Zusammenfassung
Der Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 auf Israel hat den blutigsten Nahostkrieg seit der Gründung des Staates Israel 1948 entfacht. Die Eskalation der Gewalt ist eine Folge der neuen Konstellation, in der sich Iran aufgrund seiner Allianz mit Russland und China aus seiner Isolation befreit hat; zudem drückt Iran mit seinem Proxy-Netzwerk zunehmend dem Nahen Osten seinen Willen auf. Israel gerät als Folge seiner Kriegführung international in die Kritik. Seit April 2024 ist das Risiko eines regionalen Flächenbrandes gestiegen. Die arabische Welt sucht daher den Schutz eines US-Schilds, was die Normalisierung der Beziehungen zu Israel erleichtern könnte. Der Konflikt bietet damit auch Chancen, die Region zu befrieden.
Abstract
The Hamas attack on Israel on October 7, 2023 has sparked the bloodiest Middle East war since the state of Israel was founded in 1948. The escalation of violence is a consequence of the new constellation in which Iran has freed itself from its isolation due to its alliance with Russia and China; in addition, Iran is increasingly imposing its will on the Middle East with its proxy network. Israel is coming under international criticism as a result of its warfare. Since April 2024, the risk of a regional conflagration has increased. The Arab world is therefore seeking the protection of a US shield, which could facilitate the normalization of relations with Israel. The conflict also offers opportunities to pacify the region.
1 Einleitung
Seit die Hamas 2007 in Gaza die Macht übernommen hat, waren im Nahen Osten an keinem anderen Ort so viele Kriege ausgetragen worden wie in dem dicht besiedelten Gazastreifen. Der Krieg, den die Hamas am 7. Oktober 2023 mit der bestialischen Tötung von 1.139 Zivilisten und Soldaten sowie der Geiselnahme von 250 überwiegend israelischen Staatsbürgern ausgelöst hat, dauert länger und ist verheerender als jede andere kriegerische Auseinandersetzung seit der Gründung des Staates Israel 1948.
Dieser Beitrag zeigt die Veränderungen auf, die aus dem Überfall der Hamas auf Israel im Nahen Osten resultieren. Ausgehend vom Grundkonflikt zwischen der Islamischen Republik Iran und Israel werden die einzelnen Akteure, ihre Interessen und ihre Verbündeten analysiert. Erörtert wird, dass allein die Vereinigten Staaten über die Kapazitäten verfügen, eine Normalisierung zwischen Israel und der arabischen Welt einzuleiten und dabei Iran einzudämmen. Der Beitrag schließt mit Szenarien zur Zukunft des Gazastreifens, der Beilegung des Konflikts um Palästina und des Nahen Ostens.
Der brutale Angriff der Hamas ist eine Zäsur. Er hat die Vorstellung von der Unbesiegbarkeit Israels und von der Sicherheit des Landes erschüttert. Auf den Terror der Hamas reagierte Israel mit der „Operation Eiserne Schwerter“ (Operation Iron Swords). Die machte nach UN-Angaben mehr als 85 Prozent der 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens, der kleiner ist als das Bundesland Bremen, zu Binnenflüchtlingen.[1] In den ersten acht Monaten wurden mehr als 35.000 Menschen getötet und allein in den ersten drei Monaten 70 Prozent der Häuser beschädigt oder zerstört.
Der Krieg markiert für die Region einen gefährlichen Wendepunkt. So war die Gefahr eines Flächenbrands größer als je zuvor in den vergangenen Jahrzehnten: Der Krieg bedrohte den Welthandel; Iran demonstrierte, zu welcher Aggression es mit seinen Proxies in der Lage ist; die Achse der autoritären Staaten Russland, China und Iran setzte sich als Speerspitze des „antikolonialen globalen Südens“ in Szene; die USA verloren aufgrund der Unterstützung für Israel international an Glaubwürdigkeit; Israel geriet wegen der billigend in Kauf genommenen hohen Opferzahlen in die Kritik wie nie zuvor seit seiner Gründung 1948; zudem gefährdete der Krieg Israels Beziehungen zu Ägypten und Jordanien, mit denen es Frieden geschlossen hat.

Das Kibbutz Heeri nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober
Der Gazakrieg hat einen Prozess fortgesetzt, bei dem ein Konflikt säkularer Akteure zu einem Krieg mutiert ist, der mit religiös-eschatologischen Argumenten geführt wird. Der israelische Diplomat Elie Barnavi schreibt in seiner Autobiografie Confessions d’un bon à rien,[2] Israel habe alle Formen der Kriege Europas seit dem 17. Jahrhundert geführt, nur in umgekehrter Reihenfolge. In Europa hatten sich im Dreißigjährigen Krieg die Akteure zunächst aus religiösen Gründen bekämpft, nach dem Westfälischen Frieden waren es säkulare Staaten, die Kriege gegeneinander führten.
In Palästina hingegen seien zunächst Kriege zwischen Staaten geführt worden. Nach dem letzten zwischenstaatlichen Krieg von 1973 waren es immer noch säkulare Nationalbewegungen, die um dasselbe Land gekämpft hätten. Aus dem nationalen Konflikt sei in den vergangenen Jahren jedoch ein religiöser geworden. Sowohl die gewaltbereiten jüdischen Siedler, die in der Regierung von Benjamin Netanjahu stark vertreten sind, wie auch gewaltbereite islamistische Palästinenser beanspruchten mit Verweis auf ihre heiligen Schriften dasselbe Land. Dieser religiöse Anspruch verhindere politische Kompromisse, schreibt Barnavi.
Trotz seiner militärischen Überlegenheit ist Israel kein klarer Sieg mit einem symbolträchtigen Siegesfoto gelungen. Seine Armee hat die meisten der offenbar 24 Bataillone der Hamas, die jeweils etwa 1.000 Kämpfer umfasst haben, zerstört. Israel hat aber seine beiden wichtigsten (und sich widersprechenden) Kriegsziele nicht erreicht. Das erste Kriegsziel lautete, die Hamas auszulöschen. Sobald sich israelische Truppen aus einem Stück Land zurückgezogen haben, formierte sich dort die Hamas jedoch wieder. In den Hintergrund ist unterdessen das zweite Ziel gerückt, die Geiseln zu befreien. Im Dezember 2023 kamen 105 Geiseln frei. Ihre Freilassung war nicht das Ergebnis einer militärischen Operation, sondern von Verhandlungen mit der Hamas, die eigentlich hätte zerstört werden sollen.

Der Kriegsverlauf Stand Anfang Juni 2024
Der Gazakrieg war auch ein Wendepunkt, weil mit ihm die Palästinafrage mit großer Wucht zurückgekehrt ist. Es war eine (verbreitete) Illusion anzunehmen, dass arabische Staaten ihre Beziehungen mit Israel normalisieren würden, ohne dass parallel dazu der Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern gelöst würde. Die Regierung Netanjahu hatte ignoriert, dass die von ihr im Westjordanland geförderte aggressive Landnahme durch extremistische zionistische Siedler und die damit verbundenen Vertreibungen der palästinensischen Bevölkerung in der arabischen Welt zu einer breiten Solidarisierung geführt hatte.
