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Jan Sparsam, Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaft auf Wirtschaftspolitik und Ökonomie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 266 S., kt., 64,99 €

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Published/Copyright: April 12, 2023
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Jan Sparsam, Der Einfluss der Wirtschaftswissenschaft auf Wirtschaftspolitik und Ökonomie. Wiesbaden: Springer VS 2022, 266 S., kt., 64,99 €


Die Wirtschaftswissenschaften bilden ein breit aufgestelltes Feld der wissenschaftlichen Wissensproduktion, das sich entlang unterschiedlicher subdisziplinärer Diskurse (etwa economics, finance, managment, marketing etc.) und gesellschaftlich-akademischer Relevanzsysteme (Universität, Politik, Administration, Unternehmen, Medien) entfaltet. Die Erforschung der Produktion und Distribution wirtschaftswissenschaftlichen Wissens wurde in den letzten Jahrzehnten zunehmend in internationalen und interdisziplinären Arbeitszusammenhängen organisiert und spiegelt sich in zahlreichen Publikationen wider. Grob zusammengefasst können drei Stränge unterschieden werden: Auf der einen Seite wird etwa erforscht, wie Wirtschaftsexpert:innen in Massenmedien, Beratungskontexten und anderen institutionellen Settings argumentieren, als „Expert:innenen“ diskursiv inszeniert werden und kommunikative Deutungspositionen aufbauen. Auf der anderen Seite werden professionelle Netzwerkstrukturen, Feldkonstellationen, Machtbeziehungen, Karriereverlaufsstrukturen und andere strukturelle Bedingungen an der Schnittstelle von Universität, Politik, Medien und Wirtschaft mit diversen methodischen Designs analysiert. Ein dritter Forschungsstrang geht demgegenüber der Frage nach, wie diverse Typen wirtschaftswissenschaftlichen Fachwissens (etwa makroökonomische Modelle, accounting-Wissen, Finanzmarktmodelle etc.) hegemonial werden (etwa die neoklassische Preistheorie, monetaristische Geldtheorie, Keynesianische Konjunkturtheorie etc.) und die Gesellschaft beeinflussen.

Der Band von Jan Sparsam schließt an diesem dritten Forschungsstrang an, indem der Autor bereits in der Einleitung (S. 2) unterstreicht, dass seine „Soziologie der Ökonomik“ sich auf „zwei Gegenstandsbereiche“ bezieht: „das wirtschaftswissenschaftliche Wissen oder genauer wirtschaftswissenschaftliche Wissenskulturen und Technologien.“ Darüber hinaus nimmt Sparsam eine weitere Engführung vor, indem er sich vor allem auf die „Verwendung“ wirtschaftswissenschaftlichen Wissens aus akademischen Kontexten in nicht-akademischen Kontexten (insbesondere der Wirtschaftspolitik) konzentriert. Entlang dieser doppelten Spezifizierung bzw. Engführung wird in den folgenden Kapiteln Sparsams „Soziologie der Ökonomik“ als „Verwendungsforschung“ entwickelt.

Der vorliegende Band ist die kumulative Habilitationsschrift des Autors. Er enthält eine 80-seitige Einleitung und ein etwa 20-seitiges Schlusskapitel. Beide Kapitel zusammen umreißen das Forschungsprogramm. Dazwischen sind sechs Einzelstudien publiziert, die Sparsam teilweise mit seinem Ko-Autor Hanno Pahl in den letzten Jahren in diversen Kontexten publiziert hat und die hier überwiegend wieder aufgelegt werden.

Der gedankliche Ausgangspunkt des Bandes, der sich wie ein roter Faden durch Einleitung und Einzelstudien zieht, ist eine kritische Auseinandersetzung mit Callons Performativitätsthese. Sparsam entwickelt eine Leseweise der Performativitätstheorie, die von einem „starken“ Begriff ausgeht. Demnach „formatiert“ wirtschaftswissenschaftliches Fachwissen die Gesellschaft (etwa Finanzmärkte, staatliche Konjunkturpolitik oder Geldpolitik) dann im Sinne der Performativität „stark“, wenn sich die akademischen konzeptuellen Wissensstrukturen (etwa von Modellen) in der nicht-akademischen Wirklichkeit eins-zu-eins wiederfinden. Von ebendieser Konzeptualisierung von „Performativität“ distanziert sich Sparsam und argumentiert für eine Übersetzungsperspektive, wonach akademisches Wissen nur dann in nicht-akademische Kontexte überführt werden kann, wenn Teile des akademischen Gehalts verloren gehen.

