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Die Krise der westlichen Demokratien: Erscheinungsformen und Ursachen

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Published/Copyright: September 7, 2019

Westliche Demokratien befinden sich heute in einer Krise, die Erinnerungen an die zwanziger und dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts weckt, in denen in Europa eine Demokratie nach der anderen erst schwächelte und dann durch ein autoritäres Regime ersetzt wurde und selbst in den USA und in Großbritannien die demokratischen Institutionen am Wanken waren. Knapp drei Jahrzehnte nach dem Sieg der westlichen Demokratien im Systemkonflikt mit den sozialistischen Volksdemokratien ist diese Entwicklung verstörend. Sie lässt erkennen, dass es in einer sich wandelnden Welt keine wirklich festen Planken unter den Füßen gibt. Obwohl es eine wissenschaftliche Debatte über Strukturprobleme moderner Demokratien schon seit mehreren Jahrzehnten gibt,[1] haben erst 2016 der Ausgang des Brexit Votums und der Sieg Donald Trumps bei den US-Präsidentenwahlen dazu geführt, dass das Thema in der Politik wahrgenommen wird. Mittlerweile ist die Krise westlicher Demokratien (gleich ob parlamentarischer oder präsidentieller Art) Gegenstand einer Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen geworden, von denen im Folgenden vier wesentliche Bücher vorgestellt werden sollen.

Jan-Werner Müller: What is Populism? New York: Penguin 2017, 160 Seiten.

Steven Levitsky und Daniel Ziblatt: Wie Demokratien sterben. Und was wir dagegen tun können. Frankfurt: DVA Verlag 2018, 320 Seiten

Yascha Mounk: Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. München, Droemer Knaur 2018, 350 Seiten

David Runciman: How Democracy Ends. London: Profile Books 2018, 249 Seiten

Allen vier Büchern ist gemein, dass sie primär von der Auseinandersetzung mit dem Phänomen des meist rechtsgerichteten Populismus ausgehen und vor allem US-Präsident Donald Trump im Visier haben. Aber alle Bücher bemühen sich in unterschiedlichem Ausmaß auch darum, die strukturellen Probleme zu beleuchten, die hinter der Zunahme des Populismus stehen und die einen tieferen Blick auf die derzeitige Krise westlicher Demokratien gewähren.

Das Buch von Jan-Werner Müller, einem deutschen Politikwissenschaftler, der an der Princeton Universität lehrt, befasst sich primär mit dem politischen Populismus, weniger mit der Krise westlicher Demokratien generell. Populismus – den es in einer rechten und in einer linken Variante gibt – ist für ihn aber ein Krisensymptom repräsentativer Demokratien.

Das Buch wurde unter dem Eindruck des Brexit Votums und des Erfolgs von Donald Trump bei den Präsidentschaftswahlen im November 2016 geschrieben. Populisten, so Müller, tendieren dazu sich als Anti-Establishment zu gerieren und den Eindruck zu vermitteln, dass das politische Establishment an dem Willen des Volkes vorbei regiere und dass nur allein sie wüssten, was das Volk wirklich wolle. Tatsächlich sei der Populismus – besonders der konservative Populismus – eher eine Variante eines anti-pluralistischen Denkens. Dahinter stehe der Anspruch auf Alleingültigkeit der eigenen, meist sehr holzschnittartigen politischen Vorstellungen und die totale Diskreditierung anderer Vorstellungen. „Populism inevitably involves a claim to a moral monopoly of representing the supposedly real people – and also inevitably results in exclusionary identity politics,“ so der Verfasser.

Der Schaden, den Populisten anrichten, beträfe vor allem die politische Kultur eines Landes, das heißt die Art und Weise wie die Vertreter unterschiedlicher politischer Parteien und Richtungen miteinander umgehen. Sobald populistische Parteien mit ihren vereinfachenden Parolen in den politischen Diskurs eindringen, hätten sie bereits einen verderblichen Effekt auf die politische Meinungs- und Entscheidungsbildung. Zwar sind Populisten in den wenigsten Fällen in der Lage, die Mehrheit wirklich zu repräsentieren. Aber sie können etablierte politische Parteien dazu bringen, sich in Richtung Populismus zu entwickeln und dessen Parolen zu übernehmen – so wie in der Republikanischen Partei in den USA oder bei den Tories in Großbritannien.

