in modernen Gesellschaften.

Die Autorinnen konzentrieren sich auf einen „bemerkenswerten Fehlschluss vieler links-alternativer Ansätze und Bewegungen, dass sie die freiheitsverbürgende und autonomiestiftende Funktion sozialer Institutionen und sozialer Rechte konstitutiv geringschätzen und die emanzipatorische Kraft oft ausschließlich und pauschal in Gegenbewegungen ‚von unten‘ verorten“ (S. 154–155). Sie argumentieren gegen eine harmonisierende und allzu positiv ausfallende Bewertung zivilgesellschaftlicher Beiträge zur Sozialpolitik und zum System sozialer Dienstleistungen, aber auch in rein privatwirtschaftlich verfassten Sektoren.

Was ist aus Sicht der Autorinnen überhaupt noch ein legitimes freiwilliges Engagement? Sie geben eine auf den ersten Blick sehr klare Antwort: „Nur in der zusätzlichen Ergänzung zu einer bedarfsgerecht ausgebauten professionellen Versorgungsstruktur können freiwillige Laientätigkeiten ihre Potenziale und ihren vielgelobten Eigensinn auch entfalten.“ (S. 97) Das gelte auch, weil Freiwilligkeit strukturell labil und unzuverlässig sei (S. 98). Es sei schließlich Bedingung von Freiwilligkeit, jederzeit unterbrechen oder aufhören zu können: „Gerade verbindliche, langfristige, konsequent an den Bedarfen der Hilfebedürftigen ausgerichtete professionelle Unterstützung können – und wollen – die meisten Freiwilligen (oft zu Recht) nicht leisten.“ (S. 99) Mehrfach wird betont, dass es dem Buch nicht um eine grundlegende Problematisierung von Freiwilligenarbeit geht, sondern um die Aufklärung über die Bedingungen, in die sie sich fügt. Allerdings bleiben nicht mehr viele Bereiche der Gemeinschaftsarbeit übrig, die dem kritischen Blick der Autorinnen standhalten: „die ehrenamtliche Pilzsprechstunde [...], der von Freiwilligen organisierte Töpferabend im Mehrgenerationenhaus oder der Wünschewagen, der auf ehrenamtlicher Basis todkranken Menschen einen letzten Wunsch erfüllt.“ (S. 95) Das ist sehr wenig und sehr klein.

Was ist Gemeinschaft in der Gesellschaft?

Über normative Orientierungen soziologischer Analysen mag man streiten, man gerät in das Feld von Meinungen, die wissenschaftlich nur als Empirie interessant sind. Wissenschaftlich ergiebig und diskutabel sind Theorien. Das Buch von van Dyk und Haubner diskutiert im soziologischen Theoriekapitel 3 die „lange Diskursgeschichte der Gemeinschaft“ (S. 29) – man beachte das „der“ – „als Antipoden der modernen kapitalistischen Gesellschaft“ (S. 29–30). Die Autorinnen ziehen neben Tönnies und Durkheim, allerdings ohne dessen Kritik an Tönnies, auch die Kontroverse um Liberalismus und Kommunitarismus heran. Doch ihr Gemeinschaftsbegriff bleibt durchgängig konkretistisch, einer sehr reduktionistischen Tönnies-Rezeption verhaftet. Sie denken Gemeinschaft konkret und weder handlungs- noch systemtheoretisch. Neben Durkheim gewann Talcott Parsons seine soziologische Handlungs-Systemtheorie in Abarbeitung an Tönnies, sein erst posthum veröffentlichtes Buch American Society. A Theory of the Societal Community (Parsons, 2007) wird nicht erwähnt. Kommunitarismus-Positionen, die sich auf diese systemische, gesellschaftstheoretische Perspektive beziehen (Opielka, 2019), werden außer einer kurzen Bemerkung zu Honneth nicht rezipiert. Schließlich kommt auch die breite Diskussion zu gesellschaftlicher Sozialintegration nicht vor (Grunow et al., 2022). Dem System Kapitalismus steht damit ein Konkretum Gemeinschaft gegenüber, das im Begriff Community-Kapitalismus amalgamiert wird. Aus politikwissenschaftlicher Sicht hat sich Frank Nullmeier über dieses Amalgam gewundert (Nullmeier, 2022). Aus soziologischer Sicht bedauern wir es.

Literatur

Cameron, A., Johnson, E. K., Lloyd, L. Willis, P. & Smith, R. (2021). The contribution of volunteers in social care services for older people. Voluntary Sector Review, 2, 260–277.10.1332/204080521X16244744548937Search in Google Scholar

Grunow, D., Sachweh, P., Schimank, U. & Traunmüller, R. (2022). Gesellschaftliche Sozialintegration. Konzeptionelle Grundlagen und offene Fragen. FGZ Working Paper Nr. 2; Leipzig: Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt.Search in Google Scholar

Nullmeier, F. (2022, 25. August). „Verzivilgesellschaftung“ der sozialen Frage? Sozialpolitikblog. https://difis.org/blog/?blog=21.Search in Google Scholar

Opielka, M. (2019). Gesellschaftliche Gemeinschaft bei Talcott Parsons und Hegel. In W. Reese-Schäfer (Hrsg.), Handbuch Kommunitarismus (S. 101–119). Springer.10.1007/978-3-658-16859-9_5Search in Google Scholar

Parsons, T. (2007). American Society. A Theory of the Societal Community. Paradigm Publishers.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-04-12
Erschienen im Druck: 2023-05-31

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 10.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2002/html
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