In der Einleitung lernt die Leser:in, wie sich ebendieses Feld einer Soziologie der Ökonomik unter der Bedingung einer doppelten Engführung auf konzeptuelle Wissensfragen und Sparsams Verwendungsperspektive entwickelt hat. Unterkapitel 1 diskutiert das Verhältnis zur Neuen Wirtschaftssoziologie und ordnet Sparsams Soziologie der Ökonomik in die Wissenschaftsforschung ein. Das anschließende Unterkapitel diskutiert das Verhältnis von (Wirtschafts-)Wissenschaft und Gesellschaft anhand disziplinärer Entwicklungen (Mirko- und Makroökonomik, mathematische Modelle) und gesellschaftlichen Evolutionsprozessen. Schließlich fasst ein Fazit die gesellschaftliche Relevanz ökonomischen Fachwissens zusammen. Forscher:innen, die sich primär für den Zusammenhang von akademischem ökonomischem Fachwissen und gesellschaftlichen Strukturbildungen interessieren, lesen dieses Kapitel, wie auch das Schlusskapitel, mit Gewinn.

Entlang der in der Einleitung entwickelten Linie präsentieren die dann folgenden Fallstudien Beispiele für Sparsams Verständnis von „Soziologie der Ökonomik als Verwendungsforschung“ und setzen sich weiter deutlich von Callon ab. In „The IS-L-Mization of the General Theory and the Construction of Hydrolic Governability in Postwar Keynesian Macroeconomics“ untersuchen Sparsam und Pahl den Einfluss der Keynesschen Makroökonomie auf die westdeutsche Wirtschaftspolitik der 1960er und 70er Jahre. Anhand von Doumenten- und Literaturstudien verweisen die Autoren auf die Übersetzungsprozesse, welche schlussendlich eine akademische Theorie in wirtschaftspolitischen Verwendungskontexten inhaltlich transformieren. Das anschließende Kapitel „Zur Soziologie der Wirtschaftswissenschaften“ kritisiert Marx Wissenschaftsverständnis, wonach nur den Technikwissenschaften ein materieller oder „performativer“ Charakter zugestanden wird, wohingegen die Wirtschaftswissenschaft auf ihre „Ideologiefunktion“ reduziert werde. Sparsam plädiert demgegenüber dafür, den materiellen Charakter der Wirtschaftswissenschaften als epistemisches Formierungssystem ernst zu nehmen. Kapitel 4 „Soziologie der Zentralbanken. Makroökonomisches Wissen und Geldpolitik“ setzt sich mit der wirtschaftswissenschaftlichen, polit-ökonomischen und performativitätstheoretischen Literatur zu Zentralbanken auseinander. Es präsentiert sowohl einen umfangreichen Literaturüberblick als auch das bekannte Argument, wonach makroökonomisches Wissen aus der akademischen Welt nicht ungefiltert in Regulierungs- und Steuerungsprozesse der Zentralbanken einfließt. Kapitel 5 „Wie ökonomisches Wissen wirksam wird. Von der Performativitäts- zur Verwendungsforschung“ präsentiert noch einmal kondensiert eine Auseinandersetzung mit Sparsams Leseweise von Callons Performativitätsthese. Kapitel 6 „Central Banking as Scenario Building: Knowledge Production in the Federal Open Market Commitee“ ist die wohl stärkste empirische Fallstudie. Zusammen mit Hanno Pahl nimmt Sparsam eine empirische Analyse von Dokumenten der Sitzungen der US-amerikanischen Notenbank „Fed“ vor. Anhand der mitgeschnittenen und nach einigen Jahren schließlich veröffentlichten Sitzungsdiskussionen des Federal Open Market Commitee zeichnen die Autoren nach, auf welcher Wissensgrundlage geldpolitische Entscheidungen zustande kamen. Die Analyse kommt zu dem Schluss, dass akademischen Modelle zwar eine Rolle spielten, aber auch hier zeigen die Autoren, dass akademisches Fachwissen nicht ungefiltert in Entscheidungsprozesse eindringt.

