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Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €

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Published/Copyright: May 17, 2022
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Stefan Holubek-Schaum, Lebensführung unter Spannung. Die junge Mittelschicht auf der Suche nach Orientierung. Frankfurt / New York: Campus Verlag, 2021, 373 S., kt., 39,95 €


Bedauerlicherweise ist der Regalabschnitt mit der Forschungsliteratur zu jungen Erwachsenen derzeit nicht nur etwas spärlich bestückt, sondern auch in den meisten Fällen nicht besonders aktuell. Umso mehr erfreut man sich über gewinnbringenden Zuwachs von überraschender – weil nicht aus den üblichen Kontexten der Forschung zu jungen Erwachsenen stammender – Seite, wie sie jetzt in Form der Studie „Lebensführung unter Spannung“ von Stefan Holubek-Schaum vorliegt. Entstanden ist sie als Promotionsarbeit an der Universität Bremen im Kontext des von der DFG geförderten Projektes „Lebensführung als investive Statusarbeit – Praktiken, Bedingungen, Störungen“. Im Mittelpunkt dieses Projektes stehen Formen der Lebensführung der Mittelschichten in Deutschland. Holubek-Schaum interessiert sich dabei vor allem für die Altersgruppe der in den 1970er, Anfang der 1980er Jahre Geborenen, die zum Zeitpunkt der Erhebungen in den Jahren 2016–2019 um die 40 Jahre alt waren.

Im Kern verfolgt die Studie zwei Fragestellungen: Zum einen geht sie der Frage nach, „welche berufsbiographischen Orientierungen die Lebensführungen von Mittelschichtangehörigen in der frühen Erwerbsphase anleiten. Zum anderen gilt ein gesondertes Interesse der Frage, wie sich berufsbiographische Orientierungen als strukturierende Prinzipien der Lebensführungen in Auseinandersetzung mit institutionalisierten Rahmenbedingungen überhaupt erst herausbilden“ (95). Weil vor allem mit der zweiten Akzentsetzung der Blick unvermeidlich auch auf das spätere Jugend- und junge Erwachsenenalter und seine Übergangsprozesse gelenkt wird, handelt es sich nicht nur um einen lesenswerten Beitrag zur Empirie der Mittelschichten, sondern vor allem auch zum jungen Erwachsenenalter und der Herausbildung berufsbiografischer Orientierungen bei einer Bevölkerungsgruppe, die im deutschsprachigen Raum – mit Ausnahme verstreuter familienpolitischer Aufmerksamkeiten (vgl. Deutscher Bundestag 2006: 33 ff.) – sonst eher einen weißen Fleck auf der Forschungslandschaft markiert.

Die Beantwortung der beiden erwähnten leitenden Fragestellung ist sowohl konzeptionell als methodologisch voraussetzungsvoll. Dementsprechend dient rund ein Drittel des Buches (Kap. 1 bis 3, S. 22–113) der Entfaltung und konzeptionellen Fundierung bzw. Begründung der Fragestellung und der Darstellung des methodischen Vorgehens sowie der Stichprobe. Dabei werden zunächst im Kapitel 1 die einschlägigen Forschungs- und Diskussionsstände knapp und kundig referiert. Im Kapitel 2 erfolgt die Klärung der heuristischen Begriffe der Analyse. Dabei wird dafür „plädiert, den Zugang zu Mittelschichten nicht (nur) über Ressourcenausstattungen oder Einstellungen zu suchen, sondern über eine biografisch informierte und ungleichheitstheoretisch sensibilisierte Lebensführungsforschung, die danach fragt, wie sozialstrukturell konkret verortete Personen ihr Leben in Auseinandersetzung mit unhintergehbaren institutionellen Kontextbedingungen sinnhaft führen“ (64). Um Lebensführungen empirisch untersuchen zu können, rekurriert der Autor auf Prämissen der praxeologischen Wissenssoziologie, indem er berufsbiografische Orientierungen als handlungsleitend für Lebensführungen begreift (64 ff.).

Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, die empirische Analyse rekonstruktiv anzulegen. Das Material besteht aus biografisch-narrativen Interviews im Sinne von F. Schütze, die orientiert an der Methodologie der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Empirisch basiert die Studie auf 15 Fallanalysen (105 ff.).