Der Verfasser warnt in seiner gut geschriebenen, klar verständlichen und vor allem gut recherchierten Analyse davor zu glauben, dass sich das Phänomen des Populismus von alleine erledigt, sobald diese an der Macht sind und ihre Inkompetenz offenkundig wird. Vielmehr beschwört Müller die Gefahr, dass Populisten alle ihre Fehler der Opposition, den Medien oder dem Establishment anheften und sich als Opfer ausgeben. Das haben Politiker wie Erdogan, Hugo Chávez oder Donald Trump gemein. Aber nicht nur das: Solange sie komfortable Mehrheiten in Parlamenten haben, versuchen sie demokratische Kontrollmechanismen und Machtblockaden aufzuheben, um sich gegen Machtwechsel zu immunisieren. In dieser Tendenz sieht Müller die hauptsächliche Gefahr heutiger Populisten. Das Buch ist weniger eine tiefgreifende, die wissenschaftliche Literatur erschöpfend berücksichtigende Analyse, sondern vielmehr ein ungemein anregender und geistreicher Essay, den man nur empfehlen kann.

Das wissenschaftlich profilierteste der hier vorgestellten Bücher ist das von Levitsky und Zieblatt „Wie Demokratien sterben“. Die Autoren sind Professoren für Regierungslehre an der Harvard Universität und haben sich in vergleichender Weise mit dem Scheitern von Demokratien befasst. Sie schreiben, dass das Scheitern von Demokratien nichts Neues und nichts Außergewöhnliches ist. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts gab es immer wieder scheiternde Demokratien, darunter auch die Weimarer Republik, was in direkter Folge zum Zweiten Weltkrieg führte. Das Scheitern der Demokratien in den 30er Jahren sei eine Folge der harten Klassengegensätze und der zurückhaltende Rolle des Staates bei der Regulierung der Wirtschaft gewesen. Auch hätten Defizite in der Sozialstaatlichkeit sowie bei den institutionellen Regelungen vieler Verfassungen den Niedergang nicht verhindern können.[2] Damals hätte die Unfähigkeit demokratischer Systeme die wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen zu Bündnissen zwischen moderaten Kräften und autoritären Bewegungen und Personen geführt, die in der Regel in Diktaturen endeten. Ähnliche Strukturen seien heute wieder zu beobachten, aber die Wege der Entartung von Demokratien verliefen heute anders.

In einem ersten Schritt versuchen die Autoren wesentliche Indikatoren für die Transformation einer funktionierenden Demokratie in ein autoritäres System aufzuzeigen. Diese sind ihrer Auffassung nach:

  1. Die Infragestellung oder gar Ablehnung wichtiger demokratischer Spielregeln. Vor allem der Machtwechsel wird in Frage gestellt. Ist eine Mehrheit einmal errungen, wird sie mit allen Mitteln verteidigt und soll dauerhaft werden.

  2. Die Leugnung der Legitimität demokratischer Konkurrenten. Diese äußere sich in einem zunehmenden Freund-Feind-Denken und einer Polarisierung unter den politischen Parteien.

  3. Die schleichende Legitimierung von politischer Gewalt sowie die damit einhergehende Verrohung der Sprache. Politisch motivierte Gewalt wird zwar verurteilt, aber sie wird auch gerechtfertigt.

  4. Versuche bürgerliche Freiheiten von politischen Gegner und Medien zu beschneiden.

Im zweiten Schritt führen die Verfasser verschiedene Beispiele der autoritären Entartung von Demokratien in Lateinamerika, Asien und Europa an und versuchen die Systematik im Vorgehen zu beschreiben. Im Wesentlichen wird dabei aufgeführt, wie autoritäre, illiberale „Demokraten“ versuchen jene verfassungsmäßigen Organe, die ihre Macht beschränken, zu entmachten (Parlamente in Präsidentiellen Systemen) oder Schiedsrichterinstitutionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Typische Vorgehensweise seien dabei die massive Einflussnahme auf Verfassungsgerichte und andere Oberste Gerichte durch Einsetzen von neuen Richtern und die Politisierung der Justiz durch die Ersetzung kritischer Richter durch regierungstreue. Des Weiteren seien die unabhängigen Staatsorgane (Rechnungshöfe, Zentralbanken, Schiedseinrichtungen etc.) Gegenstand massiver Einflussnahme. Darüber hinaus werde versucht, unabhängige Medien zu isolieren, diese durch Kauf oder Enteignung oder feindselige Übernahme kaltzustellen oder anderweitig zu marginalisieren. Außerdem würden parteiähnliche Organisationen und Lobbygruppen dazu benutzt um politische Gegner anzufeinden und unter psychischen und physischen Druck zu setzen.

