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Gerhard Müller 1929–2024

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Published/Copyright: November 7, 2025

Am 10. Mai 2024, seinem 95. Geburtstag, verstarb der evangelische Theologe Gerhard Müller in Erlangen. Größere Bekanntheit erlangte Müller in Deutschland in seinen Funktionen als braunschweigischer Landesbischof (1982–1994) und Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (1990–1994). Neben seinen vielfältigen pastoralen Verpflichtungen als Vikar, Pfarrer und Bischof engagierte sich Müller als Wissenschaftler in Lehre und Forschung. Schon während seines Studiums der evangelischen Theologie und der Geschichte in Marburg, Göttingen und Tübingen interessierte er sich schwerpunktmäßig für die neuere Kirchengeschichte und Themen der Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert. 1955 wurde er mit einer Arbeit über „Das Krieg büchlin des frides“ des schwäbischen gelehrten Theologen Sebastian Franck (1499–1543) und Friedensvorstellungen in der Epoche der Reformation an der Universität Marburg promoviert. 1960 habilitierte sich Müller an derselben Universität in Kirchen- und Dogmengeschichte mit seiner Edition der Nuntiaturberichte von 1530/1531 nebst einer separaten Analyse der kurialen Deutschlandpolitik jener Jahre. 1967 übernahm Müller nach Ablehnung mehrerer Rufe den Lehrstuhl für Historische Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, den er bis 1982 innehatte. Sein hohes wissenschaftliches Ansehen spiegelt sich auch in zahlreichen Ehrungen (Ehrendoktorwürde der Universität von St. Andrews/Schottland; Honorarprofessur in Göttingen) und Mitgliedschaften von Kommissionen und Akademien wider. In seinem umfangreichen wissenschaftlichen Œuvre behandelte er Fragestellungen von Religion, Konfession und Gesellschaft, deren zeitliche Spanne vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert reichen. Ein vorrangiges Forschungsinteresse bildeten zweifellos die Anfänge der Reformation Luthers und Konfessionsdebatten des 16. Jahrhunderts. Neben seinen Spezialuntersuchungen auf diesem Gebiet, die von bleibendem Wert und Relevanz sind, trat er als Mitherausgeber der monumentalen Theologischen Realenzyklopädie und der Edition der Werke des Reformators Andreas Osiander (1498–1552) hervor. Gerhard Müller schaltete sich aber auch immer wieder in aktuelle gesellschaftspolitische Debatten ein, wie z. B. zur umstrittenen Rolle Hans Meisers (1881–1956), des ersten Landesbischofs der evangelisch-lutherischen Landeskirche in Bayern, während des NS-Regimes.

Über mehr als drei Jahrzehnte unterhielt Gerhard Müller intensive Beziehungen zum Deutschen Historischen Institut in Rom.

Von 1957 bis 1959 hielt sich Müller zu einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten Forschungsaufenthalt am Institut auf, das sich damals noch am Corso Vittorio Emanuele im römischen Stadtzentrum befand. Bei seinen Recherchen im Vatikan entdeckte er die umfangreichen Korrespondenzen der im Umfeld des folgenreichen Augsburger Reichstags von 1530 agierenden Nuntien. Die Bearbeitung dieses Zeitabschnitts war zunächst wegen vermeintlicher Überlieferungslücken im Editionsprogramm der Nuntiaturberichte mit wenig überzeugenden Argumenten (so Georg Lutz) nicht berücksichtigt worden. Schließlich wurden die von Müller mustergültig bearbeiteten Korrespondenzen als Ergänzungsbände der 1. Abteilung der Nuntiaturberichte aus Deutschland (1533–1559) mit Unterstützung der Direktoren Walther Holtzmann und Gerd Tellenbach publiziert.

Vorbereitet durch Empfehlungsschreiben des damaligen Stellvertretenden Direktors Wolfgang Hagemann, der in der italienischen Archiv- und Bibliothekslandschaft bestens bekannt und vernetzt war, hatte Gerhard Müller zahlreiche Archive und Bibliotheken in Mittel- und Norditalien (Bologna, Genua, Mailand, Mantua, Modena, Parma, Bagnarola, Trient) konsultiert und darüber hinaus auch Material des Archivo General von Simancas und des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs für die Kommentierung und Ergänzung seiner Quellenpublikation herangezogen.

Zum Reichstag von Augsburg von 1530, der für die Ausbreitung und Konsolidierung der Reformation wichtigsten Zäsur zwischen Thesenanschlag und Religionsfrieden, entsandte Clemens VII. (1478–1534) Lorenzo Campeggi (1474–1539) und Girolamo Aleander (1480–1542), die wohl bedeutendsten Vertreter der päpstlichen Diplomatie der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Die Aktenpublikation Müllers gibt Einblicke in das Wirken der durchaus unterschiedlichen Persönlichkeiten von Aleander und Campeggi, von denen ersterer eher als intransigenter Hardliner auftrat, letzterer sich hingegen – im Rahmen der Möglichkeiten – konziliant und diplomatisch gab. Die Edition ergänzt den Stand der Forschung zum Utraquismus, zur Konzilsfrage und zur Italienpolitik der römischen Kurie, liefert aber vor allem neue Erkenntnisse über die letzten Versuche Roms (Campeggi), durch Kompromisse in Augsburg das Schisma im Reich zu beheben.