2 Der Grundkonflikt zwischen Iran und Israel – vom Schattenkrieg zur offenen Konfrontation
Die Islamische Republik Iran ist der letzte wichtige Staat, der Israel grundsätzlich das Existenzrecht abspricht. Zu den Grundprämissen der Revolution von 1979 zählen die Forderungen „Tod den USA, Tod Israel“ sowie der Hidschab-Zwang für Frauen. Seinen militärischen Druck auf Israel hat Iran mit dem Aufbau der sogenannten „Achse des Widerstands“, eines Netzwerks pro-iranischer Milizen, die in vier Ländern und im Gazastreifen tätig sind, schrittweise erhöht. In einer ersten Phase hatten Iran und Israel einen Schattenkrieg gegeneinander geführt, der die Schwelle zu einer heißen direkten militärischen Auseinandersetzung nicht überschritten hat.[3]
Stellvertretend für Iran haben in diesem niederschwelligen Krieg die libanesische Hizbullah und die Hamas Israel angegriffen, im Irak zielten die pro-iranischen Milizen auf Truppen von Israels wichtigstem Verbündeten, den USA. Israel brachte seinerseits Irans Atomprogramm ins Stocken – durch die Tötung von iranischen Atomwissenschaftlern auf iranischem Boden und durch Cyberangriffe. Luftangriffe auf iranische Stellungen in Syrien, bei denen Offiziere der Revolutionswächter getötet wurden, sollten verhindern, dass sich Iran an der Grenze zu Israel einnistet. Syrien wurde die wichtigste Front im Schattenkrieg. Im Dezember 2023 wurde General Razi Mousavi getötet, der für die Logistik der pro-iranischen Milizen in der Levante verantwortlich war, im Januar dann Sadegh Omidzadeh, der Geheimdienstchef der Revolutionswächter in Syrien.
Iran beschrieb sein Vorgehen gegen Israel als Politik der „strategischen Geduld“.[4] Damit verbunden waren drei Einsichten: (1) einen offenen Krieg gegen Israel (und damit die USA) würde das Regime zwar überleben, gewinnen könnte es ihn aber nicht; (2) die pro-iranischen Proxies sollten in ihren Ländern Krisen nutzen, um Irans Einfluss auszubauen; (3) mit dem (so wahrgenommenen) US-amerikanischen Rückzug aus der Region und mit der Spaltung der israelischen Gesellschaft würde die Zeit für den Iran spielen.
Dabei ging Iran wie nach einem Drehbuch vor:[5] Mit feindseligen Handlungen und Nadelstichen testeten Teheran und seine Proxies die USA und Israel. Würde die Reaktion gering ausfallen, würde Iran von dieser neuen Normalität ausgehen und neue Schwellen der Aggressionen ausprobieren. Vor allem die Angriffe auf US-Truppen in der Region sind weitgehend straffrei geblieben,[6] folgenlos blieb auch der iranische Angriff auf die saudische Ölindustrie vom September 2019.[7] Irans Botschaft an seine Nachbarn sollte sein, niemand solle annehmen, sich auf die USA verlassen zu können.

Das zerstörte iranische Konsulat in Damaskus am 1. April 2024
Iran hat der Region einen Konflikt aufgenötigt, in dem Teheran den Nahen Osten schrittweise nach seinen Vorstellungen umgestalten will.[8] Mit dem Gazakrieg, bei dem die Proxies erstmals zur gleichen Zeit zu den Waffen gegriffen haben, hat sich die Macht weiter zugunsten Irans verschoben. Mit seinem Eintreten für die Palästinenser hat Iran zudem sein Ansehen in der „arabischen Straße“ erheblich verbessert. Ein Punktgewinn war für Iran, dass die arabischen Golfstaaten aus Furcht vor dem aggressiven Nachbarn Kontakte mit Teheran aufgenommen haben. Die „strategische Geduld“ zahlte sich aus.
Am 1. April 2024 nahm Iran einen Kurswechsel vor. An jenem Tag trafen israelische Raketen das iranische Generalkonsulat in Damaskus und töteten General Mohammad Reza Zahedi, der die Operationen der pro-iranischen Milizen in der Levante koordiniert hatte und Verbindungsmann zur Hizbullah war.[9] Damit hatte Israel nach Ansicht Teherans die roten Linien des bisherigen Schattenkriegs überschritten, Teheran erklärte das Ende der „Ära der strategischen Geduld“. Bereits zuvor hatten die Hardliner Unmut über die Politik der „strategischen Geduld“ geäußert, denn es habe Israel zu immer neuen Attentaten gegen ranghohe Vertreter Irans ermuntert. Sie forderten, bereit zu sein für mehr Risiko und eine offene Konfrontation.[10]
Die Führung in Teheran stand nach dem Angriff auf sein extraterritoriales Gebiet in Damaskus unter Druck, sein Gesicht gegenüber der eigenen Bevölkerung und seinen Verbündeten zu wahren. Sie musste auch die nicht mehr ausreichende Abschreckung wiederherstellen. Israel sollte sich nicht ermuntert fühlen, folgenlos die Schwelle des Schattenkriegs zu senken. Daher werde Iran Israel künftig direkt und vom eigenen Territorium aus angreifen, kündigte Hossein Salami an, der Befehlshaber der Revolutionswächter. Israel sollte für seine Angriffe einen höheren Preis zahlen. Jedoch wolle man keinen großen Krieg und keinen Flächenbrand auslösen, teilte die Führung in Teheran mit.[11]
Iran griff am späten Abend des 13. April 2024 Israel mit 170 Drohnen, 120 ballistischen Raketen und 30 Marschflugkörpern an.[12] Der quantitative Umfang des Angriffs war größer als jeder Luftangriff Russlands auf die Ukraine. Der Luftwaffenchef der Revolutionswächter gab an, man habe lediglich ein Fünftel der zunächst vorgesehenen Waffen genutzt. Iran setzte Saudi-Arabien und andere Golfstaaten von dem bevorstehenden Angriff vorab in Kenntnis, die wiederum informierten die USA und Israel. Nicht beteiligt war an dem Angriff die Hizbullah, in deren Arsenalen mutmaßlich mindestens 120.000 Raketen auf Israel gerichtet sind.
Selbst wenn der Angriff militärisch kein Erfolg war – 99 Prozent der Geschosse wurden abgefangen –, hat Iran eine Drohung ausgesandt: Von nun an sei die Islamische Republik bereit, Israel, an dessen Seite die größte Militärmacht steht, direkt und vom eigenen Territorium aus anzugreifen. Irans asymmetrische Kriegführung bürdete Israel und dessen Verbündeten hohe Kosten auf. Fachleute schätzen, dass die 320 iranischen Geschosse Iran weniger als 200 Millionen Dollar gekostet haben, möglicherweise nur 30 Millionen Dollar. Die für die Abfangaktion eingesetzten Defensivwaffen hätten jedoch ein Preisschild von einer Milliarde Dollar gehabt.[13]
An der Abfangaktion waren neben der israelischen Luftwaffe die USA, Frankreich und Großbritannien beteiligt sowie Jordanien und der Irak. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate sollen nachrichtendienstliche Erkenntnisse zur Verfügung gestellt haben. Damit hat das nicht institutionalisierte Middle East Air Defense System (MEAD), das zum Schutz gegen iranische Raketen gebildet worden war und das der damalige israelische Verteidigungsminister Benny Gantz 2022 vorgestellt hatte, seine Feuerprobe bestanden.[14] Israel sah sich unter Zugzwang, übte auf Anraten der USA aber nicht mit derselben Quantität wie Iran Vergeltung, jedoch mit einer Demonstration seiner technologischen Überlegenheit. Am 19. April 2024 schaltete ein Luftangriff mit chirurgischer Präzision das Luftabwehrsystem in Natanz bei Isfahan aus, das die dortigen Atomanlagen beschützen sollte.
