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Die Soziologisierung europäischer Ungleichheiten

Martin Heidenreich, Die doppelte Spaltung Europas: Territoriale und soziale Ungleichheiten als zentrale Herausforderungen der europäischen Integration. Wiesbaden: Springer VS 2022, 456 S., gb., 79,99 €
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Published/Copyright: April 12, 2023
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Martin Heidenreich, Die doppelte Spaltung Europas: Territoriale und soziale Ungleichheiten als zentrale Herausforderungen der europäischen Integration. Wiesbaden: Springer VS 2022, 456 S., gb., 79,99 €


Warum ist es auch im Jahr 2022 alles andere selbstverständlich, dass in einer 400 Seiten starken Monographie von transnationaler sozialer Ungleichheit in Europa gesprochen wird? Lange Zeit galten Nationalstaaten der Soziologie als natürliche Untersuchungseinheit und der Gesellschaftsvergleich als heimliche Königsdisziplin (Beck & Grande, 2004; u. v. a. m.). Diesen methodologischen Nationalismus zu kritisieren und damit zwangsläufig auch den Status quo zu überspitzen, um so das eigene Forschungsinteresse zu rechtfertigen, war ein beliebter, ja geradezu ritualisierter Ausgangspunkt vieler Transnationalisierungs- und Globalisierungsforscher:innen und seit den 1990er Jahren auch der Europasoziologie. Innerhalb der Europaforschung setzt sich dann auch die These der innereuropäischen Arbeitsteilung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten durch: Während die EU für die Regulierung des Binnenmarktes, den Abbau von Wettbewerbshindernissen und die Steuerung der Personenfreizügigkeit zuständig war, fiel nationalstaatlichen Institutionen weiterhin die Aufgabe der sozialen Integration und des sozialen Schutzes der Bürgerinnen und Bürger zu. Soziale Ungleichheit in Europa wurden somit stets vor dem Hintergrund dieser Schieflage als unschöne Nebenfolge wirtschaftlicher Integration und Geburtsfehlers der EU betrachtet, also durch die Brille eines nationalen Wohlfahrtsstaates in einem „Europa ohne Gesellschaft“ (Bach, 2008). Das verstellte der europäischen Ungleichheitsforschung den Blick auf soziale Ungleichheitsstrukturen, die sich im Rahmen eines langsam voranschreitenden Vergesellschaftungsprozesses herausbilden. In seinem vielbeachteten Buch Euroclash (2008) bescheinigte Fligstein der EU destruktive Zentrifugalkräfte im Inneren. Denn das Integrationsprojekt habe nicht nur eine neue ökonomische und politische Elite, die stark von dem entstandenen Binnenmarkt und den neuen transnationalen Interaktionen profitiert, hervorgebracht, sondern auch eine große Zahl an Personen, die nicht von den supranationalen Regelungen profitieren, den Integrationsbemühungen gleichgültig oder kritisch gegenüberstehen und sich eher an ihren nationalen Regierungen orientieren. Fligstein verglich diesen entstehenden Sozialraum Europa mit der Beschaffenheit eines Eisbergs, denn

[...] what goes on in Brussels is like the 10 percent above the waterline. But the really interesting story is the 90 percent that is harder to see, that is below the surface, and reflects how European citizens are interacting with one another in economic, social and political fields outside Brussels. (Fligstein, 2008, S. 9)

Diese unterhalb der Wasseroberfläche liegenden Strukturen, Akteurskonstellation und Interaktionen sichtbar zu machen, hat sich die Europasoziologie, die sich darin bspw. von der politik- oder wirtschaftswissenschaftlichen Integrationsforschung unterscheidet, zur Aufgabe gemacht und sie stehen auch im Zentrum von Heidenreichs Buch. Das Buch zeichnet besonders aus, dass es Heidenreich nicht darum geht, eine Geschichte von Gewinner:innen und Verlierer:innen zu erzählen, sondern den zweifelsohne entstandenen europäischen Sozialraum in seinen deutlich tiefschichtigeren gesellschaftlichen Qualitäten ernst zu nehmen und die „neue[n], europabezogene[n] Bedingungsfaktoren und Dynamiken sozialer Ungleichheit“ (S. 30) in diesem Raum zu untersuchen. Heidenreich leistet damit einen wichtigen Beitrag zur Soziologisierung europaweiter sozialer Ungleichheiten.