Sofern Parlamente ein Hindernis darstellen, werde versucht durch Manipulation des Wahlvorgangs die eigene Machtposition zu halten (z. B. bei der Erstellung von Wählerlisten, der Ausgrenzung von einzelnen Wählerschichten, der selektiven Nutzung staatlicher Medien, oder gar die direkte Manipulation des Wahlergebnisses). Auch sei die Verschiebung von Wahlterminen und die Behinderung des Wahlkampfes oppositioneller Parteien durch Proteste oder Schläger ein probates Mittel um an der Macht zu bleiben.

In einem dritten Schritt fragen die Verfasser, ob und wie effektiv die verfassungsmäßigen Institutionen moderner Demokratien in der Lage sind, diesen autoritären Tendenzen entgegen zu wirken. Sie gelangen zu dem ernüchternden Befund, dass vor allem die ältesten Demokratien (USA und Großbritannien) am stärksten gefährdet sind, weil sie (anders als das deutsche Grundgesetz) derartige feindliche Übernahmen nicht im Visier hatten. Zwar gehe die US Verfassung noch stark von der Gewaltenteilung aus (Kongress, Präsident, Oberstes Gericht), aber wenn eine Partei die Macht im Weißen Haus und im Kongress hat, dann gäbe es kaum noch Hindernisse. Diese Defizite existierten schon länger, sie seien aber bislang nicht wirkungsvoll gewesen, weil es in den USA, in Großbritannien und in den meisten kontinentaleuropäischen Parlamentarischen Demokratien eine Kultur des demokratischen Umgangs untereinander gegeben hätte, die wie eine Leitplanke gewirkt hätte. Es hätte sich ein gewisser Kodex des Umgangs miteinander entwickelt, in dem Sinne, dass man zivilisiert über politische Themen streitet, dass man Kompromisse sucht und dass man Mehrheitsentscheidungen akzeptiert und nicht versucht diese mit allen möglichen Tricks zu kippen.

In einem vierten Schritt untersuchen die Autoren die USA unter Trump. Sie argumentieren, dass die Tatsache, dass Trump Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei werden konnte, nur vor dem Hintergrund einer Radikalisierung dieser Partei zu verstehen ist, die bereits unter Ronald Reagan (1981–1989) einsetzte, zum ersten Mal aber bei der Kongresswahl im November 1994 durch den damaligen Parteivorsitzenden Newt Gingrich perfektioniert und zum dauerhaften Programm der Partei erhoben worden war. Dieser Wandel einer elitären und eher liberal-konservativen Partei zu einer Partei mit extrem konservativen und teilweise rassistischen sowie christlich-fundamentalistischen Strömungen, sowie einem klaren Hang zur Waffenlobby NRA (die das Recht eines jeden Amerikaners auf Waffenbesitzt hervorhebt) hat für Levitsky und Ziblatt den Weg zur Präsidentschaft Donald Trumps bereitet. Die Republikanische Partei konnte damit erfolgreich sein, weil sie Wähler aus den traditionellen weißen Unterschichten und Mittelschichten ansprach, die sich durch Globalisierung, Migration und Aufhebung der Rassentrennung in ihrem sozialen Besitzstand gefährdet sehen. Die Verfasser stellen bei Trump klare Tendenzen in Richtung autoritäre Führung fest und sehen Parallelen zu anderen autoritären Führern, die eine Demokratie zerstört haben. Insbesondere kritisieren sie die Republikanische Partei dafür, dass sie mit wachsender Geschlossenheit diese Politik mit trägt.

„Wie Demokratien sterben“ ist ein gut lesbares Buch, welches in klarer Sprache die Probleme der amerikanischen Demokratie und anderer repräsentativer Demokratien anspricht. Die Verfasser plädieren dafür, dass in einem mühsamen Prozess die politische Kultur einer Demokratie wieder hergestellt wird, in der politische Gegner nicht zu Feinden gemacht werden. Es bleibt aber auf die Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Kräften und Parteien beschränkt.