1966 kehrte Gerhard Müller für ein Jahr als Gastdozent an das DHI zurück. Bei seinem zweiten römischen Aufenthalt führte er seine Studien und Recherchen aus den 50er Jahren fort. Die Arbeiten an den Nuntiaturberichten und weiteren Quellenbeständen des Vatikan wurden nun zum Abschluss gebracht und mündeten zudem in eine Monographie zu den politischen und kirchlichen Aspekten des Pontifikats Clemensʼ VII. („Die römische Kurie und die Reformation 1523–1534“, Gütersloh 1969), ein bis heute unübertroffenes Standardwerk zur Beurteilung der Regierung des zweiten Medici-Papstes. Diese Darstellung stellt in gewisser Weise eine vertiefte Auswertung der Editionen der Nuntiaturkorrespondenz dar, so dass beide Forschungsleistungen eng aufeinander bezogen sind und sich ergänzen.

In den QFIAB veröffentlichte Gerhard Müller in den Jahren zwischen 1958 und 1977 sieben Artikel, die vor allem Probleme des Verhältnisses der Papstkirche zur frühen Reformation und Fragen im Zusammenhang mit der Textgattung der Nuntiaturberichte aufgreifen. So behandelte er unter anderem die Position des bedeutenden katholischen Kontroverstheologen Johannes Eck (1486–1543) hinsichtlich der Confessio Augustana, die weitgehend unerforschte Nuntiatur von Vincenzo Pimpinella (1485–1534) bei Ferdinand I. (1503–1564) um 1530 und lieferte den Versuch einer Gesamtbewertung der drei deutschen Missionen von Aleander (1520/1521, 1531/1532, 1538/1539). Weitere Beiträge kreisen um den Frankfurter Anstand (1539) und das Scheitern von Giovanni Salviati (1490–1553) durch eine Exklusive Karls V. im Konklave von 1549/1550, aus dem schließlich Giovanni Maria del Monte (1487–1555) als Julius III. hervorging. Die letzten beiden in der wissenschaftlichen Zeitschrift des DHI Rom erschienenen Texte von Müller beschäftigen sich mit grundsätzlichen Fragen der Edition von Nuntiaturkorrespondenzen. Zum einen unterstreicht der Autor dabei die Bedeutung der Textgattung für die Kirchengeschichte, vor allem für die Bereiche katholische Reform, Konfessionalisierung Europas, Kirche und Gesellschaft, wenngleich sie nicht als „Wunderquelle“ der Kirchengeschichte anzusehen sei (QFIAB 53 [1973], S. 173), da die Akten mehrheitlich von politischen Themen geprägt sind, wobei freilich eine scharfe Trennlinie zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre in der kurialen Außenpolitik der Frühen Neuzeit nur schwer zu ziehen sei, wie Müller zu Recht feststellte. In seinem Artikel zu den Nuntiaturberichten aus Mittel- und Osteuropa diskutierte Müller Vor- und Nachteile der verschiedenen Möglichkeiten der Auswahl einschlägiger Dokumente (thematisch, geographisch) und Methoden der Präsentation des Nuntiaturmaterials (Volltextedition, Regestierungen, Inventarisierungen).

Seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Bearbeitung von Quellen konnte Gerhard Müller auch in den 1976 gegründeten Arbeitskreis zur Edition frühneuzeitlicher Texte einbringen, deren Vorsitz er nach Klaus Ganzer übernahm und an dem u. a. Georg und Heinrich Lutz, Wolfgang Reinhard sowie Konrad Repgen mitwirkten. Ergebnisse mit Hinweisen zur Einrichtung von Texten in mehreren Sprachen (deutsch, lateinisch, italienisch, französisch, spanisch) erschienen 1981 in Bd. 72 des „Archivs für Reformationsgeschichte“.

Von 1974 bis 1991 war Gerhard Müller Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des DHI in Rom. Seine Expertise kam dabei vor allem dem klassischen Institutsprojekt der Nuntiaturberichte aus Deutschland, aber auch der ab den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts initiierten neuen Reihe der päpstlichen Hauptinstruktionen zugute, mit der die Editionsunternehmungen des DHI im Bereich der Frühen Neuzeit eine wichtige Ergänzung und Öffnung erfuhren im Sinne einer gesamteuropäischen Ausrichtung. Gerhard Müller hatte sich selbst mehrfach für eine Überwindung der aus dem 19. Jahrhundert herrührenden nationalen Begrenzung dieser zentralen Quellen des päpstlichen Staatssekretariats ausgesprochen (QFIAB 53 [1973], S. 170).

Die wissenschaftlichen Publikationen von Gerhard Müller werden ihren Referenzcharakter auch in Zukunft behalten. Viele und wichtige Arbeiten sind in Rom am Deutschen Historischen Institut entstanden. Sie haben den Ruf des wohl besten Kenners seiner Zeit für die Auseinandersetzung des Papsttums mit Luther und für die Konfessionsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts begründet.

Published Online: 2025-11-07
Published in Print: 2025-11-03

© 2025 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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Downloaded on 11.11.2025 from https://www.degruyterbrill.com/document/doi/10.1515/qufiab-2025-0025/html?lang=en
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