Das europäische Ungleichheitsregime als doppelt gespaltenes Europa

Die doppelte Spaltung Europas wurde von einem Autor vorgelegt, der zumindest in der deutschen Soziologie getrost als einer der größten Experten der transnationalen Ungleichheitsforschung im EU-Kontext bezeichnet werden kann. Martin Heidenreich war nicht nur einer der ersten Sozialwissenschaftler, der sich intensiv mit europäischen Ungleichheitsverhältnissen in der Tradition der großen Strukturtheorien des 20. Jahrhunderts beschäftigte. Heidenreich betrachtete die Frage der Entwicklung europäischer Ungleichheitsdynamiken auch aus unterschiedlichen Perspektiven wie seine arbeitsmarktsoziologischen, beschäftigungs- und sozialpolitischen, ungleichheitstheoretischen oder mikrosoziologischen Arbeiten zeigen.

Heidenreich konzipiert die Europäisierung sozialer Ungleichheit als zweifache Europäisierung von Ungleichheitsdynamiken, die er als „doppelte Dualisierung“ (Heidenreich, 2016) bezeichnet, nämlich die sozialen Ungleichheiten im Inneren der Mitgliedstaaten auf der einen und das territoriale soziale Gefälle innerhalb der EU, also zwischen den Mitgliedstaaten, auf der anderen Seite. Die These knüpft an die langjährige Beobachtung an, dass sich binnenstaatliche Einkommensungleichheiten im Zuge von Globalisierungsprozessen und der Binnenmarktetablierung seit den 1980er Jahren zugenommen haben, während soziale Ungleichheiten zwischen EU-Staaten langsam abgenommen haben (Heidenreich, 2006; Büttner & Münch, 2006). Ursächlich für die Europäisierung sozialer Ungleichheit seien demzufolge transnationale Entwicklungsdynamiken, die von europäischen Integrationsprozessen ausgelöst wurden und in der Folge über „die Verteilung knapper und begehrter Güter und Positionen“ (S. 24) und damit individuelle Lebenschancen mitbestimmten.

Einer der großen Vorzüge des Buches besteht darin, dass Heidenreich sich bei seiner Analyse der Ungleichheitsmuster nicht auf Lohn- bzw. Einkommensungleichheiten beschränkt, sondern die nationalen Beschäftigungsordnungen, Systeme sozialer Sicherung und Bildungssysteme mit einbezieht. Auch wenn die Vielzahl der betrachteten Länder keine tiefergehenden Institutionenanalysen oder -vergleiche zulassen, bemüht sich Heidenreich stets um eine multifaktorielle Untersuchung. So wird bspw. der institutionelle Einfluss auf Bildungsarmut nicht nur über die Höhe der Bildungsausgaben, sondern auch über den Anteil wissensbasierter Dienstleistungen in einem Land bzw. einer Region gemessen (Abschnitt 9.4.). Heidenreichs umfangreiche Analysen stellen einen der bisher vollständigsten Versuche dar, die in Europa und der EU vorherrschenden Ungleichheitsstrukturen zu vermessen. Durch sie entsteht ein umfassendes, sich Kapitel für Kapitel zusammensetzendes Bild des europäischen „Ungleichheitsregimes“ (Piketty, 2020).

