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Janka Oertel: Ende der China-Illusionen. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. München: Piper Verlag 2023, 301 Seiten

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Published/Copyright: September 7, 2024

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Janka Oertel: Ende der China-Illusionen. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. München: Piper Verlag 2023, 301 Seiten


Im Zusammenhang mit dem für Deutschlands politische Elite so überraschenden Überfall Russlands auf die Ukraine ist wiederholt die strategische Unbeholfenheit oder Blindheit der deutschen Politik (und auch der Medien) beschworen worden. Das vorliegende Buch der beim European Council for Foreign Policy (ECFP) in Berlin arbeitenden Sinologin und Politikwissenschaftlerin Janka Oertel lässt erkennen, dass die strategische Blindheit und Sorglosigkeit gegenüber der Herausforderung durch China möglicherweise ebenfalls ein gravierendes Problem darstellt – mit eventuell noch dramatischeren künftigen Folgen. Wissenschaft, so schreibt Oertel zu Beginn, sollte sich durch Besonnenheit und Neutralität auszeichnen. „Aber was macht die Wissenschaft, wenn sie sieht, dass die Politik im eigenen Forschungsfeld mit hoher Geschwindigkeit gegen eine Wand zu fahren droht?“ Damit verweist sie auf ein Problem, das der Rezensent nur allzu gut kennt.

Die Einleitung handelt kritisch vor allem die gängigen Parolen und Leerformeln ab, mit denen Politik, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft einander beruhigen, wenn es um die Einschätzung der Risiken und Möglichkeiten einer Kooperation mit China geht. Die Verfasserin beklagt die Bräsigkeit und Behäbigkeit der deutschen Debatte, die in zunehmendem Kontrast zu Größenordnung und Qualität der chinesischen Herausforderung stehe. Vor allem seit dem Amtsantritt Xi Jinpings als Präsident Chinas und Generalsekretär der Kommunistischen Partei (KPCh) habe sich qualitativ etwas verändert und es sei an der Zeit, sich mit diesem Wandel zu befassen.

Im ersten Kapitel betont die Autorin, dass eine Analyse der Politik Chinas nicht ohne eine realistische Einschätzung der Rolle der KPCh möglich ist. Diese ist laut Verfassung die einzige politische Kraft Chinas und immer noch marxistisch-leninistisch ausgerichtet. China, so Oertel, habe in den vergangenen 30 Jahren einen fundamentalen wirtschaftlichen Aufstieg und gesellschaftlichen Wandel vollzogen, was viele im Westen glauben ließ, das werde zum Übergang in die Marktwirtschaft und einer politischen Liberalisierung bis hin zur Einführung demokratischer Verhältnisse wie in Taiwan führen. Das sei jedoch keineswegs der Fall. Vielmehr versuche die KPCh alles, um ihr Machtmonopol beizubehalten und zu stärken – und zwar nach innen wie nach außen. Dies sei die Maxime vor allem seit dem Amtsantritt von Xi Jinping im Jahr 2012. Innenpolitisch stünden insbesondere die Wahrung der Parteidisziplin (gerade angesichts der grassierenden Korruption), das Unterbinden eventuell aufkommender neuer Machtzentren sowie die bestmögliche Kontrolle der Bevölkerung im Vordergrund. Konkret hieße dies: massive parteiinterne Säuberungsaktionen, Zerschlagung oder Einhegung großer Privatkonzerne und deren Führungspersonals sowie allumfassende Kontrolle der Bevölkerung unter Einsatz moderner digitaler Technologien und KI. Zur innenpolitischen Kontrolle gehöre die Fiktion eines Feindbilds, das seien der Westen und natürlich die USA. Doch je straffer die KPCh die Zügel anziehe, desto gravierendere Fehler begehe sie – was in Anbetracht ihrer langen Geschichte von massiven Fehlern nicht verwundere. Ein Beispiel sei die Einschränkung des Spielraums gerade jener privaten Konzerne, die technologisch die vielversprechendsten Ansätze entwickelt hätten. Und der katastrophale Umgang mit der Covid-Pandemie hätte unverkennbar gezeigt, zu welch kapitalen Fehlentscheidungen die KPCh in der Lage sei.

