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Gewaltlust

Affekte und Massenmorde im Nationalsozialismus
  • Habbo Knoch
Published/Copyright: November 7, 2025

Abstract

In his lecture „Lust for Violence. Affects and Mass Murder in National Socialism“, published posthumously here, Habbo Knoch (1969–2024) examined the role of affective motivations in Nazi violence and asked why the scholarship has for so long been reluctant to consider the lust for violence as a central feature of perpetrators’ actions. Knoch argued that Nazi mass violence cannot be understood solely as a rationally organised process of extermination; rather, euphoria, disinhibition and a sense of empowerment also play a key role. For many perpetrators, violence was not just a means to an end, but an act of self-fulfilment by which they became integrated into a new social order. Knoch questioned whether perpetrators might have perceived their actions as an ‚attractive option‘ (Jörg Baberowski) and noted that violence was reinforced by positive feedback loops. At the same time, he emphasised that research had long shied away from analysing these dynamics to avoid falling into an individualising or pathologising trap. By interpreting the desire for affective violence as an integral component of organised mass violence and as a coalescing, epiphanic phenomenon of ‚socialised‘ violence in Nazi-German society, he advocated a differentiated view of Nazi crimes that gives equal weight to structural and emotional factors.

Schikanen auf offener Straße wurden für den Romanisten Victor Klemperer nach 1933 zur Alltagserfahrung. Am 1. Januar 1939 notierte er in seinem Tagebuch: „In Ulm jagte man … den Rabbiner mit angezündetem Bart um den Marktbrunnen und schlug ihm auf die Hände, wenn er nach dem Bart griff; er lag nachher mit Brandwunden im Krankenhaus.“ Am 17. August 1943 notierte Klemperer: „Auf dem Heimweg … Beschimpfungen eines gutgekleideten, intelligent aussehenden Jungen von etwa elf, zwölf Jahren. ‚Totmachen! – Alter Jude, alter Jude!‘“[1]

Wie diese zeugen unzählige Quellen von einer gleichsam alltäglichen Präsenz gewaltaffiner Affekte als einem wichtigen und weit verbreiteten Movens der Massengewalt im Nationalsozialismus: Berichte von Überlebenden repräsentieren weit verbreitete Formen exzessiver Gewalt seit 1933. Fotografien aus den von Wehrmacht und SS besetzten Gebieten dokumentieren affirmativ die dort weit verbreiteten Schikanen. Auch manche Zeugnisse der Täter belegen mit den Gewalthandlungen verbundene Affekte wie Leidenschaft, Lust, Freude und Befriedigung. Hunderte von Massakern ereigneten sich im Verantwortungsbereich der Wehrmacht auch außerhalb der unmittelbaren Vernichtungsmaßnahmen im Zuge des Holocaust, vor allem in der zweiten Kriegshälfte.

Aber warum fällt es selbst in der neueren NS-, Holocaust- und Täterforschung so schwer, solche Handlungen nicht nur als pathologische Form oder als abweichendes Verhalten von Einzelnen, sondern als Ausdruck weit verbreiteter affirmativer Täteraffekte, als Lust an der Gewalt und diese als festen Bestandteil des Gefühlsrepertoires im nationalsozialistischen Deutschland zu betrachten und zu analysieren?

Dies liegt sicherlich ganz wesentlich daran, dass sich die Forschung gerade in den vergangenen Jahrzehnten von den exkulpatorischen Argumenten der Nachkriegszeit abgegrenzt hat, einige wenige Verantwortliche und Gewalttäter als „Bestien“ zu pathologisieren. Sie hat vermehrt die Vergesellschaftung von Ausgrenzung und Gewalt als organisierte Gewalt untersucht.[2] Der Holocaust und andere Formen von Massengewalt im Nationalsozialismus werden als Geschehen mit eigenen Strukturen verstanden, die auf Routinen und Funktionslogiken, aber nicht auf einer affektiv besetzten Gewaltlust beruhen.[3]