Ausgehend von der Lektüre kann das europäische Ungleichheitsregime als ein supranational gerahmtes, regionalisiertes Regime transnationaler Ungleichheitsbeziehungen mit starken nationalen Zentrifugalkräften beschrieben werden. In einem solchen Mehrebenensystem bleibt es nicht aus, dass bestehende Ungleichheiten mittels des Verweises auf mitgliedstaatliche Unterschiede relativiert werden oder – im umgekehrten Fall – dass nationalstaatliche Akteure angesichts binnenstaatlicher Schieflagen auf den Einfluss der EU verweisen. So entsteht ein sich dynamisch stabilisierendes System der wechselseitigen Schuldzuweisungen, das soziale Ungleichheiten indirekt legitimiert. Für Heidenreich zeigt sich „ein klares Muster“ der unveränderten territorialen Spaltung Europas in „Nord- und Kontinentaleuropa einerseits und Süd-, Mittel- und Osteuropa andererseits“ (S. 396), die in den letzten Jahren unter dem Eindruck der Finanzkrise und der Austeritätspolitik insbesondere zwischen Nord- und Südeuropa zuletzt wieder zugenommen habe. Während sich in Mittel- und Osteuropa Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen konzentrieren (Kapitel 8), ist in Südeuropa der Anteil prekärer oder gering entlohnter Beschäftigung gestiegen und die Bildungsarmut am höchsten (Abschnitte 9.4. und 9.5). Aufgrund der aktuellen Preissteigerung und den von Land zu Land variierenden Krisenbewältigungsressourcen ist auch zukünftig nicht zu erwarten, dass sich diese regionalen Unterschiede auswachsen. Auch wenn Heidenreich von griffigen Parolen wie dem „beginning of the end of equality in Europe“ (Beckfield, 2019, S. 211) absieht und vorerst keine neue Erzählung manifestiert, zeugen die Ergebnisse davon, dass die Konvergenzbewegung der EU-Staaten untereinander, die maßgeblich auf einen wirtschaftlichen Aufholprozess der seit 2010 beigetretenen ost- und südosteuropäischen Ländern zurückzuführen war, vorerst zum Erliegen gekommen ist. Die Ergebnisse legen nahe, dass mittelfristig insbesondere die Integration der südeuropäischen Mitgliedstaaten gescheitert ist.

Es ist vor allem der zweite Aspekt des Doppelmusters Zunahme binnenstaatlicher bei Abnahme zwischenstaatlicher sozialer Ungleichheit, der hoffen lässt. Die ausgewerteten Daten umfassen den Zeitraum zwischen 2007 und 2018 und lenken dadurch den Fokus auf die Frage, wie sich Armut, Beschäftigungs-, und Einkommensungleichheit seit der Finanzkrise entwickelt haben. Eines der wichtigsten und über bisherige Untersuchungen hinausgehende Ergebnisse ist, dass sich die Ungleichheitsverhältnisse während der letzten zehn Jahre erneut verändert haben und wir möglicherweise Zeug:innen einer neuerlichen Kehrtwende sind. Die Ergebnisse knüpfen da an, wo zuletzt Beckfields Untersuchungszeitraum endete und bestätigen die jüngsten Analysen von Milanovic (2022), der erstmals seit den 1980er Jahren von einer leichten Schließung der weltweiten sozialen Schere sprach. Seit der Finanzkrise profitierten lediglich die unteren drei Dezile von dem paneuropäischen Lohnanstieg; „in der oberen Hälfte der Verdienste stagnierten die Löhne sogar noch ein Jahrzehnt nach dem Beginn der Finanzmarkt- und Eurokrise“, so Heidenreich (S. 164). Trotz der guten Nachricht scheint mir frühzeitige Euphorie fehl am Platz, denn wie nachhaltig dieser Trend ist, ist freilich fraglich, ist er doch nur bedingt auf institutionellen Wandel zurückzuführen. Noch verhaltener muss das Fazit in Bezug auf finanzielle Armut ausfallen. Nach einem EU-weiten Anstieg nach der Finanzkrise sinkt dauerhafte Armut in zahlreichen Ländern seit 2015/16 ganz leicht oder stabilisiert sich auf hohem Niveau (S. 288).