Irans Übergang von der „strategischen Geduld“ zu einer „neuen Gleichung“, wie es General Salami formuliert hat, birgt Risiken, etwa wenn beim Testen der neuen Spielregeln eine Fehleinschätzung oder Fehlentscheidung unterläuft und so eine Eskalation in Gang setzt. Mutmaßlich werden Iran und Israel in bessere Offensiv- und Verteidigungswaffen investieren und so das Wettrüsten in einer Region befeuern, die proportional zu ihrer Wirtschaftsleistung mehr Geld für Rüstung ausgibt als alle anderen Regionen weltweit. Iran könnte Russland drängen, als Gegenleistung für iranische Kampfdrohnen, die in der Ukraine eingesetzt werden, das Luftabwehrsystem S-400 zu liefern.
Zudem werden beide Akteure versuchen, über Drittstaaten näher an den Gegner zu gelangen. Israel könnte seine Präsenz in Aserbaidschan und in der kurdischen Autonomieregion im Nordirak ausbauen, infrage kämen auch die arabischen Golfstaaten. Iran könnte die geografische Entfernung nach Israel überbrücken, indem es seine Proxies mit mehr und besseren Waffen ausstattet. Damit würde die Bedeutung Syriens als Schauplatz des Konflikts zwischen Iran und Israel weiter anwachsen.
Zwar ist für Israel die Erkenntnis bitter, dass seine wichtigste Waffe, die Abschreckung, an Strahlkraft verloren hat. In der Nacht auf den 14. April konnte sich Israel nicht mehr alleine verteidigen. Es bedurfte einer internationalen Koalition, um die Geschosse zu neutralisieren. Zudem war Israel lange nicht in der Lage, die von der Hizbullah in Nordisrael de facto geschaffene Pufferzone wieder zu räumen, aus der 80.000 Zivilisten vertrieben worden waren. Die Existenz dieser Luftabwehrkoalition war jedoch auch ein Zeichen der Hoffnung für Israel.
Die Ereignisse zwischen dem 1. und dem 19. April 2024 sind Wegmarken, die die strategische Landschaft im Nahen Osten verändert haben.[15] In den ersten Aprilwochen war die Furcht groß, dass sich der Gazakrieg zu einem Mehrfrontenkrieg gegen Israel ausweiten würde. Dazu ist es nicht gekommen. Erst hatten arabische und europäische Diplomaten auf die iranische Führung eingewirkt und ihr Botschaften aus den USA übermittelt; nach dem 14. April drängten wiederum die USA Israel, sich mit der Vergeltung zurückzuhalten.
Die beiden Akteure hatten sich auch zurückgehalten, weil zu dem Zeitpunkt keiner von ihnen einen offenen Krieg wollte. Israel war bewusst, dass sich dann die Hizbullah, der größte bewaffnete nichtstaatliche Akteur überhaupt, mit verheerenden Folgen für die Städte Israels und die Zivilbevölkerung einschalten würde. Iran hingegen weiß um die überlegene israelische Militärmacht, hinter der die noch größere Militärmacht USA steht. Zudem lässt sich die Teheraner Führung von der Annahme leiten, dass das Ziel, Hegemon im Nahen Osten zu werden, ohne einen offenen Krieg leichter zu erreichen sei.[16]
3 Irans Optionen
In Iran deutet zum Ende der langen Amtszeit des Obersten Führers Ali Khamenei nichts auf eine Abkehr von den Prämissen der Islamischen Revolution hin. Zu ihnen zählt der Slogan „Tod Israel“. Khamenei hatte im September 2015 öffentlich gesagt, Israel werde „in 25 Jahren aufhören zu existieren.“ Das werde nicht durch die Hand Irans geschehen, sondern durch die Palästinenser und die Israelis selbst, so Khamenei. Wiederholt hat er Israel als ein Krebsgeschwür bezeichnet, das es auszureißen gelte.[17]
Der 1939 geborene Khamenei ist seit 1989 im Amt. Seit Jahren bereitet er seine Nachfolge vor. Dazu wurden Reformer und Gemäßigte, die im Inneren Lockerungen befürwortet und nach außen einen Ausgleich mit dem Westen angestrebt hatten, schrittweise ausgeschaltet, indem der Wächterrat nur noch Hardliner, die loyal zu den Werten der Revolution stehen, als Kandidaten zu den Wahlen zugelassen hat.[18] So will Khamenei sicherstellen, dass er die Islamische Republik ideologisch rein an seinen Nachfolger übergibt.
Für die Nachfolge Khameneis waren zwei Kandidaten die besten Chancen eingeräumt worden. Khamenei selbst hatte den Religionsgelehrten Ebrahim Raisi gefördert, der 2021 zum Präsidenten und Nachfolger des letzten gemäßigten Politikers Hasan Rohani gewählt worden war. Khamenei war vor seinem Aufstieg zum Obersten Führer 1989 ebenfalls Präsident der Islamischen Republik gewesen. Der blasse Raisi galt als alter ego Khameneis und als dessen Produkt. Die mächtigen Revolutionswächter favorisieren jedoch Mojtaba Khamenei, den zweiten Sohn des Obersten Führers. Mit dem Tod Raisis bei einem Hubschrauberabsturz am 21. Mai 2024 stand nur noch er auf der Liste. Am 5. Juli 2024 wurde der gemäßigte Politiker Massud Peseschkian zum Nachfolger Raisis gewählt.
Khamenei hat über die Jahrzehnte ein System geschaffen, das im Inneren wie auch in der Außen- und Sicherheitspolitik wie auf Autopilot läuft.[19] Selbst durch den Tod eines Präsidenten, der nominell zwar der zweite Mann im Staat ist, aber über keinen eigenen Spielraum für Entscheidungen verfügt, ist daher keine grundlegende Kurskorrektur zu erwarten. Die wichtigen Entscheidungen trifft allein der Oberste Führer. Die besten Chancen, vom ausschließlich mit Hardlinern besetzten Expertenrat zum künftigen Obersten Führer gewählt zu werden, werden nun Mojtaba Khamenei eingeräumt. Sollte er auf seinen Vater folgen, würden die Revolutionswächter ihre politische und wirtschaftliche Dominanz weiter ausbauen. Die Islamische Republik würde sich weiter von einem Theologenstaat entfernen und in eine Militärdiktatur übergehen. Der persisch-iranische Nationalismus würde noch mehr das islamisch-revolutionäre Gedankengut überlagern, als das bislang bereits der Fall ist.

Mojtaba Khamenei im Jahr 2017
3.1 Irans Hebel: Die „Achse des Widerstands“
Der Führung in Teheran ist bewusst, dass das schiitische Iran im arabisch-sunnitischen Nahen Osten ethnisch und religiös einen Fremdkörper bildet. Höchste Priorität hat daher seit der Revolution von 1979 das Überleben des Regimes. Dazu hatte sich das revolutionäre Iran zunächst den Export der Revolution auf die Fahnen geschrieben. Das feindliche Umfeld sollte durch den Sturz der prowestlichen sunnitischen Monarchien auf der Arabischen Halbinsel verändert werden. Das ist gescheitert. In einem zweiten Anlauf setzte sich Iran zum Ziel, die Feinde der Islamischen Republik durch die Bildung von bewaffneten und pro-iranischen Proxies von seinen Grenzen fernzuhalten.[20]
Die zahlreichen Konflikte und Kriege in der Region boten die Chancen dazu: 1982 im Libanon während des Bürgerkriegs mit der Bildung der Hizbullah; 2003 mit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Irak; ab 2005 mit dem Scheitern des Friedensprozesses zwischen Israel und den Palästinensern; 2012 bei der Rettung des Regimes von Baschar al-Assad in Syrien und bei dem Staatszerfall im Jemen. Die Revolutionswächter bildeten die Milizen aus und versorgten sie mit Waffen. Ein loses Netzwerk von Milizen war entstanden, die in ihren fünf Ländern auch eine politische Macht wurden und die alle näher als Iran an Israel liegen. Nun konnte die Islamische Republik nicht nur die Feinde von ihren Grenzen fernhalten, sondern auch das Postulat der Revolution „Tod Israel“ glaubhaft in Szene setzen.