Doch welche Rolle spielen in solchen strukturierten Gewaltkonstellationen individuelle oder kollektive Sinnesreize, Emotionen und Gefühle für den Ausbruch und die Durchführung von Gewalt? Inwieweit stellen Formen der Gewaltlust eine Motivation oder einen Antrieb für das Handeln dar und sind den Akteuren als solche bewusst? Was macht Gewalt unter solchen Umständen zu einer „attraktiven Lebensform“ oder einer womöglich bereitwillig genutzten „attraktiven Handlungsoption“?[4] Verselbstständigt sich das Ausüben von Gewalt durch die Lust daran oder die Lust durch die Gewalt? Welche Rolle spielen dabei weltanschauliche Legitimationen, Einstellungen oder Ordnungen? Wie hängt die Eskalation von kollektiver zu genozidaler Gewalt mit lustbesetzten Affekten zusammen?[5]

1 „Gewaltlust“ – eine Annäherung

Ein wesentlicher Grund für die verbreitete Skepsis gegenüber der Bedeutung einer Lust an und durch Gewalt für deren Entstehung, Dynamik und Folgen liegt in der neueren Geschichte ihrer Wahrnehmung. Wenn Akteure Gewaltlust empfinden, also ihr Gewalthandeln mit sinnlichen Stimulierungen positiv verbinden, gilt dies seit der Wende zum 20. Jahrhundert als wissenschaftlicher Indikator für eine krankhafte Abweichung. Die pejorative Besetzung des Verhältnisses von Gewalt und Lust spiegelt sich in der Unterscheidung zwischen einer „rationalen“ und einer „affektiven“ Form von Gewalt wider. Diese Dichotomie ist im Zuge der wachsenden Kontrolle menschlicher Aggressionen und der Ausweitung des staatlichen Gewaltmonopols entstanden, auch wenn durch den „Geist der Zweckmäßigkeit“ die „Leidenschaften der Gewalt nicht vollends“ verschwunden sind.[6]

Dem Bild einer rationalen, nämlich autoritätsgebundenen, routinierten, instrumentellen und normativ eingehegten Ausübung von Gewalt, die mit einem wachsenden Maß an Gefühlskontrolle und mit dem Handeln staatlich legitimierter Organe verbunden ist, steht eine affektive, als transgressiv und entgrenzt verstandene Gewalt gegenüber, der eine ausgeprägte emotionale Intensität zugeschrieben wird. Während die rationale Gewalt als Ausdruck einer erklärbaren Ordnung betrachtet wird, gilt die affektive Gewalt als etwas Irrationales, das sich einer nachvollziehbaren Erklärung entzieht.[7]

Als rational gilt im Sinne dieser Unterscheidung ein Gewaltakt, wenn er unabhängig von den Gratifikationen sinnlicher Rückkopplungen durchgeführt wird. In ähnlicher Weise wird von „instrumenteller“ oder „organisierter“ Gewalt gesprochen. Der Gewaltausübende ist idealer Weise nicht intrinsisch über den Akt der Gewalt zu dieser motiviert, sondern über Zwecke, die den Gewalteinsatz limitieren und legitimieren: Polizisten agieren demgemäß aus einem institutionalisierten Pflichtverständnis heraus, das sie als Vertreter der legitimen Ordnungsmacht durch die Internalisierung von Empfindungsnormen verkörpern, nach denen die von ihnen ausgeübte Gewalt keine Lustgefühle vermitteln oder durch deren Erwartung hervorgerufen werden darf.

Für die affektive Gewalt wird hingegen eine sinnliche Befriedigung des Gewaltakteurs durch den Gewaltakt als Kern seines Handelns angenommen. Wer Gewalt begeht, wird in einer besonderen Weise sinnlich stimuliert: Die Angst der Opfer wird „gerochen“, Täter „lachen“, spüren eine körperliche Reaktion, die mit sexualisierten Ausdrücken („geil“) oder Bildern des animalischen Anderen verbunden werden. Sie „weiden“ sich am Anblick ihrer Opfer, sie fühlen sich „befriedigt“ oder „erleben“ ihre Macht und ihr Handeln als Überschreitung ihrer alltäglichen, normalen Lebenssituation, als „Erfahrung absoluten Erfülltseins“.[8] Der Körper wird im Vollzug der affektiven Gewalt in einen anderen Zustand versetzt (Transgression), der als eine außergewöhnliche Steigerung und Überschreitung normaler Affektlagerungen wahrgenommen wird. Aus dem Arsenal der Gefühlssprache lassen sich Zustände der Lust als ein sinnlich wie emotional differenziertes Spektrum auch durch Begriffe wie Freude, Glück, Spaß, Sehnsucht, Unterhaltung, sich zu amüsieren oder zu ergötzen, Begierde, Verlangen, Begehren, Befriedigung, Begeisterung, Vergnügen, Euphorie, Triumph, Furor, Raserei und Rausch erfassen.