Das Buch „Der Zerfall der Demokratie“ von Yascha Mounk ist ursprünglich auch zuerst auf Englisch erschienen, wurde dann für die deutsche Ausgabe etwas angepasst und erweitert. Der Verfasser, ein junger Politikwissenschaftler aus München, der heute in den USA lebt und an der Harvard Universität tätig ist, beschränkt sich nicht nur auf die kritische Auseinandersetzung mit rechts- und linkspopulistischen Parteien (illiberalen Demokraten), sondern wirft ein weiter gespanntes Netz aus. Er konstatiert eine sehr viel tiefer gehende und schon länger andauernde Entkonsolidierung von Demokratien in der westlichen Welt. Diese macht er an unterschiedlichen Trends fest: (1) dem abnehmenden Vertrauen der Wähler in die zentralen politischen Institutionen heutiger Demokratien, (2) dem abnehmenden Vertrauen in die Integrität und Kompetenz von Parteipolitikern, (3) dem abnehmenden Interesse in der Bevölkerung an Politik (im Sinne einer Befassung mit allen Themen, die zum Gemeinwohl gehören), und (4) der zunehmenden Akzeptanz von autoritären Persönlichkeiten und Tendenzen in der Politik mit dem gleichzeitigen Rückgang der Wertschätzung von Demokratie. Diese Aussagen werden mit seriösen Statistiken untermauert, die der Verfasser zusammengetragen hat. Am bedrückendsten sind dabei die Aussagen des Verfassers zum Politikverständnis junger Menschen. Diese interessieren sich noch weniger als Erwachsende für Politik und sind leicht für politische Extreme zu begeistern. Nur ein Drittel der sogenannten Millenials – also der seit 1980 Geborenen – hält es für unerlässlich in einer Demokratie zu leben (S. 125).

Die Krise der Demokratie manifestiere sich zum einen in der Zunahme dessen, was gemeinhin illiberale Demokratie genannt wird, also dem vergrößerten Zuspruch für rechts- oder linkspopulistische Parteien und dem Übergang zu autoritären Strukturen, wenn diese an die Macht gerieten. Zum anderen manifestiere sich diese Krise in dem von ihm so genannten undemokratischen Liberalismus. Unter „undemokratischem Liberalismus“ versteht Mounk die Verlagerung von Entscheidungen in demokratisch nicht gewählte Institutionen, wie Zentralbanken, Gerichte, die EU Kommission, internationale Gremien oder auch nur die große Bedeutung, die staatlichen Bürokratien zukommt. Er äußert Verständnis dafür, dass diese Verlagerungen stattfinden, aber die dunkle Seite dieser Entwicklungen sei, dass dadurch „die Parlamente immer weniger Möglichkeiten“ haben, „den Willen des Volkes in Politik umzusetzen“ (S. 93).

Die Ursachen für die Entkonsolidierung der westlichen Demokratien sieht der Verfasser in drei Rahmenbedingungen:

  1. Die neuen sozialen Medien würden dazu beitragen, dass extreme Botschaften in den politischen Raum eindringen und eine Verrohung des politischen Diskurses einsetzt. Die etablierten Massenmedien in stabilen Demokratien hätten die Verbreitung extremer Fakten und Werte begrenzt und hätten einen Bestand allgemein geteilter Fakten und Werte geschaffen, der für einen konstruktiven demokratischen Diskurs zentral ist. Diese Rolle könnten sie wegen der sozialen Medien heute immer weniger wahrnehmen.

  2. In den ersten Jahrzehnten des demokratischen Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg hätten die Menschen rasche Verbesserungen ihres Lebensstandards erfahren. Damit sei es heute vorbei und wirtschaftliche Abstiegsängste würden überhandnehmen.

  3. Die westlichen Demokratien seien weitgehend mono-ethnische Nationen oder waren von einer ethnischen Gruppe dominiert. Mit der zunehmenden Migration aus nicht-westlichen Ländern seien die Privilegien dieser Gruppen heute in Frage gestellt.