Innerhalb der interdisziplinären und internationalen Forschung zur Rolle der Wirtschaftswissenschaften in der und für die Gesellschaft repräsentiert die vorliegende Monographie einen wichtigen Spezialfall, indem andererseits die Rolle akademischen wirtschaftswissenschaftlichen Fachwissens für die Formierung nicht-akademischer gesellschaftlicher Strukturen am Beispiel der Wirtschaftspolitik untersucht wird. Hervorzuheben sind die beiden empirischen Fallstudien (Kapitel 2 und 6), welche die komplexen Übersetzungsprozesse zwischen heterogenen sozialen Diskursfeldern herausarbeiten. Legt man allerdings eine Gesamtperspektive auf das von Sparsam umrissene Forschungsfeld einer „Soziologie der Ökonomik“ zugrunde, dann werden Fragen aufgeworfen, welche die Grenzen einer durch doppelte Engführung konzipierten Forschungsperspektive aufzeigen. Jedes brauchbare und gut konzipierte Forschungsprogramm hat Grenzen, weshalb die folgenden Anmerkungen nicht als kritische Zurückweisung misszuverstehen sind. Vielmehr handelt es sich um Anregungen, die einem nach vorne gerichtetem Dialog sowie einer Weiterentwicklung der Forschung in diesem hochaktuellen Diskursfeld dienen können.

Beginnen wir mit Sparsams Performativitäsverständnis. Wie fast alle empirischen Studien aus der Performativitätsforschung zeigen, besteht gerade dann eine performative Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, wenn die „reine Übertragung“ des Wissens scheitert. Ebendieses Scheitern zwingt die jeweiligen gesellschaftlichen Diskursfelder dazu, kreativ zu werden und zahllose Reparationsleistungen zu vollbringen – und zwar weiterhin auf Grundlage wirtschaftswissenschaftlicher Wissenselemente! Performativitätsforschung zu leisten, bedeutet genau diese Prozesse des Scheiterns und der Reparatur nachzuzeichnen, wie wir dies beispielsweise in den zahlreichen Studien zur Rolle von Wirtschaftsexpert:innen in der Finanzkrise um 2009 herum sehen können. Ein weiterer kritischer Punkt betrifft die durch empirische Studien belegte Mehrdimensionalität von Performativitätsprozessen. Diese lassen sich eben nicht auf die epistemisch-konzeptuelle Ebene reduzieren, wie es Sparsam vorschlägt. Vielmehr werden auch nicht-paradigmatische Wissenselemente aus der Wirtschaftswissenschaft in die Gesellschaft übertragen, etwa Reputationskapital (z. B. Ansehen von sogenannten „Star-Ökonomen“ in den Medien), Sekundärkompetenzen (Kenntnisse in Statistik, Programmierung, Makroökonomie) oder Personal, das über einen wirtschaftswissenschaftlich geprägten Habitus verfügt. Ein dritter Punkt bezieht sich auf die spezielle Diskursfeldstruktur der Wirtschaftswissenschaften. Anders als etwa im Falle der Soziologie oder der Geschichtswissenschaft lässt sich die wirtschaftswissenschaftliche Wissensproduktion eben nicht einfach so in einen akademischen und nicht-akademischen Teil separieren. Vielmehr produzieren der akademische und der nicht-akademische Flügel wissenschaftliches Wissen, das durch deutungsoffene Felder miteinander vernetzt wird. Hier zirkulieren dann über Feldgrenzen hinweg Zeichen und Symbole, Personal und Kompetenzen und es bilden sich hybride Macht- und Diskursstrukturen heraus. Diese Aspekte haben insbesondere Feld-, Netzwerk- und Diskursanalysen herausgearbeitet. Forscher:innen, die sich vor diesem Hintergrund einen breiteren Überblick über ebendiese Feld-, Netzwerk- und Diskursperspektiven erarbeiten wollen, seien die Beiträge in den Bänden von Fredéric Lebaron und Christian Schmidt-Wellenburg (Lebaron & Schmidt-Wellenburg, 2019) sowie Jens Maesse, Stephan Pühringer, Thierry Rossier und Pierre Benz (Maesse et al., 2021) empfohlen. Beide Bände sind frei im Internet zugänglich und ergänzen Jan Sparsams wichtigen und lesenswerten Band.

Literatur

Lebaron, F., & Schmidt-Wellenburg (Hrsg.). (2019). Special Issue: Economists, Politics, and Society. New insights from mapping economic practices using field-analysis. Historical Social Research, 43(3).Search in Google Scholar

Maesse, J., Pühringer, S., Rossier, T., & Benz, P. (Hrsg.). (2021). Power and Influence of Economists: Contributions to the Social Studies of Economics. Routledge.10.4324/9780367817084Search in Google Scholar

Online erschienen: 2023-04-12
Erschienen im Druck: 2023-05-31

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 12.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2012/html
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