Relative Machtveränderungen zwischen Staaten und Regionen erfolgreich zu managen, gehört zu den größten Herausforderungen der internationalen Politik. Was es für den Westen bedeutet, wenn sich das Gravitationszentrum der Weltpolitik in Richtung Asien verschiebt, und wie eine strategisch kluge Reaktion aussähe, sind für die USA und ihre Partner wichtige Fragen. Eine im Oktober 2017 vom Atlantic Council veröffentliche „Strategie für das Transpazifische Jahrhundert“ will Antworten bieten.
Die knapp 60-seitige Studie hebt sich in zweierlei Hinsicht von thematisch vergleichbaren Arbeiten ab. Erstens basiert sie auf mehrmonatigen Diskussionen im Rahmen der vom Atlantic Council Ende 2016 ins Leben gerufenen ‚Asia-Pacific Strategy Task Force‘. Der Task Force gehörten namhafte Vertreter aus Wissenschaft, Wirtschaft, Militär und Politik aus Europa, Asien und den USA an, den Vorsitz übernahmen Carl Bildt, Victor Chu und Jon Huntsman, jr. Zweitens bemüht sich das Papier, die USA, Europa und Asien in Bezug zueinander zu setzen.
Die Analyse verläuft in vier Schritten: Zunächst beleuchten die Autoren ausführlich die strategische Ausgangslage in Asien sowie die Entwicklungstrends bis 2030, anschließend benennen sie Kernziele, formulieren einen Strategieentwurf und bieten Ratschläge für die Implementierung. Die Grundprämisse des Berichts lautet, dass die offene, regelbasierte internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA mit ihren Partnern gestaltet und unterhalten worden ist und ein präzedenzloses Maß an regionaler und globaler Stabilität, Sicherheit, Wohlstand und Freiheit garantiert hat, in Asien bedroht sei (S. 2). Da in einer globalisierten Welt die potenziellen Konsequenzen weit über die Region hinausreichen, muss darauf im pazifischen und im atlantischen Raum reagiert werden: „If the twentieth century could be characterized as the Trans-Atlantic Century, the twenty-first century may well become known as the Trans-Pacific Century.“ (S. 2).
Zu den Faktoren, die die strategische Lage radikal verändern, zählt der Bericht (1) die Kräfteverschiebung von West nach Ost. Schon Mitte des Jahrhunderts könnte mehr als die Hälfte der globalen Wirtschaftsleistung in Asien erbracht werden, womit sich der relative Regionalanteil innerhalb von nur 50 Jahren verdoppelt hätte. Wirtschaftlicher Machtgewinn führt in der Regel zum Ausbau militärischer Fähigkeiten. In Asien manifestiert sich dieser Trend bereits, und die Region dürfte zum zentralen Schauplatz von Großmachtrivalitäten im 21. Jahrhundert werden. Dabei ist (2) China ökonomisch wie militärisch der wichtigste Akteur. Wie die Volksrepublik in Zukunft damit umgeht, ist entscheidend. Schon jetzt schürt ihr neues außenpolitisches Selbstbewusstsein Ängste. Zugleich verändert sich (3) die ökonomische Architektur, weil die nach 1945 etablierten Bretton Woods-Institutionen die realen Machtverhältnisse immer weniger abbilden und China in neue ordnungspolitische Großprojekte investiert (z. B. Gründung der AIIB; Neue Seidenstraße-Initiative). Ob (4) die USA künftig noch fähig und willens sein werden, ihre angestammte Führungsrolle im asiatisch-pazifischen Raum auszuüben, steht dagegen in Zweifel, weil ihre militärische Vormachtstellung in der Region erodiert und US-Präsident Donald Trump mit seiner „America First“-Agenda zum ordnungspolitischen Rückzug bläst. Daneben bedrohen (5) Nordkoreas Nuklearprogramm, (6) das Eskalationspotenzial für zwischenstaatliche Konflikte, (7) Territorialstreitigkeiten im Südchinesischen Meer, (8) die machtpolitische Dynamik der Region, (9) wachsender Nationalismus, (10) die Ausbreitung von Extremismus und Terrorismus, (11) Fragen von Nahrungsmittel-, Wasser- und Energiesicherheit sowie Klimawandel und (12) die Verbreitung „disruptiver Technologien“ (z. B. künstliche Intelligenz; Robotik) die Stabilität Asiens.
Was steht für die USA und ihre Partner auf dem Spiel? Als Kerninteresse nennt der Bericht den Erhalt der offenen, regelbasierten Ordnung in Asien und darüber hinaus. Ziel müsse es also sein, „to continue pursuing the objectives of security, prosperity, and freedom through the adaptation, revitalization, and defense of an updated rules-based international order in Asia“ (S. 24). Grundprinzipien preiszugeben und aufsteigende Mächte mit einer Politik des Entgegenkommens („accommodation“) zu besänftigen, sei daher ebenso wenig zielführend wie eine Politik der Eindämmung („containment“), die Spannungen anheizen würde. Stattdessen brauche es einen Mittelweg: Neue Mächte sollten eingebunden werden in bestehende Regelsysteme mit hohen Standards, doch die Governance-Strukturen müssten an die veränderte Lage angepasst werden.
Der Bericht nennt fünf Strategieelemente, um dieses Ziel zu erreichen: Erstens müssten sicherheitspolitische Allianzen und Partnerschaften in der Region gestärkt werden, wofür der Erhalt der US-Militärpräsenz unerlässlich sei. Zweitens brauche es ein konstruktives Verhältnis zu China. Kooperationsmöglichkeiten müssten ausgeschöpft, aber eigene Interessen selbstbewusst vertreten werden. Drittens sollten Wirtschafts- und Finanzinstitutionen sowie die Handelsarrangements der Region weiterentwickelt und die Teilhabe der USA gefestigt werden. Viertens brauche es neue Formen der Zusammenarbeit bei Zukunftsthemen, z. B. im Bereich Lebensmittel- und Wassersicherheit. Fünftens sollten gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte gefördert werden. Um diese Strategie erfolgreich zu implementieren, sei es unerlässlich, dass die Stakeholder der etablierten Ordnung – die USA und ihre Partner in Europa und Asien – zusammenhalten: Es müsse sowohl in Asien regionale Unterstützung kultiviert als auch die transatlantisch-transpazifische Kooperation intensiviert werden.
Zwar erfindet die „Strategie für ein Trans-Pazifisches Jahrhundert“ des Atlantic Council das Rad nicht neu. Doch sie vermittelt zwei Einsichten, die es in Europa zu durchdenken gilt: Die bisherige Sprachlosigkeit zwischen den „Transatlantikern“ und den „Transpazifikern“ muss überwunden werden, wenn der Westen die regelbasierte internationale Ordnung bewahren will. Ob es gelingt, hängt maßgeblich von den USA als dem unverzichtbaren Schlüsselstaat ab. Gut ein Jahr nach dem Amtsantritt von Donald Trump stehen die Chancen dafür leider nicht gut.
http://www.atlanticcouncil.org/images/ACSP_ASIA_STRATEGY_No12_FINAL11.pdf
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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