Der stärkste Teil des Buches ist die Beschreibung der Entkonsolidierung der westlichen Demokratien. Bei den anderen Kapiteln wäre es besser gewesen, wenn sich der Verfasser breiter mit Demokratietheorie und der einschlägigen Forschung zu heutigen Regierungsproblemen auseinandergesetzt hätte. Dieser Mangel schlägt einem an den Stellen geradezu ins Gesicht, wo er die Defizite der heutigen parlamentarischen Demokratien beschreibt: Das „Parlament, einst das mächtigste politische Organ im Land, hat einen Großteil seiner Macht an die Gerichte, an die Bürokratie, an die Bundesbank und an internationale Abkommen und Organisationen verloren“ (S. 75). Wo er diese Einsicht her nimmt, bleibt unklar. Und: „in den letzten Jahrzehnten haben sich die politischen Eliten zu einem erstaunlichen Grad von den Ansichten der Bevölkerung abgekoppelt“ (S. 74). Auch hier fehlt jeglicher Hinweis darauf, wie sich dieser Grad an Entkopplung bemisst. Oder: „Laut der einfachsten Vorstellung von der Demokratie wählt das Volk Abgeordnete, die seinen Willen dann in Gesetze übersetzen“ (S. 79). Das ist tatsächlich eine wirklich simplifizierte Vorstellung von Demokratie, die vielleicht im 18. Jahrhundert umlief, aber heute völlig an der Realität vorbei geht. Und es kommt noch schlimmer und nähert sich Verschwörungstheorien: Viele Themen würden aufgrund von Handelsabkommen „aus der politischen Auseinandersetzung ausgeklammert“ und: „überschreite der Volkswille die Grenzen des Akzeptablen, wird er von technokratischen Institutionen in die Schranken gewiesen“ (S. 111). Gleichzeitig sei der „Einfluss von Lobbyisten“ gewachsen. Die Wissenschaft unternehme nichts dagegen, denn „dieses ganze selbstsüchtige System sei von einer neoliberalen Ideologie umhüllt, die von Universitäten und Thinktanks propagiert werde, deren Überleben von reichen Geldgebern abhängt“ (S. 112).

Das ist die Sprache von PEGIDA, AfD, Trump, Marine Le Pen, Nigel Farage und anderen Populisten und man fragt sich, was den Verfasser, der offensichtlich einen liberalen Hintergrund hat, dazu bringt diesen Tand ungeprüft zu übernehmen. Das fängt schon beim Begriff des „Volkswillens“ an, den der Verfasser immer wieder benutzt. Ein Blick in die Klassiker der Demokratietheorie und des modernen Parlamentarismus hätte genügt, um Abstand von diesem politischen Kampfbegriff zu nehmen, der irgendwo an Rousseaus Gemeinwillen anknüpft, aber eine unrühmliche Tradition hat. Schon Max Weber hat bereits vor 100 Jahren ausgeführt, dass die modernen Gesellschaften bezüglich materieller Interessen und religiöser und ideologischer Meinungsunterschiede so vielfältig seien, dass sich der Gebrauch der Wörter „Demos“ oder „Wählerwillen“ verbietet. Es gibt keinen einheitlichen Wählerwillen, sondern den Willen Vieler, die alle irgendwelche, meist konfligierende Wünsche haben, die der Staat erfüllen soll, und wofür er Steuern erheben und Bürokraten beschäftigen muss. Die Vielfalt der Gesellschaft ist heute noch größer als vor 100 Jahren und es ist daher völliger Unsinn, Politiker dafür zu kritisieren, dass sie „den Willen des Volkes“ nicht erfüllten. Das Hauptproblem heutiger repräsentativer Demokratien besteht nicht darin, dass der „Wählerwille“ nicht von der „politischen Klasse“ respektiert wird, sondern dass es immer schwerer fällt angesichts der zunehmenden unterschiedlichen Anforderungen an den Staat zu Lösungen zu gelangen, die Mehrheiten finden und nicht gleichzeitig die materiellen Ressourcen des Staates überfordern und die wirtschaftliche Konkurrenzfähigkeit des Landes und seinen sozialen Zusammenhalt gefährden.

Der „Zerfall der Demokratie“ hätte ein gutes Buch werden können, wenn sich der Verfasser ausgehend von der gelungen empirischen Analyse der Entkonsolidierung von Demokratien in abwägender Weise mit den unterschiedlichen Hypothesen zu deren Erklärung auseinandergesetzt hätte.