Das zweite Kapitel widmet sich der Wirtschaftspolitik Chinas und den Chancen und Risiken deutscher Unternehmen. Über zwei Jahrzehnte lang hätten deutsche Firmen fantastische Geschäfte mit China machen können, vor allem in den Bereichen Maschinenbau und Fahrzeugindustrie. Die Verfasserin erinnert daran, dass schon 2019 der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) warnte, für deutsche Firmen täten sich mehr und mehr Risiken auf. Diese verlören technologische Vorsprünge und würden von ihren bisherigen Partnern aus den globalen Märkten verdrängt. Auch habe der Beitritt Chinas zur Welthandelsorganisation WTO im Jahr 2001 nicht zu der erwarteten (und vertraglich vereinbarten) Öffnung chinesischer Märkte für ausländische Produkte geführt. Vielmehr betreibe China weiterhin eine Politik, die eine Vielzahl von Märkten abschotte und ausländische Exporteure und Investoren damit konfrontiere, in China zunehmend schlechte Bedingungen vorzufinden, sich gleichzeitig aber auf den internationalen Märkten gegen hochgradig subventionierte chinesische Unternehmen behaupten zu müssen. Ein Charakteristikum der Ära Xi Jinping sei Chinas systematisches Bestreben, sich selbst von internationalen Abhängigkeiten zu befreien und dafür andere Länder von sich abhängig zu machen. Nur so glaube man, Kontrolle und Einfluss über andere Akteure zu haben. Auch die Seidenstraßeninitiative, mittlerweile Global Development Initiative genannt, sei unter diesem Aspekt zu sehen. Sie sei nicht ohne Erfolg in Asien und Afrika gewesen, werde aber oft überschätzt. Vor allem in Europa habe sie wenig Zustimmung gefunden. Ebenfalls ein Ausdruck dieses Kontrollstrebens sei der Versuch, den Renminbi als internationale Ersatzwährung gegen den US-Dollar aufzubauen, was die Autorin für wenig aussichtsreich hält.

Ein weiteres Kapitel befasst sich mit den Versuchen Chinas, einen Keil zwischen Europa und den USA zu treiben. Ansatzpunkte hätte es vor allem in der Regierungszeit von Trump gegeben. Die USA hätten anfangs einen Great Deal mit China angestrebt und die Verhandlungen seien sehr weit vorangekommen, da auf beiden Seiten professionelle Unterhändler am Werk gewesen wären. Doch nachdem Xi Jinping den Vertrag abgelehnt hatte, hätten sich die Wirtschaftsbeziehungen rapide verschlechtert bis hin zur offenen Konkurrenz. Ebenso habe die Biden-Administration Schritte unternommen, um China von der technologischen Führerschaft in einer Reihe von Bereichen abzuhalten. Zur Zeit der Trump-Administration, so die Verfasserin, hätten sich der KPCh viele Möglichkeiten geboten, die Europäer gegen die USA auszuspielen. Aber die Covid-Pandemie und die harsche Wolfskrieger-Diplomatie Pekings hätten derlei Pläne durchkreuzt.

Das folgende Kapitel setzt sich mit Chinas militärischer Aufrüstung auseinander und gibt einen Überblick über das Wachstum seines Militärarsenals. China habe mittlerweile mehr Soldaten unter Waffen als jedes andere Land der Welt und verfüge über mehr Kriegsschiffe und Kampfflugzeuge als die USA. Die Volksbefreiungsarmee diene drei Zwecken: (1) der Sicherung der Herrschaft der KPCh im Innern, (2) der regionalen Machtausübung und (3) der weltweiten Präsenz. Besonders kritisch betrachtet Oertel Chinas Versuche, auf Kosten von Nachbarstaaten und unter Bruch des Völkerrechts Seegebiete zu vereinnahmen und Taiwan mit ständig zunehmenden militärischen Belästigungen zu bedrohen. Man solle die Rüstungsanstrengungen und das, was China mit seinen militärischen Instrumenten unternimmt, als das ansehen, was sie sind, nämlich „als das kontinuierliche Verschieben des Status quo, das Schaffen einer neuen Realität“ (S. 176). Europa müsse sich von der Illusion verabschieden, die chinesische Führung sei zu risikoscheu. Sie ist es nicht. Sie sei dabei, mit einer Salamitaktik ihre militärische Macht zur Vergrößerung des territorialen Kontrollbereichs einzusetzen. Außerdem bestehe eine enge militärische Zusammenarbeit mit Russland, was beider Risikobereitschaft erhöhe. Die Verfasserin wundert sich, dass Politiker und Politikerinnen in Europa sich nicht ernsthaft diesem Thema zuwenden. Es sei höchste Zeit, sich „mit China als Sicherheitsbedrohung für Europa und europäische Interessen auseinanderzusetzen“ (S. 177).