Die Milizen sehen sich heute in einem großen Krieg gegen Israel und die USA. Kronjuwel ist die libanesische Hizbullah, die Khamenei als ihren Obersten Führer anerkennt und die entscheidend zur Stabilisierung des Assad-Regimes beigetragen hat. Die jemenitischen Houthis sagen viel über den pro-iranischen Kosmos der Milizen aus.[21] Sie hatten sich in den 1990er-Jahren als eine bewaffnete Aufstandsbewegung gegen den jemenitischen Zentralstaat gebildet. Ihren Namen haben sie von der Familie Houthi. Die gehört innerhalb des zaiditischen Zweigs des schiitischen Islams einer Schule an, die daran glaubt, dass Gott sie auserwählt habe, um die Herrschaft der Zaiditen nicht nur im Jemen zu errichten, sondern auf der ganzen Welt.[22]
Badr al-Din al-Houthi (1926 bis 2010) hatte in Qom, dem religiösen Zentrum Irans, studiert und dort die Lehren von Ajatollah Khomeini kennengelernt. Sein Sohn Hussein (1959 bis 2004) ließ sich von der iranischen Revolution inspirieren, er wollte sie in den Jemen bringen. Er rief zum Jihad gegen die USA und Israel auf und forderte, das neue Kalifat in Jerusalem zu errichten. Nach seinem Tod im Kampf gegen den Zentralstaat übernahm sein Bruder Abd al-Malik Houthi (geb. 1979) die Führung der Bewegung. Die Houthis sehen nun im Gazakrieg die große Gelegenheit, ihrem Ziel, Jerusalem zu erobern, näher zu kommen. Mit ihren Raketen, die sie auch mithilfe der iranischen Revolutionswächter entwickelt haben, greifen sie seit 2019 Handelsschiffe an der Einfahrt in das Rote Meer an,[23] insbesondere seit dem Beginn des Gazakrieges. Die Raketen können Jerusalem erreichen. Als die Houthis ihre Macht im Jemen zu konsolidieren begannen, hatte Saudi-Arabien 2015 einen Luftkrieg gegen die Houthis begonnen, der relativ erfolglos blieb und für den das Königreich stark kritisiert wurde.[24]
3.2 Irans Verbündete: Die antiwestliche Vierer-Achse
Neben der Bildung von pro-iranischen Milizen hat die Islamische Republik seine Isolierung auch dadurch aufgehoben, dass es mit anderen Feinden einer regelbasierten Weltordnung Allianzen eingegangen ist. Russland, China und Nordkorea besitzen bereits Atomwaffen. Iran strebt danach. Der frühere Chef des iranischen Atomprogramms, Ali Akbar Salehi, sagte zuletzt im Februar 2024 sinngemäß, Iran habe alle Bestandteile für eine Atombombe, sie müssten nur noch zusammengesetzt werden.[25]
Für Russland hat der Nahe Osten seit dem Bruch mit Europa an Bedeutung gewonnen.[26] Für den Kreml ist die Region auch wichtig, weil dort der Kampf um eine neue Weltordnung in eine nächste Runde gehen könnte. Dazu sucht Moskau Partner, um zu gegebener Zeit gegen den Westen vorgehen zu können. Sicherheitskooperationen werden mit Ländern wie Irak, Libyen und Ägypten ausgebaut. Syrien ist bereits eine wichtige Basis, die zentrale Rolle nimmt in diesem Szenario jedoch Iran ein. Russland bietet der Islamischen Republik diplomatischen Schutz und schreitet nicht gegen deren nukleare Ambitionen ein.
Beide haben einen gemeinsamen Feind, die USA; beide eint das Ziel, die Weltwirtschaft, in der sie mit Sanktionen belegt sind, zu stören. Sie erweitern ihre militärische Kooperation zum beiderseitigen Vorteil. Iran baut bei Moskau eine Drohnenfabrik und liefert die Kampfdrohne Shahed-136. Moskau hält noch immer die von Iran gewünschten Kampfjets Sukhoi SU-35 zurück, unterstützt jedoch die „Achse des Widerstands“, indem es Panzerabwehrwaffen an die Hizbullah liefert, Kontingente der Wagner-Miliz bereitstellte und vom syrischen Luftwaffenstützpunkt Khmeimim aus elektronisch den israelischen Flugverkehr störte. Die Zusammenarbeit stößt an Grenzen, da Russland seine guten Beziehungen mit sunnitischen arabischen Staaten nicht aufs Spiel setzen will. Zudem will Moskau Ressourcen der USA im Nahen Osten binden, will die aber nicht, wie es Irans Ziel ist, von dort vertreiben.
Russland ist für Iran politisch und militärisch wichtig, China ist hingegen die wirtschaftliche Lebenslinie.[27] Nach internationalen Schätzungen hat Iran von Februar 2021 bis Oktober 2023 an China Erdöl im Wert von 88 Milliarden Dollar verkauft; seit dem Beginn des Gazakriegs erlöste Iran Einnahmen von etwa 150 Millionen Dollar am Tag. Iran liefert mittlerweile 90 Prozent seiner Ölverkäufe nach China, jedoch bezieht die Volksrepublik nur 10 Prozent seines importierten Öls aus Iran.[28] Auch wenn Iran von China abhängiger ist als umgekehrt, nutzt China seine Position nicht, um mäßigend auf Iran einzuwirken. Zum einen würde China damit als Helfer der USA erscheinen. Zum anderen sind die Beziehungen aber auch belastet. So klagt Iran, dass China seine Zusagen für große Investitionen in Iran nicht erfülle.
China will im Gazakrieg keine Verantwortung übernehmen. Es ist lediglich daran interessiert, preiswertes Erdöl zu beziehen, kostspielige Engagements zu vermeiden, sich gegenüber den USA als moralisch überlegen in Szene zu setzen und mit autokratischen Regimen Allianzen einzugehen.[29] China will und kann im Nahen Osten die USA nicht als Garantiemacht ersetzen. Der Krieg schadet jedoch Peking, weil das politische Kapital, das mit dem von Peking im März 2023 vermittelten Deal zwischen Iran und Saudi-Arabien geschaffen worden war, mit der chinesischen Passivität verflogen ist.
Nordkorea, Atommacht seit 2006, arbeitet als dritter wichtiger Partner bei der Entwicklung von Raketen und im Atomprogramm eng mit Iran zusammen.[30] Möglicherweise hat Iran am 13. April 2024 beim Angriff auf Israel von Nordkorea entwickelte Raketen eingesetzt. Als gesichert gilt, dass die Hamas gegen Israel Waffen aus Nordkorea verwendet hat, beispielsweise Panzerabwehrraketen. Zuletzt hatte sich im April 2024 eine ranghohe Delegation aus Nordkorea in Iran aufgehalten.