Gewaltlust wird hier in dreifacher Weise als eine positiv empfundene Stimulierung der Sinne und des Fühlens von Gewaltakteuren im Zusammenhang mit ihren Handlungen verstanden, die einander bedingen können: Erstens als eine bewusst herbeigeführte oder sich nicht-intentional einstellende und positiv empfundene Erregung durch ein gewalttätiges Handeln allein oder in Gruppenkontexten, zweitens als die vorherige, begleitende oder nachträglich affirmative Besetzung der Vorstellung eines solchen Gewaltakts sowie drittens als eine entsprechende nachträgliche affektive Empfindung des Gewalthandelns aufgrund damit verbundener Gratifikationen.

2 Gewaltlust in interdisziplinärer Perspektive

Das Phänomen der Gewaltlust steht in einem engen Zusammengang mit jenem transgressiven Momentum von Gewalt, das schon Elias Canetti als ansteckende „Entladung“ im Zusammenhang mit der Bildung von „Hetzmassen“ beschrieben hat.[9] Um dieses Momentum zu erklären, hat der französische Soziologe Georges Bataille die Fähigkeit und Bereitschaft zur Ausübung exzessiver Gewalt als eine natürliche Anlage des Menschen postuliert.[10] Unterdrückt durch zivilisatorische Kontrollmechanismen der Industriegesellschaft, äußere sie sich im Streben nach Souveränität als „ekstatische Selbststeigerung“.[11] Exzessive, sexualisierte Gewalt verstand Bataille als Mittel, um die moderne Verdinglichung und Entfremdung des Einzelnen zu überwinden. Zugleich sah er im Erlebnis der „Überschreitung“ das eigentliche Ziel des exzessiven Gewaltakts.

Auch René Girards Ansatz zur Erklärung exzessiver Gewalt rückt die affektive Überschreitung einer bestehenden Ordnung ins Zentrum. Er geht von einer archaischen Disposition der Menschen zur Gewalt aus, die im Konkurrenzprinzip und dem „mimetischen Begehren“ begründet liege. Sie konnte historisch zunächst nur durch Blutopfer, schließlich als symbolisches Opfer durch das Recht kanalisiert werden. Wächst der Druck innerhalb einer Gruppe zur wechselseitigen Anwendung von Gewalt und geraten ihre Sicherungssysteme außer Kontrolle, bietet sich nach Girard die Steigerung der „heiligen Gewalt“ als Ausweg an. In dieser Situation „stürzt sich (eine Gemeinschaft) oft blindlings in die Jagd auf den ‚Sündenbock‘. … Die Menschen wollen sich davon überzeugen, dass ihr Unglück von einem einzigen Verantwortlichen kommt, dessen man sich leicht entledigen kann.“[12]

Um die Gewaltlust besser zu fassen, ließe sich aus der Psychologie das Modell der „appetitiven Aggression“ der Psychologen Thomas Ebert und Roland Weierstall anführen. Im Zuge ihrer Forschung zu posttraumatischen Stressfolgen in afrikanischen Konfliktregionen haben sie unter Gewalttätern eine verbreitete Faszination an der Gewalt ausmachen können. Anders als die bekannte „reaktive Aggression“, bei der Gewalt dazu dient, Bedrohungen abzuwehren, werde bei der „appetitiven Aggression“ die angeborene „Jagdlust“ auf die Gewalt an anderen Menschen übertragen. Ursächlich seien dafür neuronale „Belohnungssysteme“. Um diese zu aktivieren, müssten allerdings „moralische und kulturelle Hemmungen außer Kraft gesetzt werden“, etwa durch die Entmenschlichung des Feindes. Die daraus resultierende „Menschenjagd“ könne „bis zum Blutrausch führen, dem Töten um seiner selbst Willen“. Gewalt erzeugt dabei eine „positive Rückmeldeschleife“: Je mehr Gewalttaten als positiv empfunden werden, „desto mehr werden sie ausgeübt und desto positiver werden sie empfunden“.[13]