Als weiterer Pluspunkt ist hervorzuheben, dass Heidenreich die Kritik am methodologischen Nationalismus fruchtbar wendet und gewinnbringend einsetzt, indem er ländervergleichende Daten stets mit EU-weiten (bzw. europaweiten, wenn zudem Norwegen und die Schweiz betrachtet werden) Analysen kombiniert. Mal verwendet er Regionaldaten, mal Individualdaten. Dadurch wird der Mehrwert unterschiedlicher Analyse- und Vergleichsebenen und des keineswegs rein technischen Unterschiedes zwischen binnenstaatlichen bzw. zwischenstaatlichen Ungleichheiten einerseits und gesamteuropäischen sozialen Ungleichheiten andererseits verdeutlicht. So entsteht ein multiperspektivisches Panorama aus international vergleichenden, transnationalen und pan-europäischen Perspektiven. Gerade aufgrund dieser methodologischen Stärke und weil das Buch als eine Zusammenschau aus Heidenreichs vielfältigen Vorarbeiten zu lesen ist, ist es schade, dass der Autor die Gelegenheit nicht genutzt hat, grundlegende methodische Überlegungen zu einer Soziologie der europäischen Ungleichheit anzuschließen. Und zwar nicht im Ton einer rechtfertigend-anklagenden Europasoziologie, wie sie vor zehn bis zwanzig Jahren gängig waren, die stets mit der Kritik an dem notorischen methodologischen Nationalismus der Soziologie beginnen musste, sondern in dem neu gewonnen selbstbewusst-konstruktiven Ton einer Soziologie der europäischen Integration, der in diesem Buch angeschlagen wird.

Anders als oft befürchtet worden ist, hat der Nationalstaat jedoch nicht an Bedeutung verloren. Dass sich dessen Aufgaben, Selbstverständnis und Handlungsspielräume im Kontext globalen Wirtschaftens und Kommunizierens und des europäischen Marktes und Rechtsraums lediglich verschoben haben, macht die Studie mehr als deutlich, auch wenn das ganz sicher nicht zu ihren Hauptabsichten zählt. Auch wenn die EU für Heidenreichein transnationaler Verdichtungsraum in weltweiten Wertschöpfungs- und Regulierungsprozessen, der durch kommunikative Verdichtungen, ein hohes Maß wirtschaftlicher Integration und durch einheitliche rechtliche Rahmenbedingungen gekennzeichnet ist“ (S. 22, Hervorhebung im Original), ist, verdeutlichen die einzelnen Kapitel, dass die europäischen Ungleichheitsstrukturen zu einem beträchtlichen Teil nach wie vor durch nationalstaatliche Politiken und Institutionen geprägt sind. Das mehr oder weniger erfolgreiche Zusammenwachsen der europäischen Staaten findet also keineswegs in einem „postnationalen Raum“ (Vobruba, 2012) statt, sondern in einem europäischen Sozial- und Rechtsraum, in dem nationalstaatliche Beschäftigungsordnungen, Systeme sozialer Sicherung und Bildungssysteme die europäischen Dynamiken sozialer Ungleichheit prägen und einer überwiegend auf nationale Arbeitsmärkte ausgerichtete Arbeiter:innenschaft als Orientierungspunkte dienen. So mag zwar die Frage, welche Produkte in unseren Supermarktregalen stehen und welche Personen diese bestücken dürfen, nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten fallen, über die Lebenschancen und -qualität der Einzelnen entscheiden dagegen weiterhin maßgeblich nationalstaatliche Institutionen. So ist es mehr als erstaunlich, dass in einem wirtschaftlich integrierten Europa nicht nur die Bildungsbiographien und Exklusionserfahrungen, sondern zudem nach wie vor auch die arbeitsmarkt- und lohnbezogenen Ungleichheiten überwiegend von nationalstaatlichen Institutionenarrangements und Steuerungsleistungen bestimmt werden, auch wenn hier stets mitberücksichtigt werden muss, dass die nationalen Arbeitsmärkte und Beschäftigungsordnungen immer auch supranational beeinflusst sind.