4 Traumatisiert und angefeindet: Israel
Israel ist ein gespaltenes Land, das im Krieg geeint zusammensteht und der wachsenden internationalen Kritik an seinem militärischen Vorgehen trotzt. Unter dem anhaltenden Eindruck des Traumas vom 7. Oktober 2023 unterstützten noch im Mai 2024 zwei Drittel der Israelis das Vorgehen ihrer Armee im Gazastreifen und das Zurückhalten humanitärer Hilfe an die Palästinenser.[31] In Zeiten eines Krieges und der Gefährdung ist die israelische Gesellschaft geeinter als in Friedenszeiten. Unmittelbar vor dem 7. Oktober 2023 spaltete ein breiter Riss die Gesellschaft. Unversöhnlich standen sich moderne säkulare Juden, die für ein demokratisches Israel einstehen, und illiberale ultraorthodoxe Juden gegenüber.[32] Die demografische Balance verschiebt sich stetig zugunsten der ultraorthodoxen Juden, was sich bei Wahlen niederschlägt.
Benjamin Netanjahu ist seit 2009 fast durchgehend Premierminister. Die Regierung, die er nach der Parlamentswahl von 2022 gebildet hat, gilt als die am weitesten rechtsstehende und religiöseste Regierung seit der Gründung Israels. Israelische Gerichte hatten in den Jahren davor mehrere Kabinettsmitglieder wegen Korruption und Rassismus zu Haftstrafen verurteilt. Itamar Ben-Gvir, Minister für nationale Sicherheit, und Bezalel Smotrich, der als Finanzminister auch für die Siedlungen zuständig ist, sprechen sich für die ethnische Säuberung des Gazastreifens und die Rückkehr der jüdischen Siedler dorthin aus. Andere extremistische Minister wie Amichai Chikli pflegen gute Beziehungen zur ungarischen Regierung sowie zu rechtsextremen europäischen Parteien, etwa Vox in Spanien oder die Schwedendemokraten.[33]
Säkulare Juden wie der Historiker Yuval Harari sehen die Werte und das moralische Erbe des Judentums durch den wachsenden „religiösen Fanatismus, den Rassismus und eine brutale Unterdrückung“ der Palästinenser gefährdet.[34] Führende arabische Politiker, die Israel eigentlich wohlgesonnen sind, fordern Israel auf, sich zu entscheiden, was für ein Land es sein wolle – ein jüdischer Gottesstaat oder eine liberale Demokratie. Solange die Entscheidung nicht falle, sei es schwierig, mit Israel Abkommen zu schließen. In weiten Teilen der Welt, im Westen wie im Globalen Süden, hat Israel infolge des Gazakriegs massiv Sympathien verloren. Im Westen spielte dabei eine Rolle, dass es der regelbasierten internationalen Ordnung nicht gelungen ist, dem Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser Geltung zu verschaffen. In linken Kreisen wird Israel zudem als ein koloniales Projekt weißer jüdischer Siedler aus Europa dämonisiert.
Die Vorlagen dafür liefert die Regierung Netanjahu, indem sie etwa die Vertreibung von Palästinensern im Westjordanland durch gewaltbereite Siedler zumindest billigt, wenn nicht fördert. In den ersten sieben Monaten seit dem Terror vom 7. Oktober 2023 töteten Siedler und israelische Soldaten im Westjordanland mehr als 500 palästinensische Zivilisten und blieben straffrei.[35] Die internationale Kritik an Israel entzündete sich jedoch vor allem an dem als „unverhältnismäßig“ bewerteten Vorgehen im Gazastreifen.


Itamar Ben-Gvir (links) und Bezalel Smotrich (rechts)
Wie stark Israel in die internationale Kritik geraten ist, zeigte sich im Mai 2024, als zunächst der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag Haftbefehle nicht nur gegen Führer der Hamas beantragt hatte, sondern auch gegen Netanjahu und dessen Verteidigungsminister Joav Gallant, denen er vorwirft, für Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im Gazakrieg verantwortlich zu sein. Zwei Tage danach kündigten Irland, Norwegen und Spanien an, den Staat Palästina anzuerkennen. Davor hatten bereits 143 der 193 Mitgliedstaaten der UN Palästina als Staat anerkannt, unter ihnen Schweden und fünf weitere EU-Staaten in Osteuropa.
Auch in Israel wird besorgt die Frage gestellt, ob der Gazakrieg Israel zu einem Pariastaat mache.[36] Jedoch haben trotz Boykottforderungen und massiver pro-palästinensischer Proteste an US- und anderen westlichen Universitäten nur wenige Hochschulen ihre Zusammenarbeit mit akademischen Einrichtungen in Israel aufgekündigt.
4 Die USA: Das Ende der „besonderen Beziehung“?
Der Gazakrieg hat die Aufmerksamkeit der USA wieder auf den Nahen Osten gelenkt. Nachdem sich die US-Präsidenten Barack Obama und Donald Trump verstärkt Asien und der Herausforderung durch China zugewandt hatten, reagierte Joe Biden nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober 2023 umgehend. Europas Beitrag erschöpfte sich in Ermahnungen, China und Russland blieben weitgehend Zaungäste. Abermals zeigte sich, dass allein die USA über das Gewicht verfügen, um ein Abgleiten der Region in Chaos abzuwenden und die iranische Aggression einzudämmen.
In den Jahren zuvor waren die USA an vielen Initiativen nicht beteiligt gewesen. Dazu gehörten der von China eingefädelte Deal zwischen Iran und Saudi-Arabien, auf den die Annäherung zwischen Iran und den Vereinigten Arabischen Emiraten folgte.[37] 2019 hatten sich sieben Anrainerstaaten zum Eastern Mediterranean Gas Forum zusammengeschlossen;[38] 2021 fand in Bagdad eine von Frankreich mitinitiierte Sicherheitskonferenz arabischer Staaten statt, auf die weitere folgten;[39] 2023 wurde Syrien wieder in die Arabische Liga aufgenommen.[40]
Nun kehrten die USA in den Nahen Osten zurück. Am 18. Oktober 2023 rief Biden den Israelis bei einem Besuch in Israel zu: „Ihr seid nicht allein!“ Die USA stockten die Militärhilfe für Israel auf und blockierten im UN-Sicherheitsrat mit ihrem Veto Resolutionen, die eine sofortige Waffenruhe gefordert hatten. Erst als der linke Flügel der Demokraten immer schärfer Israels militärisches Vorgehen und die Politik des Weißen Hauses zu kritisieren begann, unterstützte Biden Israel nicht mehr vorbehaltlos und ging auf Distanz zur Regierung Netanjahu.[41]
Vor allem die Gewalt israelischer Siedler im Westjordanland sorgte für Verärgerung im Weißen Haus.[42] Im Februar und März 2024 genehmigte Biden Sanktionen gegen gewalttätige Siedler im Westjordanland.[43] Im März enthielten sich die USA bei einer Abstimmung im UN-Sicherheitsrat über eine Waffenruhe der Stimme.[44] Nach dem Bekanntwerden von Menschenrechtsverletzungen wurde im April erwogen, das Netzah-Yehuda-Bataillon der israelischen Armee zu sanktionieren.[45] Im Mai hielt das Weiße Haus eine 2021 zugesagte Lieferung von 3.500 jeweils 2.000 Pfund schweren Bomben aus Furcht zurück, sie könnten in dicht besiedelten Gegenden Gazas eingesetzt werden und viele Zivilisten töten.[46]
Auch professionelle Politikanalysten gingen auf Distanz zu Israel. Der Politikwissenschaftler Stephen M. Walt schrieb, das Vorgehen Israels bringe den USA „genau Null strategische Vorteile.“[47] Wenn Israel Gaza in das Steinzeitalter zurückbombe, mache das die Amerikaner weder sicherer noch wohlhabender. Zudem stehe „es im völligen Widerspruch zu den Werten, die die Amerikaner gerne verkünden.“ Realpolitiker würden nun erkennen, dass Israels Handlungen und die US-Komplizenschaft Amerikas Stellung in der Welt untergraben würden und den Einsatz der USA für eine regelbasierte Ordnung gegenstandslos machten.