Ein weiteres Kapitel nimmt Chinas Rolle beim globalen Klimaschutz unter die Lupe. China ist heute der mit Abstand größte Emittent von Treibhausgasen. Erwartungen in Europa, China könne zu einem Partner in der Klimapolitik werden, hält die Verfasserin für unrealistisch. China gehe seinen eigenen Weg mit wenig Rücksicht auf die öffentliche Meinung oder NGOs. Andererseits sei sich die chinesische Führung sehr wohl der destabilisierenden Gefahren von Umweltverschmutzung und Klimawandel bewusst und betreibe mittlerweile energisch eine Strategie der Dekarbonisierung, bei der es die meisten europäischen Staaten schon überholt habe. Nirgendwo auf der Welt schreite die Installation erneuerbarer Energie so zügig voran wie in China und ab 2030 sei tatsächlich ein deutlicher Rückgang der Treibhausgasemissionen Chinas zu erwarten. Die Investitionen Chinas seien derweil für die hiesige Windenergie- und Solarindustrie eine Bedrohung, weil chinesische Anbieter aufgrund des Preisdumpings preisgünstiger und ihre Produkte oftmals besser sind als diejenigen europäischer Konkurrenten. Zudem habe China bei kritischen Materialien und Seltenen Erden sowie deren Verarbeitung eine Marktdominanz von geradezu monopolartigem Charakter. Man müsse daher China nicht beim Klimaschutz helfen, wie viele in Europa fordern, sondern sich vielmehr überlegen, wie man es vermeiden kann, überholt zu werden.

Die Bundesregierung geht davon aus, dass China ein „systemischer Rivale“ sei. Was darunter zu verstehen ist, beschreibt die Autorin im Kapitel über „Systemwettbewerb.“ China habe ein marxistisch-leninistisches Einparteiensystem, das mit autoritärer Vollkommenheit herrsche. „Die reine Existenz eines funktionierenden, machtvollen, liberalen Alternativmodells wird als Bedrohung der eigenen Herrschaftsgrundlage wahrgenommen“, so Oertel (S. 221). Daher rühre seine Feindschaft gegenüber dem Westen und die Freundschaft zu Putins Russland. Auf der internationalen Ebene habe China 2001 eine umfassende Liberalisierung seiner Märkte versprochen. Diese Zusage sei weitgehend nicht eingehalten worden, vielmehr habe Peking versucht, den Staatskapitalismus chinesischer Prägung zu stabilisieren und von den freien Märkten des Westens zu profitieren. Das habe ein System marxistisch-leninistischer Art hervorgebracht, das erfolgreicher und innovativer sei als erwartet und eine riesige Herausforderung für die internationale Wirtschaftsordnung darstelle. Darauf hätten sich die westlichen Staaten immer noch nicht angemessen eingestellt und viele Unternehmen wollten sich nicht eingestehen, welche Risiken sie mit ihren Investitionen in China eingingen. Die Systemrivalität drücke sich ebenso in der Forderung einer neuen internationalen Sicherheitsordnung aus, die China mithilfe Russlands umsetzen wolle. Das habe auch Folgen für Deutschland: „Die russische Invasion in die Ukraine illustriert in erschütternder Weise, wie sich Systemwettbewerb, Pekings Machtanspruch und die Sicherheitsinteressen der Kommunistischen Partei bereits jetzt direkt auf Sicherheit und Wohlstand in Deutschland und Europa auswirken und wie trotz allem noch die Illusion besteht, dass alles vielleicht doch noch besser werde“ (244).

Abschließend plädiert die Verfasserin für einen grundlegend neuen Ansatz der Politik gegenüber China. Sie attestiert der deutschen Politik angesichts der chinesischen Herausforderung ein angstvolles Ignorieren und Hoffen, dass es doch nicht so schlimm kommen werde. Das sei eine fatale Haltung. Man müsse die Ziele und Stärken Chinas sehr genau prüfen – und seine Schwächen. China sei ein totalitär geführtes Land, dessen kommunistische Partei viele Fehler begehe, die man sich zunutze machen könne. Man müsse auch die militärischen Bedrohungen erkennen und sich darauf einstellen. Nicht zuletzt müsse die Politik die Wirtschaft besser über die Gefahren des Geschäftemachens in China aufklären. Und die bestehende Abhängigkeit bei relevanten Produkten und Vorprodukten in einer Vielzahl von Bereichen müsse abgebaut oder vermieden werden. Diversifizierung und De-Risking seien aufwändig, aber alternativlos.