Die Darstellung der empirischen Ergebnisse beginnt mit dem Zwischenkapitel 4, in dem auf wenigen Seiten ein Fall im Sinne eines „Problemaufrisses“ vorgestellt wird (114–119). Im Kapitel 5 erfolgt ein Perspektivwechsel vom Einzelfall zur anspruchsvollen Typologie. Das Kapitel präsentiert ein vierstufiges Phasenmodell berufsbiografischer Orientierungen als Resultat kontrastiver Fallvergleiche und darauf aufbauender Typologisierungen. Strukturiert ist das Kapitel entlang der vier Phasen des „biographischen Suchens“ (122 ff.), der Initiierung (137 ff.), der „Bewährung“ (150 ff.) und der „Spezifizierung“ (Holubek-Schaum: 165 ff.), für die jeweils zwei Fälle beispielhaft vorgestellt werden. Einer Reihe kurzer Interviewpassagen dienen vorrangig dazu, die Thesen zu illustrieren.

Demgegenüber eher theoretisch orientiert ist das Kapitel 6. Nachdem die zuvor präsentierten Fallanalysen deutlich machten, dass die „berufsbiographischen Orientierungen in allen Interviews wichtige Stellenwerte einnehmen und eine zentrale, strukturierende Rolle für die Lebensführung spielen“ (183), wird in diesem Kapitel der Prozess der Orientierung in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Dabei wird wiederum Anschluss an die jüngere Praxeologiedebatte gesucht, sodass – wenig überraschend – „doing orientation“ (188) zur zentralen Kategorie avanciert. Dem Autor gelingt dabei eine eher seltene und überzeugende Balance zwischen dem hochabstrakten Theorem und seinen empirischen Fällen.

Während das Kapitel 5 eine empirische und das Kapitel 6 eine konzeptionelle Antwort auf die Frage lieferten, wie sich berufsbiografische Orientierungen ausbilden, lenkt das Kapitel 7 das Interesse auf die Frage, welche Orientierungen sich dabei beobachten lassen. Wiederum fällt die Antwort vergleichsweise abstrakt aus: Alle Fälle könnten als „eine Aushandlung zwischen einer Sicherheitsorientierung und einer Orientierung an Selbstentfaltung verstanden werden“ (198). Konkretisiert wird diese These, in dem zunächst drei Typen von Orientierungen aus dem empirischen Material herausdestilliert werden: „Abgesicherte Selbstentfaltung“ (202 ff.), „prekäre Selbstentfaltung“ (209 ff.) und „frühes Ringen um Sicherheit“ (216). Weil diese Orientierungen nicht als solche existieren, sondern als eingebettet in bestimmte Rahmenbedingungen verstanden werden müssen, wurde das Material auch unter den Perspektiven von „Class“, „Gender“ und „Race“ ausgewertet, um auf diese Weise drei zentrale Ungleichheitskategorien systematisch berücksichtigen zu können. Im Ergebnis wird deutlich, dass „berufsbiographische Unsicherheit sich nicht auf ökonomische Unsicherheit verengen lässt, sondern dass die Chance und die Form, in der die eigene Berufsbiographie als Arena der relativ abgesicherten Selbstentfaltung erfahren werden kann[,] von verschiedenen, sich teil überlagernden Faktoren bestimmt wird“ (243). Man darf dies als eine weitere Bestätigung für zentrale Prämissen der Intersektionalitätsforschung lesen.

Ein weiterer Schritt der Konkretisierung erfolgt im Kapitel 8 (244–300). Im Horizont des erwähnten Spannungsverhältnisses zwischen Sicherheit und Entfaltung werden drei, wiederum vergleichsweise abstrakte Typen von Orientierungen bzw. Lebensführungen vorgestellt: Orientierung „am sozioökonomischen Status“ (245 ff.), „an Gemeinschaft“ (269 ff.) und „an beruflichem Stolz“ (283 ff.). In der der Studie zugrunde liegenden Stichprobe ist der erste Typus mit sieben Fällen eindeutig am häufigsten vertreten, während dem Typus „Orientierung am beruflichen Stolz“ nur zwei Fälle zugeordnet wurden. Aus dem Vorwort von Bettina Hollstein und Uwe Schimank kann man entnehmen, dass diese drei Typen offenbar sich in anderen Kontexten wiederfinden. Der Rezensent gesteht allerdings, bis zum Schluss etwas ratlos geblieben zu sein angesichts der Frage, wie sich diese drei Typen von Lebensführung zu den im vorangehenden Kapitel vorgestellten drei Typen verhalten.