Die „besondere Beziehung“ der USA zu Israel könnte zu Ende gehen. Die israelische Meinungsforscherin und Politikwissenschaftlerin Dahlia Scheindlin schreibt, gemeinsame geopolitische Interessen würden die beiden Staaten zwar weiter verbinden. Die Basis gemeinsamer Werte werde jedoch in dem Maße kleiner, wie sich Israel von seinem Bekenntnis zu einer liberalen Demokratie löse. Eine Herausforderung werde es für beide Seiten, angesichts der Verschiebung der Präferenzen bei den jungen Wählern auch künftig eine gemeinsame Politik zu finden. Seit 15 Jahren belegten Umfragen bei den jungen israelischen Wählern einen Trend nach rechts zu religiösen Parteien, während sich junge Amerikaner zunehmend mit den Palästinensern solidarisierten.[48]
5 Deutschland und Europa: Wachsende Kritik
Europa verhält sich gegenüber Israel kritischer als es die USA tun. So untersagte im Februar ein niederländisches Gericht der Regierung in Den Haag, Komponenten für das Kampfflugzeug F-35 nach Israel zu exportieren, da damit „schwere Verstöße gegen das humanitäre Kriegsrecht begangen werden“ könnten.[49] Der belgische Ministerpräsident Alexander De Croo hat vorgeschlagen, die Einfuhr von Produkten aus den Siedlungen im besetzten Westjordanland zu verbieten.[50] Nachdem Deutschland seinen Widerstand aufgegeben hatte, verhängte die EU im April, wie zuvor die USA, Sanktionen gegen gewalttätige Siedler.[51] Ebenfalls im April nahm das Verwaltungsgericht Berlin eine Klage an, die die Lieferung von Kriegswaffen nach Israel betraf; das Gericht forderte die Bundesregierung auf, darzulegen, welches die Kriterien für die Lieferung von Waffen an Israel seien.[52]
Bei den möglichen Haftbefehlen des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Netanjahu und Gallant steht die Bundesregierung vor einem Dilemma. Einerseits hatte Bundeskanzler Olaf Scholz am 18. Oktober 2023 bei seinem Besuch in Israel das Diktum bekräftigt, dass die Sicherheit Israels deutsche Staatsräson sei. Andererseits ist die Unabhängigkeit der internationalen Strafjustiz ein Kernpfeiler der deutschen Außenpolitik. Deutschland werde diese Unabhängigkeit respektieren, sagten Politiker der Ampelregierung.
Die vorbehaltlose Unterstützung der Bundesregierung für das Vorgehen der israelischen Armee im Gazakrieg und die anhaltende Ablehnung einer Waffenruhe haben Deutschland, das nach den USA der zweitgrößte Waffenlieferant an Israel ist, in der arabischen Welt viel Sympathie gekostet. Im Jahr 2020 hatte sich noch eine Mehrheit der arabischen Befragten positiv über die deutsche Außenpolitik geäußert, im Januar 2024 bewerteten sie indessen 75 Prozent negativ. Ein großes Thema in arabischen Medien ist, dass pro-palästinensische Äußerungen in Deutschland unter Antisemitismus-Verdacht gestellt und verboten würden. Vor allem Kulturschaffende gehen auf Distanz zu Deutschland, was den Ruf der Bundesrepublik als eine soft power im Nahen Osten untergräbt.[53]
6 Zwischen Israel und Iran: Die arabische Welt
Die Zusammenarbeit Israels mit westlichen und vor allem arabischen Staaten bei der Abwehr des iranischen Angriffs in der Nacht auf den 14. April 2024 hatte vielfach die Hoffnung genährt, dass sich bereits eine breite, sichtbare Anti-Iran-Allianz gebildet haben könnte. Dem ist (noch) nicht so.[54] Zwar hatten die USA mit ihrer Führungsrolle bei der Operation demonstriert, dass sie für die Sicherheit der Region unentbehrlich sind. Auch haben sich die seit Jahren laufenden Sicherheitsdialoge unter den beteiligten Ländern konkretisiert.
Doch nach wie vor stehen die arabischen Staaten wie ein Kaninchen vor der Schlange starr vor dem bedrohlichen Nachbar Iran. Die Staaten, die sich an der Operation beteiligt haben, begründeten das mit der Sicherung ihrer Lufthoheit und dem Verhindern eines Übergreifens des Konflikts auf ihre Länder; kein Staat wollte jedoch den Eindruck erwecken, Israel zu helfen.
Die Operation legte drei Dinge offen: die Furcht der arabischen Staaten vor Iran; ihre Angst, als Helfer der Regierung Netanjahu wahrgenommen zu werden; und ihr Wunsch, dass die USA in der Region eine führende Rolle übernehmen, sodass ihre Volkswirtschaften, aber auch ihre innenpolitische Macht geschützt würden. Sie lehnen, anders als Netanjahu, jedoch eine offene militärische Auseinandersetzung mit Iran ab. Vielmehr hat seit dem 7. Oktober 2023 die Bereitschaft zugenommen, ihre Interessen durch bilaterale Vereinbarungen und mit einer Normalisierung ihrer Beziehungen mit Teheran zu schützen. Sicherheit soll ihnen dabei ein amerikanischer Schutzschild geben.
Mit den Abraham-Abkommen, bei denen seit 2020 vier arabische Staaten ihre Beziehungen mit Israel normalisiert haben, war die Hoffnung verbunden, dass Israel nun gemeinsam mit arabischen Staaten Iran eindämmen könne.[55] Jedoch hat sich seit dem 7. Oktober 2023 kein arabischer Golfstaat an der Bekämpfung der pro-iranischen Proxies im Jemen, in Irak, in Syrien, im Libanon oder in Gaza beteiligt. Sie setzen vielmehr ihre Entspannungspolitik mit Iran fort.
Dennoch brechen die Staaten, die ihre Beziehungen mit Israel normalisiert haben, nicht mit Israel und trotzen damit der öffentlichen Meinung in ihren Gesellschaften.[56] Israel ist für sie als Wirtschaftspartner zu wichtig geworden. Für Jordanien ist die Versorgung mit Wasser und Erdgas aus Israel lebenswichtig, Ägypten benötigt für seine Kraftwerke Erdgas aus Israel. Ägypten kann es sich nicht leisten, mit Israel zu brechen, weil der Gazakrieg und die Angriffe der Houthis auf die Schifffahrt im Roten Meer die Einnahmen aus dem Suezkanal halbiert haben. Die ägyptische Führung ist zudem mit Israel in Kontakt, um zu verhindern, dass die israelische Armee die Bevölkerung Gazas über die Grenze nach Ägypten treibt. Die Vereinigten Arabischen Emirate wollen mit Israel technologisch und militärisch zusammenarbeiten, überdies soll ihre Metropole Dubai von der israelischen Wirtschaft profitieren.