Das Buch „How Democracy Ends“ von David Runciman versucht einen noch größeren Bogen zu schlagen. Runciman ist Professor für Politikwissenschaft an der Cambridge University und als Experte für politische Theorie ausgewiesen. Er hat mehrere Bücher über Heuchelei in der Politik geschrieben und scheint eine Vorliebe für perplexe Zusammenhänge und historische Details zu haben. Er versucht eine Systematik aufzustellen, wonach repräsentative Demokratien aus drei Gründen enden können: (1) entweder übernimmt das Militär oder eine bewaffnete Gruppe die Macht; (2) oder es passiert eine Katastrophe (Krieg etc.), oder aber (3) es gibt Fehler im Mechanismus der Demokratie. Diese drei Ursachen werden ausführlich an Hand von historischen Beispielen und unter Verwendung einer Vielzahl von anekdotischen Begebenheiten abgehandelt. Für die Fragestellung nach der heutigen Krise westlicher Demokratien ist nur das dritte Kapitel wirklich interessant, aber dieses bleibt vage und unklar. Das liegt zum Großteil an der sprunghaften Argumentation, der weitgehend die Systematik und Empirik fehlt. Stattdessen werden historische Begebenheiten aus dem Ostpreußen des späten 19. Jahrhunderts, der Jugend von Gandhi und aus Silikon Valley irgendwie aufgetischt, ohne dass deren Erkenntniswert erkennbar wird. Man hat den Eindruck, dass hier ein Autor mit einem gewaltigen Arsenal an Zettelkästen am Werk ist, der ähnlich wie weiland Peter Scholl-Latour einfach die Vielzahl seiner kleinen Erzählungen wirken lässt. Der Gesamteindruck ist widersprüchlich, wenngleich man immer wieder gute Gedanken entdeckt, die auszumachen allerdings einiges Geschick erfordert. So ist er bei der Analyse der schädlichen Auswirkungen der sozialen Medien etwas ausführlicher als Mounk, da er etwa auch die Aktivitäten von Cambridge Analytica aus Anlass der US Präsidentschaftswahlen 2016 kritisch unter die Lupe nimmt. Erfrischend sein Hinweis, dass Donald Trump weniger gefährlich sei für die Demokratie als Mark Zuckerberg. Trump markiere für ihn die Midlife-crisis der Demokratie. Er sei so etwas wie die Harley Davidson, die sich manche Mittfünfziger leisteten, aber dann wieder ablegten. Zuckerberg hingegen stehe für die Einführung sozialer Medien, die die Demokratie dauerhaft beschädigten. Auch fällt im Gegensatz zu Mounk sein pragmatischer Umgang mit dem Begriff „Demokratie“ auf. Das Abschlusskapitel setzt sich mit der Frage auseinander, welche Alternativen es zur repräsentativen Demokratie gibt und ob Churchills Diktum immer noch gelte, wonach die repräsentativen Demokratien zwar schlechte Regierungssysteme seien, aber immer noch besser als alles, was bislang ausprobiert worden ist. Zumindest gäbe es heute in China den Versuch ein nicht-demokratisches Regierungssystem zu etablieren, welches effektiver sein könne als das demokratischer Staaten. Runciman löst dieses Puzzle aber nicht auf, sondern hinterlässt den Leser mit dem Hinweis, dass repräsentative Demokratien zumindest zwei Vorteile haben: sie wahren die Würde des Individuums und sie beinhalten eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die Bürger in wirtschaftlich gesicherten Umständen leben können. Alles in allem ein Buch, welches man nicht unbedingt gelesen haben muss.

Zusammengefasst lassen einen die vier Bücher mit einer Reihe von Frage zurück: Ist das Aufkommen von populistischen Parteien (bzw. die Transformation bestehender Parteien in rechts- oder linkspopulistische Parteien) die Ursache der Krise der repräsentativen Demokratien, oder ist sie nur Symptom einer tieferen, strukturellen Krise? Wenn sie nur ein Symptom ist, dann bleibt die Frage, ob Populismus ein dauerhafter Zustand ist (und zum Ende der Demokratien führen wird) oder ob er wieder abklingen wird und eine Normalisierung zu erwarten ist? Wenn strukturelle Ursachen für die Krise der Demokratien verantwortlich sind, lassen sich diese beeinflussen oder beheben? Auf diese Fragen bieten die Bücher nur unvollständige und sich widersprechende Antworten.

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Published Online: 2019-09-07
Published in Print: 2019-09-01

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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