Das vergleichsweise kurze Kapitel 9 (301–312) widmet sich zunächst dem distinkten Charakter der zuvor beschriebenen Lebensführungen. In diesem Sinne würden die Daten indizieren, dass „gerade in frühen Lebensphasen [...] noch versucht wird, ein Nebeneinander unterschiedlicher Orientierungen zu praktizieren, die aber im Verlauf der Erwerbsphase als zunehmend konflikthaft erlebt werden, wodurch sich jeweils eine berufsbiographische Orientierung als die dominante herausschält“ (303). Interpretiert wird dies auch als Folge begrenzter Ressourcenausstattung, woraus sich frühzeitig auch Zwänge zum Verzicht ergeben würden. Zugleich wird in diesem Kapitel zumindest angedeutet, dass bei alledem auch Kohorteneffekte eine Rolle spielen könnten. Grundlage dafür ist ein sehr knapper kontrastierender Fallvergleich mit einem Fall aus der eigenen Stichprobe und einem weiteren Fall aus einem anderen, thematisch aber analog angelegten BMBF-Projekt.

Das abschließende Kapitel 10 (313–339) zielt darauf ab, die Ergebnisse zusammenzuführen und zu systematisieren. Der Schwerpunkt liegt dabei in der Kombination der vier Phasen mit den empirisch gewonnenen Orientierungstypen aus Kapitel 8. Betont wird an zahlreichen Beispielen, was der Autor als „Leben unter Spannung“ (339) bezeichnet. „Der Blick zurück auf die erste Lebenshälfte hat dabei gezeigt, dass diese Spannungen kein kurzfristiges Phänomen sind, sondern dass sie die Biographien der Mittelschichtsangehörigen prägen, die heute im mittleren Erwachsenenalter sind“ (ebd.). Daraus resultiere einerseits ein gemeinsamer Erfahrungsraum der Mittelschicht, andererseits führten unterschiedliche Ressourcenausstattungen zu „Mittelschichtsfraktionen“ (ebd.).

Wie mehrfach angedeutet, lässt sich die vorliegende Studie unter sehr unterschiedlichen Perspektiven mit großem Gewinn lesen – wobei eine Reihe von Anknüpfungspunkten, wie z. B. die Debatte um „emerging adulthood“, nur angerissen wird; die Studie bietet – trotz der bereits vorliegenden reichhaltigen Einsichten – also noch viele Möglichkeiten. Zugleich laden die Ergebnisse zu weiteren Vergleichen ein, vor allem mit Blick auf Altersgruppenvergleiche.

Unabhängig von allen inhaltlichen Zugängen erweist sich die Studie auch als ein Beleg dafür, wie empirisch und konzeptionell ertragreich geschickt gewählte rekonstruktiv angelegte Fallkontrastierungen – trotz überschaubarer Fallzahlen – sein können. Wenn man dann noch, wie Holubek-Schaum es versteht, Theoriedebatten elegant mit den eigenen rekonstruktiv gewonnenen Typologien zu verbinden, und nicht, wie so oft, auf halber Strecke bei der Beschreibung von Typen stehen bleibt, werden auch die theoretischen Potenziale – hier z. B. für die Mittelschichtforschung, für die Debatten um Lebensführung – dieser Art von Forschung sichtbar.

Literatur

Deutscher Bundestag (2006): Siebter Familienbericht. Familie zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit – Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. BT-Drucksache 16/1360. Berlin 20.04.2006. Verfügbar über: http://pdok.bundestag.de/; dort Seite 33 ff.Search in Google Scholar

Online erschienen: 2022-05-17
Erschienen im Druck: 2022-05-16

© 2022 Christian Lüders, publiziert von Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.

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