Saudi-Arabien verspricht sich von einer Normalisierung mit Israel mehr Vor- als Nachteile. Den entscheidenden Vorteil sieht die saudische Führung darin, dass ein Abkommen mit Israel lediglich Teil eines viel größeren Pakets mit den USA sein soll. Das wäre ein persönlicher Sieg für den saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman, denn Joe Biden hatte im Präsidentschaftswahlkampf 2020 angekündigt, er werde Saudi-Arabien wegen der mutmaßlichen Verwicklung des Kronprinzen in die Tötung von Jamal Khashoggi wie einen Pariastaat behandeln. Der Vorteil eines solchen Mega-Deals für die USA läge darin, dass er die amerikanische Dominanz im Nahen Osten wiederherstellen und konsolidieren würde.
Für die arabischen Golfstaaten ist der sicherheitspolitische Aspekt von überragender Bedeutung. Führende arabische Staaten haben seit dem Beginn des Gazakriegs Verantwortung übernommen wie selten zuvor. Sie haben vermittelt, etwa zur Freilassung der Geiseln, und mit koordinierten Initiativen versucht, eine Ausweitung des Konflikts zu verhindern. Dabei machte sich bemerkbar, dass es im Nahen Osten kein Forum für eine regionale Sicherheitszusammenarbeit gibt, wie es etwa in Europa oder Asien besteht, sondern lediglich bilaterale Vereinbarungen. So hatte Präsident Biden im Januar 2022 Qatar zu einem „wichtigen Nicht-NATO-Alliierten“ bestimmt,[57] im September 2023 unterzeichneten die USA und Bahrain ein Abkommen zur Stärkung ihrer strategischen Partnerschaft.[58]

Unterzeichnung der Abraham-Abkommen am 15. September 2020 im Weißen Haus
Die Golfstaaten drängen nun auf ein formales Abkommen, in dem sich die USA verpflichten, ihnen militärisch zur Seite zu stehen. Denn das Vertrauen in die USA hatte gelitten, als Präsident Donald Trump im September 2019 nicht auf einen iranischen Angriff auf saudische Ölanlagen reagierte und als Washington seine Unterstützung für die von Saudi-Arabien geführte Koalition im Krieg gegen die Houthis eingestellt hat.[59] Zudem wirkte der unrühmliche Rückzug der US-Truppen im Sommer 2021 aus Afghanistan nach. Der iranische Angriff auf Israel am 13. April 2024 hat den Golfstaaten jedoch die Dringlichkeit einer wirksamen Luftabwehr, bei der die Mitgliedstaaten eng zusammenarbeiten, vor Augen geführt. Dieses Projekt soll ein Eckpfeiler der US-Politik im Nahen Osten werden.[60]
Im Zentrum des von den USA angestrebten Mega-Deals steht dabei Saudi-Arabien als das größte und wichtigste Land der arabischen Welt. Im US-Kongress erhielte ein bloßes Verteidigungsabkommen mit Saudi-Arabien jedoch keine Mehrheit. Daher ist die Idee aufgekommen, ein solches Abkommen mit der Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel zu verknüpfen. Dabei gehen die saudischen Wünsche über ein bloßes Verteidigungsabkommen hinaus. So fordert Riad über ein Freihandelsabkommen einen besseren Zugang zu amerikanischer Technologie sowie eine nukleare Zusammenarbeit für den Bau von Atomkraftwerken, wobei die Anreicherung von Uran in Saudi-Arabien erfolgen solle.[61]
Die Hamas hatte mit dem Terror vom 7. Oktober 2023 mutmaßlich auch das Ziel verfolgt, eine Normalisierung zwischen Saudi-Arabien und Israel zu verhindern. Tatsächlich sind die Gespräche dazu auch ins Stocken geraten, sie wurden aber nie eingestellt. Jedoch hat Saudi-Arabien nach dem 7. Oktober den Preis erhöht. Als weitere Forderung kam hinzu, einen unumkehrbaren Plan für die Gründung eines Staates Palästina vorzulegen.[62]
Der Mega-Deal hätte viele Vorteile: Für Israel wäre eine Normalisierung mit Saudi-Arabien, dem Land der heiligen Stätten des Islams, der Durchbruch für die Anerkennung in der islamischen Welt. Für Saudi-Arabien bedeutete er die Schaffung eines sicheren Umfeldes und die Eindämmung Irans, um sich so ganz auf die wirtschaftliche Entwicklung und die Diversifizierung der Volkswirtschaft konzentrieren zu können. Für die USA wäre es ein strategischer Vorteil, nun einen Hebel gegenüber Saudi-Arabien in der Hand zu haben. Profitieren würden die Palästinenser, die in Saudi-Arabien den Geburtshelfer ihres Staates sehen würden. Einem solchen Mega-Deal verweigert jedoch der israelische Premierminister Netanjahu mit seiner konsequenten Ablehnung, über einen Staat Palästina auch nur zu sprechen, seine Zustimmung. Er hofft auf ein Abkommen mit Saudi-Arabien, ohne Konzession machen zu müssen.[63]
7 Wie ist Frieden möglich?
Daher gestaltet sich die Suche nach tragfähigen Lösungen schwierig. Die Erwartungen der Akteure gehen weit auseinander, die Regierung Netanjahu ist international zunehmend isoliert. Entscheidend ist, wie sich die Lage im Gazastreifen entwickelt. Dort hat der längste Krieg seit 1948 ein Machtvakuum geschaffen. Gesetzlosigkeit breitete sich aus, die humanitäre Lage der Zivilisten hat sich dramatisch verschlechtert. Erschwert wird die Wiederherstellung von Strukturen und Institutionen auch dadurch, dass die Positionen zu der Frage, wie Gaza nach dem Ende des Krieges regiert werden sollte, unvereinbar sind. In der israelischen Regierung war die Entscheidungsfindung im Mai 2024 noch nicht abgeschlossen.[64]
Ein breiter Konsens besteht darin, dass die Hamas künftig keine Rolle spielen darf. Unbestritten ist aber auch, dass die Hamas nicht ausgelöscht werden kann.[65] Dazu ist sie zu tief in Gaza verankert, und ihre Ideologie findet nach wie vor Anhänger. Zudem steht ihrer Zerschlagung entgegen, dass sie polyzentrisch in wohl sieben Machtzentren organisiert war. Nicht auszuschließen ist daher, dass Teile der Hamas mit anderen Palästinensern, etwa von der Fatah, eine neue politische Kraft bilden könnten.