Janka Oertel ist bekannt dafür, dass sie die Dinge beim Namen nennt und sich nicht in theoriegeladenen Allgemeinformeln verliert. Das ist gut so und dieses Werk ein Beweis, dass dieser Ansatz sinnvoll ist. Dieses starke Buch findet hoffentlich viele Leser und Leserinnen – in der Politik, in den Medien und vielleicht auch im Vorstand der BASF, die gerade 11 Milliarden Euro in einem Land investiert, dessen politische Führung sich auf einen baldigen Krieg mit den USA vorbereitet, die die internationale liberale Handelsordnung umstrukturieren will und die im Ernstfall keinerlei Hemmungen zeigen wird, kommerzielle Investitionen aus verbündeten Staaten der USA zu enteignen.

Online erschienen: 2024-09-07
Erschienen im Druck: 2024-09-06

© 2024 bei den Autorinnen und Autoren, publiziert von De Gruyter.

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Articles in the same Issue

  1. Titelseiten
  2. Editorial
  3. Aufsätze
  4. Europäische Sicherheit angesichts eines abrupten oder graduellen Rückgangs amerikanischer Sicherheitsgarantien
  5. Kann sich Europa konventionell gegen eine militärische Bedrohung durch Russland behaupten?
  6. Der Gazakrieg und seine Folgen für den Nahen Osten
  7. Kurzanalysen
  8. Die Rolle von Kernwaffen in der europäischen Sicherheit – geht es auch ohne die USA?
  9. Kann Europa mittelfristig rüstungswirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen?
  10. Die Angriffe der Huthi-Rebellen auf Schiffe im Roten Meer und ihre Folgen
  11. Russland und die Türkei – Annäherung unter zwei Rivalen
  12. Ergebnisse internationaler strategischer Studien
  13. Lehren aus dem Ukraine Krieg
  14. Nick Reynolds: Heavy Armoured Forces in Future Combined Arms Warfare. London: RUSI December 2023
  15. Howard J. Shatz/Clint Reach: The Cost of the Ukraine War for Russia. Santa Monica, Cal.: RAND Corporation, Dezember 2023
  16. Militärkonkurrenz zwischen USA und China
  17. Seth G. Jones/Alexander Palmer: Rebuilding the Arsenal of Democracy – The U.S. and Chinese Defense Industrial Bases in an Era of Great Power Competition. Washington, D.C.: Center for Strategic and International Studies (CSIS), März 2024
  18. Mackenzie Eaglen: Keeping Up with the Pacing Threat: Unveiling the True Size of Beijing’s Military Spending. Washington, D.C.: American Enterprise Institute, April 2024
  19. Marek Jestrab: A maritime blockade of Taiwan by the People’s Republic of China: A strategy to defeat fear and coercion. Washington, D.C.: The Atlantic Council, Dezember 2023
  20. Grundsatzfragen amerikanischer Außenpolitik
  21. Michael J. Mazarr/Tim Sweijs/Daniel Tapia: The Sources of Renewed National Dynamism. Santa Monica, Cal.: The RAND Corporation, April 2024
  22. Thomas Carothers/Benjamin Feldman: Examining U.S. Relations With Authoritarian Countries. Washington, D.C.: The Carnegie Endowment, Dezember 2023
  23. Buchbesprechungen
  24. Andreas Fulda: Germany and China. How Entanglement Undermines Freedom, Prosperity and Security. London u. a.: Bloomsbury Academic 2024, 256 Seiten
  25. Janka Oertel: Ende der China-Illusionen. Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen. München: Piper Verlag 2023, 301 Seiten
  26. Susanne Weigelin-Schwiedrzik: China und die Neuordnung der Welt. Wien: Christian Brandstätter Verlag (Reihe „Auf dem Punkt“, herausgegeben von Hannes Androsch) 2023, 216 Seiten
  27. Jörg Himmelreich: Die deutsche Russlandillusion. Die Irrtümer unserer Russland-Politik und was daraus folgen sollte. Köln: Bastei Lübbe 2024, 352 Seiten
  28. Bildnachweise
Downloaded on 4.10.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/sirius-2024-3017/html
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