Von sozialer Ungleichheit in einem transnationalen europäischen Kontext zu sprechen ist daher sehr voraussetzungsvoll. Heidenreich hat das klug gelöst, indem er „einen gemeinsamen sozialen Kontext und entsprechende Gleichheitsnormen“ als Voraussetzung dafür betrachtet. Denn „solange es keine allgemein anerkannten transnationalen Normen von Gleichheit und Ungleichheit gibt, kann nicht von zwischenstaatlicher Ungleichheit die Rede sein, sondern nur von Disparitäten“ (S. 20). Einen solchen sozialen Kontext bildet der transnationale europäische Sozialraum, der „durch engere Interdependenzen, aber auch durch soziale Konflikte“ (S. 412) gekennzeichnet ist. Dass die wechselseitigen Interdependenzen jedoch vor allem den oberen Teil des Eisberges EU ausmachen, ist Teil der europäischen Ungleichheitserzählung, die im Buch jedoch nicht aufgegriffen wird. So sieht Heidenreich zwar seine These der Europäisierung sozialer Ungleichheiten bestätigt und betont, wie sehr individuelle Lebenschancen, soziale Identitäten sowie die Interessen und Bezugsgrößen von Individuen und sozialen Gruppen zunehmend durch Brüsseler, Luxemburger und Straßburger Beschlüsse und Urteile europäisiert werden – und zwar auch jene der weniger mobilen Europäer:innen, das ist an dieser Stelle wichtig. Eine Schwäche des Buches liegt jedoch darin, dass die den EU-Programmen und politischen Maßnahmen impliziten Gleichheitsnormen und Leitbilder nur stichwortartig aufgezählt werden. So bleibt Heidenreich die Antwort auf die Frage, auf welchen institutionellen Grundlagen der ökonomische und politische Prozess der europäischen Einigung bislang beruhte, leider schuldig. Auch wenn die EU-weit gültigen Normen dem Autor selbstverständlich scheinen, wäre eine kurze Erwähnung mit Bezug auf die einschlägige Fachliteratur m. E. dringend notwendig gewesen, um die Darstellung zu vervollständigen, insbesondere da eine zentrale Forschungskontroverse darin besteht, ob die Entwicklung des ‚sozialen Europas‘ zu der Marktorientierung der EU, der das Wohlstandsversprechen der EU lange Zeit als beste Sozialpolitik galt, mittlerweile ein Gegengewicht bildet. Gerade mit Blick auf die jüngeren Entwicklungen wie die Verabschiedung der Mindestlohnrichtlinie, die stückweise Implementierung der Europäischen Säule Sozialer Rechte oder die sozialen Implikationen des europäischen Aufbauplans und den potentiell damit einhergehenden Weichenstellungen hätte das die Lektüre bereichert. Um Heidenreichs These endgültig zu bestätigen, wäre es daher überzeugend gewesen, neben Austerität weitere supranationale Bestimmungsfaktoren in die Analyse mit einzubeziehen, etwa regionale Förderquoten oder der Umfang der erhaltenen Fördermittel aus den Agrar- oder Strukturprogrammen der EU.