Premierminister Netanjahu selbst hat keinen eigenen Plan vorgelegt, sondern sich lediglich dazu geäußert, was er nicht will: Er will weder eine Beteiligung der Hamas an künftigen Strukturen noch – aus Furcht, dass es zu einer Vereinigung des Westjordanlands mit dem Gazastreifen kommen könnte – die Rückkehr der Palästinensischen Autonomiebehörde, die 2007 in Gaza den Machtkampf gegen die Hamas verloren hatte. Konkret hat er sich dazu geäußert, dass Israel auf absehbare Zeit die „Sicherheitskontrolle“ über Gaza behalten wolle und ein Wiederaufbau nur in den völlig demilitarisierten Gegenden erlaubt werde.[66]
Die radikalen Mitglieder seines Kabinetts forderten die Wiederherstellung des Status quo ante, wie er vor dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen 2005 bestanden hatte, verbunden mit der Rückkehr der Siedler. Presseberichten zufolge wurde im Kabinett diskutiert, in welcher Form arabische Staaten eine Aufsicht übernehmen könnten. Das lehnen die jedoch ab, solange das nicht mit einem irreversiblen Weg zur Gründung eines Staates Palästina verbunden ist, was Netanjahu entschieden ablehnt. Eine Gruppe überwiegend israelischer Geschäftsleute hat Ende 2023 einen Plan für die Zeit nach dem Ende des Krieges entworfen, den sie ihrer Regierung sowie arabischen und westlichen Staaten vorgelegt haben.[67] Sie schlagen vor, Notabeln aus Gaza mit dem Wiederaufbau der Strukturen und Institutionen zu beauftragen. Nach sieben bis zehn Jahren solle die Bevölkerung entscheiden, ob sie Teil einer nicht näher qualifizierten palästinensischen Verwaltung sein wolle. Das Vorhaben, gemäßigte Palästinenser in der Verwaltung für eine Zusammenarbeit mit Israel zu finden, dürfte sich aufgrund der Erfahrungen durch die lange israelische Besatzung und den Krieg als unrealistisch erweisen.
7.1 Das Projekt der Zweistaatenlösung
Um den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern, der seit dem Massaker von 1929 in Hebron mit Gewalt ausgetragen wird, nach fast einem Jahrhundert beizulegen, favorisiert die Staatengemeinschaft die sogenannte „Zweistaatenlösung“ – wie sie bereits im Teilungsplan der Vereinten Nationen von 1947 angelegt ist.[68] Der hatte dazu einen Treuhandrat eingesetzt, den der UN-Generalsekretär jederzeit aktivieren kann. In einer Treuhandschaft können Staaten Verantwortung übernehmen, die dazu bereit sind.
Für die Zweistaatenlösung sprechen sich US-Präsident Biden, die arabischen Staaten und die EU ebenso aus wie China und Russland. Während die USA für den Staat Palästina vage eine „Hauptstadt in Jerusalem“ und einen Landtausch zwischen Israel und Palästina vorschlagen, fordern die arabischen Golfstaaten Ost-Jerusalem als Hauptstadt, für einen Landtausch sehen sie keine Notwendigkeit. Die Islamische Republik Iran lehnt indes generell eine Zweistaatenlösung ab. Auch in Israel findet sie seit dem 7. Oktober 2023 keine Mehrheit. Die Befürworter eines Staates Palästina räumen realistischerweise ein, dass dieser aufgrund des israelischen Sicherheitsbedürfnisses nicht alle Merkmale eines Staates werde erhalten können. Denn es müsse sichergestellt sein, dass von ihm keine Gefahr für Israel ausgehe.
Das gewichtigste Argument für die Zweistaatenlösung ist, dass damit am ehesten eine Chance auf einen dauerhaften Frieden möglich sei. Gescheitert ist Netanjahus Versuch, den Konflikt zu „managen“ und dabei den Status quo dauerhaft beizubehalten. Die Alternative eines binationalen Staates ist unrealistisch, denn dann befänden sich die Juden demografisch bald in der Minderheit, Israel wäre kein jüdischer Staat mehr. Einem Frieden dienen auch zwei andere Optionen nicht. Die Hamas will Israel auslöschen; die ultra-religiösen Israelis wollen das Westjordanland annektieren und die dort lebenden Palästinenser vertreiben.
Einer Zweistaatenlösung steht jedoch entgegen, dass der Terror des 7. Oktober 2023 in Israel eine Atmosphäre des generellen Misstrauens gegenüber den Palästinensern erzeugt hat. Als größte Hürde gilt, dass sich im Westjordanland seit 1967 unter Verletzung des Völkerrechts (ohne die 220.000 Siedler in Ost-Jerusalem) 500.000 jüdische Siedler niedergelassen haben. Sie würden ihre Siedlungen nicht freiwillig räumen. Kritiker der Zweistaatenlösung warnen, dass es in Israel, wo knapp zwei Millionen Palästinenser leben, und im Westjordanland zu einem Bevölkerungsaustausch und zu ethnischen Säuberungen kommen könnte, die sich in anhaltender Gewalt entladen würden, was wiederum auf andere Länder übergreifen könnte.[69]
Eine Zweistaatenlösung hätte daher nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Staatengemeinschaft dazu mit einem robusten Mandat ausgestattet wird, um sie politisch, militärisch und wirtschaftlich Wirklichkeit werden zu lassen. Die Konfliktparteien alleine wären dazu nicht in der Lage. Einer Quadratur des Kreises gliche eine Lösung des Konflikts um Jerusalem, das Juden wie Muslime als heilige Stadt jeweils für sich beanspruchen. Zudem fordern ultrareligiöse Juden, den ganzen Tempelberg, also auch das Plateau mit dem Felsendom und der al-Aqsa-Moschee, in eine jüdische Stätte umzuwandeln.
7.2 Wie kann man Sicherheit und Stabilität im Nahen Osten schaffen?
Frühere Kriege mündeten in unerwarteten Friedensprozessen. Der Frieden zwischen Israel und Ägypten folgte auf den Jom-Kippur-Krieg von 1973, der Oslo-Prozess folgte von 1993 an mit Abkommen zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) auf den Zweiten Golfkrieg von 1991. Daran anknüpfend unternehmen die USA derzeit einen weiteren Anlauf, einen dauerhaften Frieden in die Region zu bringen. Dabei baut US-Präsident Biden auf der Vorarbeit seines Vorgängers Donald Trump auf. Der hatte die Abraham-Abkommen zwischen Israel und arabischen Staaten mit dem Ziel eingefädelt, über eine wirtschaftliche Integration regionale Stabilität zu schaffen und Iran zurückzudrängen.
Ein großer diplomatischer Handel soll die Integration beschleunigen, indem Saudi-Arabien und Israel ihre Beziehungen normalisieren. Was durch den Ausbruch des Gazakriegs zunächst in weite Ferne zu rücken schien, entpuppte sich als Chance: In einem Mega-Deal, den die USA, Saudi-Arabien und Israel untereinander verhandeln, soll ein einheitlicher Wirtschaftsraum und eine Sicherheitsarchitektur geschaffen werden, dem sowohl die arabischen Staaten als auch Israel angehören. Zum anderen soll er eine Lösung für den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern finden.[70]
Doch es lauern Risiken. Iran kann mit seinen Proxies und der „Achse des Widerstands“ den Prozess abermals entgleisen lassen, und in vielen arabischen Ländern, etwa Ägypten, Algerien und dem Irak, haben sich die Bedingungen, die 2011 zu den Massenprotesten geführt haben, nicht verbessert, sondern teilweise weiter verschlechtert. Seit dem Beginn des Gazakriegs fanden in vielen Städten neue Massenproteste als Zeichen der Solidarität mit den Palästinensern statt, die die Sicherheitsapparate jedoch rasch unter Kontrolle gebracht haben. Die Gefahr, dass sich bei der jungen Generation die Frustration über die eigene Perspektivlosigkeit mit der Frustration über die Lage der Palästinenser verbinden könnte, besteht weiter.[71] Der Gazakrieg könnte so zum Katalysator für destabilisierende neue Protestwellen werden. Auch deshalb haben sich die arabischen Staaten wiederholt dafür eingesetzt, diesen Krieg durch Waffenruhen zu beenden.
Publikationsschluss für das Manuskript war 1. Juni 2024
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