Die Autoren, Ian Brzezinski vom Brent Scowcroft Center on International Security und von der Atlantic Council's Strategic Advisors Group und Tomáš Valášek, ehemaliger Botschafter der Slowakei zur NATO und nun von Carnegie Europe, sehen die NATO mit einer beschleunigten Abfolge von sicherheitsrelevanten Geschehnissen konfrontiert. Dabei handele es sich um ein komplexes Wechselspiel von Konfrontationen mit Großmächten, failed states, gewalttätigen Extremistengruppen und um den Einsatz neuer Technologien durch kleine und große Gegner. Dieser „speed of war“ müsse durch eine „speed of decision“ begegnet werden; die NATO benötige Strukturen für schnelle Entscheidungen, die ein umfassendes Informationsmanagement (intelligence) beinhalteten.
Die NATO habe sich vom erfolgsgekrönten Prinzip der Abschreckung im Kalten Krieg hin zu einem Prinzip des „engagement“ entwickelt, wie die peace-keeping und peace-enforcement Einsätze im Balkan, die capacity-building Missionen in Europa und dem Nahen Osten und die Beteiligung in Afghanistan gezeigt hätten. Heutzutage sei die NATO jedoch durch neue Herausforderungen betroffen, die direkt ihr Territorium und ihre Bevölkerung bedrohten. Russlands Aufrüstung und Invasionen nach Georgien und in die Ukraine seien direkte Angriffe auf die nach dem Kalten Krieg gefundene Ordnung. Die Proliferation von (teils massenvernichtungsfähigen) Waffen erweiterte den Aktionsradius von Nordkorea und des Irans. Hinzu kämen Bedrohungen durch Terroristen, durch den Cyber War sowie durch den Informationskrieg. Anders als in der Vergangenheit seien dabei anfängliche Fehler schwieriger auszugleichen, weil dem Gegner schon wenige Stunden einen erheblichen Vorteil verschaffen könnten.
Die NATO habe in jüngster Vergangenheit, unter anderem um keinen diplomatischen Eklat zu provozieren und Kosten zu sparen, auf Trainings verzichtet, die eine direkte Konfrontation mit einem Gegner zum Übungsgegenstand gehabt hätten. Die Regeln eines „engagement“ stellten nämlich auf Kooperation mit dem Gegner statt auf Eskalations- und Konfliktverhalten ab: Peace-keeping und peace-enforcement Fähigkeiten unterschieden sich von denen der Kriegsführung.
Um den neuen Herausforderungen zu begegnen, seien nun drei Bedingungen zu erfüllen: Die NATO müsste Konfliktsituationen schnell kommunizieren, identifizieren und interpretieren können („speed of recognition“). Danach sei eine schnelle Entscheidung zu treffen („speed of decision“), die die Möglichkeiten eines Handlungsspielraum („decision space“) nutzen solle, um Eskalationen einzudämmen. Letztlich müssten die militärischen Mittel unmittelbar zum Einsatz gebracht werden können („speed of assembly“). Entsprechende Schritte in diese Richtung wären die angestiegenen Militärbudgets der Mitgliedsstaaten sowie die Entscheidung des Warschauer Gipfels, Bataillone im Baltikum zu stationieren.
Eine strukturelle Veränderung der NATO stünde jedoch noch aus: Die Entscheidungswege über Brüssel und die Institutionen der Mitgliedsstaaten dauerten zu lange, gerade weil in Zukunft Entscheidungen oft innerhalb weniger Stunden benötigt werden dürften. Dazu müssten Szenarien und potentielle Lösungswege geplant werden, bevor der Konfliktfall eintrete. Dieses könnte durch „Regular NAC Intelligence Briefings“ zu den wahrscheinlichsten Situationen geschehen. Die Berichte der NATO Strategic Assessment Cell (SAC) seien nicht nur dem Generalsekretär, sondern auch den Mitgliedsstaaten zugänglich zu machen. Informelle Diskussionen mit Experten von SHAPE könnten die Szenarioausarbeitung unterstützen. Zudem seien die NATO-Simulationen auf ihre Komplexitätstiefe und Realitätstreue zu prüfen und unter Einbindung der Minister der Mitgliedsstaaten durchzuführen. Letztere könnten zudem nationale „Red Teams“ vorhalten, die im Krisenfall schnelle Entscheidungswege herstellen würden.
Das Frühwarnsystem könne optimiert werden, indem u. a. die Möglichkeiten moderner Kommunikation stärker ausgeschöpft würden. Zudem müssten auch Geschehnisse, die nicht eindeutig militärisch seien, berücksichtigt werden, um die Hybridität moderner Kriegsführung abzudecken.
Die Regeln zum Krisenfall, unter anderem im NATO Crisis Management Handbook, müssten letztlich dahingehend vereinfacht werden, dass sie verständlich und weitgehend interpretationsfrei seien. Zudem sollte dem Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) die Befugnis erteilt werden, im Krisenfall ohne weitere Rücksprachen (allenfalls mit dem Generalsekretär) die NATO Response Force (NRF) zu mobilisieren und im NATO-Gebiet zu verlegen.
Die Autoren erkennen die Möglichkeit, dass die NATO als multilaterale Institution einem Einzelakteur in dessen Entscheidungsgeschwindigkeit wahrscheinlich immer unterliegen dürfte. Die von ihnen vorgeschlagenen Schritte würden dieses Defizit jedoch verringern. Es sei wichtig, dass ein potentieller Gegner von einer tatsächlichen Einsatzfähigkeit und Entscheidungsentschlossenheit der NATO auszugehen habe, einschließlich der Anwendung der nuklearen Mittel. Dadurch würden sowohl ihre Abschreckungsfähigkeit und ihre Möglichkeiten des Krisenmanagements, als auch das Vertrauen der Mitgliedsstaaten in die Allianz gestärkt.
https://www.globsec.org/wp-content/uploads/2017/05/GNAI-reanimating-natos-warfighting-mindset.pdf
© 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston
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