In der neueren soziologischen Gewaltforschung bestehen hingegen grundlegende Vorbehalte gegenüber Erklärungen von Gewalt, die nach ihren Motiven und Ursachen fragen. Dazu werden von vielen neben Motivationen aller Art, die als instabil und deren Beschreibung als unzuverlässig gelten, auch Sinnesreize durch die Gewalt und Emotionen gerechnet. Stattdessen soll Gewalt „primär aus der Körperlichkeit“ begriffen werden. Ins Zentrum sind die Beobachtung und Beschreibung der Gewalt selbst, ihr situativer und interaktiver Charakter sowie ihre Folgen für die Opfer gerückt. Exemplarisch geht es nach Jan-Philipp Reemtsma um die „Beschreibung eines zwischenmenschlichen Verhältnisses“, ohne dabei „Sinnkonstruktionen“ – er nennt hier unter anderem „Lust“ – zu verwenden.[14]

Wie schwierig dann allerdings die Abgrenzung zu „psychischen oder sozialen Begebenheiten“ ist, zeigen Reemtsmas eigene Formulierungen: Menschen würden in Gewaltakten „nie einfach instrumentell“ handeln. Stets sei ein „existenzielles Moment im Spiel“.[15] Eine Erklärung durch einen möglichen affektiven Profit aus Gewalthandlungen betrachtet Reemtsma jedoch einerseits als „ohne Belang“. Denn Gewalt, so Reemtsma, sei „zunächst“ frei von etwaigen Motiven zu betrachten, um zu verhindern, sie durch individualisierte psychologisch-pathologische Erklärungen aus der Moderne zu eskamotieren.[16]

Andererseits erscheinen gewaltbezogene Affekte für ihn durchaus relevant zu sein: „Irgendetwas an der Tat zieht den Täter immer an …“, die Gewalttat übe „auf den Täter einen gewissen Appeal“ aus, und bestimmte „Aspekte der Tat“ befriedigten den Täter „unmittelbar“.[17] Reemtsmas Skepsis gegenüber psychologischen Motiven führt also nicht dazu, konsequent auf sie zu verzichten. Zudem räumt er der Selbstbestätigung des Gewalthandelns eine hohe Bedeutung ein.[18] Dafür hat er den Begriff der „autotelischen Gewalt“ geprägt, deren Ziel „sie selbst“ sei, „das heißt die Zerstörung eines anderen Körpers“.[19] Sie ist mit der „individuellen Chance verbunden, absolute Macht auszuüben: die schlechthin unbeschränkte Macht, die keinem Ziel mehr dient als ihr selbst“.[20]

Der US-Soziologe Randall Collins argumentiert, dass die jedem Gewaltakt vorhergehende Interaktion aufgrund einer menschlichen Tötungshemmung durch eine „confrontational tension“ gekennzeichnet ist, die im Zeichen einer beiderseitigen „fear“ steht. Gewalt ereignet sich demnach erst dann, wenn eine Seite den „emotional attention space“ einer Interaktionskonstellation so verändert, dass diese Angst überwunden wird. Dies geschieht, so Collins, meistens in Form eines „emotional rush“, den er als „forward panic“ klassifiziert. Löst sich die emotionale Anspannung der Konfrontationssituation unter bestimmten Bedingungen in einer „forward panic“ auf, droht der emotionale Umschlag zu einer Eskalation der Gewalt zu führen. Es kommt zum „overkill“.[21] Am ehesten tritt dies ein, wenn Wut, Ohnmacht und Hass eine „hot violence“ auslösen. Collins greift dabei ausdrücklich auf positive Täterstimulierungen wie „hysterical laughter“, „group entertainment“ und die „emotional zone“ bestimmter Gewaltgruppen („pump each other with enthusiasm“) zurück.[22] Allerdings basiert Collinsʼ Modell auf der „Normalordnung“ westlicher Gesellschaften und ist nicht anhand von vergesellschafteten Formen der Massengewalt wie im Nationalsozialismus entwickelt.