Sozialer Zusammenhalt in Europa

Heidenreich sieht den Zusammenhalt der europäischen Gesellschaft im Wesentlichen von zwei sozialen Herausforderungen bedroht, den Ausgrenzungserfahrungen mit oder ohne Beschäftigung auf der einen und geringe Bildungsniveaus v. a. im Süden des Kontinents auf der anderen Seite, welche auf erhebliche Unterschiede bei den Forschungs- und Innovationsbemühungen zurückzuführen sind. Zugleich zeugen diese wirtschaftlichen Unterschiede von einer innereuropäischen Arbeitsteilung, die in dem Buch immer wieder betont wird und auf der der Binnenmarkt der EU gewissermaßen basiert. Während sich in Nord- und Westeuropa die „wissenschaftliche[n], technologische[n] und unternehmerische[n] Kompetenzen“ (S. 80) der EU konzentrieren, haben sich die mittel- und osteuropäischen Länder auf industrielle Tätigkeiten und die südeuropäischen Staaten auf personenbezogene Dienstleistungen spezialisiert (S. 79). Hierin liegt ein theoretischer Widerspruch, den Heidenreich bis zum Schluss nicht auflösen konnte. Geht man von dem etablierten Integrationsmuster der europäischen Arbeitsteilung aus (Büttner & Münch, 2006), stellen sich andere Integrationsherausforderungen als ihn die Vorstellung eines sozialen Zusammenhalts, der auf immer größerer Ähnlichkeit beruht, impliziert. Die Frage ist also, was genau den sozialen Zusammenhalt gefährdet und wann er sowie wodurch er erreicht wäre.

Heidenreich scheint davon auszugehen, dass sozialer Zusammenhalt für ein erfolgreiches Projekt ‚Europa‘ notwendig ist. Heidenreichs Verständnis von sozialem Zusammenhalt kann nur indirekt abgeleitet werden und zwar als die Abwesenheit von allzu großen sozialen Ungleichheiten und damit als struktureller Begriff von Zusammenhalt. Soziologisch ist die Frage nach der Möglichkeit sozialen Zusammenhalts eines institutionell aufeinander verwiesenen Personenkreises keine uninteressante, aber eben auch keine neue Frage. Hier hätte Heidenreich seine zugrundeliegenden Annahmen diesbezüglich deutlicher machen können. Die von Heidenreich adressierten Vergesellschaftungsprozesse sind auf der Strukturebene verortet und stehen damit in der Tradition der Strukturtheorie Stein Rokkans. In dieser Tradition interessiert sich Heidenreich für „interne Strukturbildungsprozesse“ (S. 19), die ein langjähriger Prozess wie die europäische Integration zwangsläufig hervorbringt. Rokkans ursprünglich auf den Nationalstaat bezogene These der externen Grenzziehung und internen Strukturbildung wurde von Ferrera (2003) erstmals gewinnbringend auf europäische Integration ausgeweitet. Ferrera zufolge haben die innereuropäischen Interaktionsmuster und die neuen Institutionen auf europäischer Ebene neue Strukturen hervorgebracht. Angesichts des „Fehlen[s] stabiler Außengrenzen“ (S. 22) könne sich eine europäische Variante des Rokkanschen Musters jedoch allenfalls in abgeschwächter Form vollziehen, so dass auch „die Möglichkeiten zur Entwicklung europäischer Formen des sozialen Zusammenhalts“ (S. 22) begrenzt seien. Dass es neben der äußerlichen Manifestierung territorialer Staatsgrenzen andere Möglichkeiten der Grenzziehung wie bspw. symbolische Grenzziehung oder die Etablierung politischer Mitgliedschaftsgrenzen gibt, zieht Heidenreich nicht in Betracht. Das hat Konsequenzen für das Fazit. Heidenreich formuliert vier Schlussfolgerungen als Antwort auf die Frage, wie der soziale Zusammenhalt in Europa langfristig gewahrt bzw. gestärkt werden könne: Soziale Investitionen in Bildung und Weiterbildung, Anreize für nationale Reformprojekte, europaweite Innovations- und Forschungspolitiken sowie die Unterstützung neuer Formen interpersonaler Solidarität auf (trans)lokale Ebene (S. 415 ff.). Dass sich drei der vier Punkte weitestgehend im Rahmen der bisher verfolgten und längst nicht immer erfolgreichen sozial- und wirtschaftspolitischen Strategien der EU bewegen, ist bedauernswert und überrascht angesichts der Fülle an Daten und Erkenntnisse, die das Buch bereithält.

Literatur

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Online erschienen: 2023-04-12
Erschienen im Druck: 2023-05-31

© 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 14.9.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/srsr-2023-2011/html
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