Für den Soziologen Ferdinand Sutterlüty, der Ursachen und Auswirkungen von Gewalt im biografischen Verlauf von Gewalttätern untersucht hat, stellt die affektive Dimension von Gewalt ein wichtiges „motivationales Agens“ für sie dar.[23] Sutterlüty unterscheidet dabei drei Ebenen: den „Triumph der physischen Überlegenheit“, die „Schmerzen des Opfers“ und die „Überschreitung des Alltäglichen“. Die „berauschende Erfahrung des Triumphs, der Stärkere zu sein und über den anderen verfügen zu können“ basiert auf der „physischen Unterwerfung des anderen …, um sich als mächtig und bedeutsam zu erleben“.[24] Die Motivation zur Gewalthandlung ist demnach untrennbar an eine wechselseitige „Körpererfahrung“ während des Gewaltakts gebunden: Auf der einen Seite steht die „unmittelbare körperliche Präsenz des Opfers“ und die „sinnliche Evidenz seiner Gebrochenheit“, auf der anderen Seite eine sich daraus speisende „euphorisierende Selbstwahrnehmung“. Das „Erlebnis der Verwundbarkeit“ eines anderen Menschen, seine Unterwerfung und dessen Schmerz werden zur „treibenden Kraft der Gewalthandlung“. Gleich einem Suchteffekt werde die Wiederholung dieses Zustandes angestrebt. Die positive Empfindung dieses Gewalthandelns beruht den Schilderungen von Wiederholungstätern nach auf einem Ausnahmezustand, in dem sich die Akteure in einer Weise als unmittelbar erleben, wie sie es sonst in ihrem Alltag nicht können.

3 (Massen-)Gewalt und ihre Affekte

Gerade die Kriege und die Massengewalt des 20. Jahrhunderts werfen die Frage auf, ob die strikte Unterscheidung zwischen rationaler und affektiver Gewalt für diese Kontexte tragfähig ist. Die verbreiteten „pleasures of war“ zeigen sich nach Joanna Bourke in vielfältigen Formen: dem Gefühl der Macht über Leben und Tod; der Befriedigung, mit dem Gegner auch einen ideologischen Feind oder eine als bedrohlich wahrgenommene Gefahr beseitigt zu haben; der Zufriedenheit über die eigene Tötungseffizienz („body count“); einem mit dem Einsatz bestimmter Waffen oder Gewaltformen einhergehenden, rauschartigen Zustand, der mit einer Automatisierung von Körperfunktionen einherging; dem Gefühl der Selbstaufwertung, wenn man sich wie der Hauptdarsteller in einem Film fühlt.[25]

Gewaltlust ist dabei verwandt, aber nicht zu verwechseln mit Phänomenen der Erleichterung und Distanzierung im Fronteinsatz, wie sie etwa Ernst Jünger in seinen Tagebüchern des Ersten Weltkriegs vor allem für die ersten Jahre vielfach notiert hat: „Kaum haben die Sanitäter einen um die nächste Brustwehr gebracht, wird schon wieder gescherzt und gelacht.“[26] Anders sieht es mit der erregenden Antizipation einer bestimmten Kriegssituation aus: „Ansturm“, „Zusammenprall“ und den „Feind aufs Korn“ zu nehmen, war Ernst Jünger in seinem ersten Kriegsjahr „nicht vergönnt gewesen“.[27] Als es soweit war, ging er mit seiner Einheit im März 1918 in einer „Mischung von Gefühlen hervorgerufen durch Aufregung, Blutdurst, Wut und Alkoholgenuß … auf die feindlichen Linien“ zu.[28] Eine solche Gewaltlust konnte nicht nur mit dem Kriegsgeschehen wachsen, sie wurde auch nach 1918 literarisch stilisiert.[29] So bekundete Ernst von Salomon 1930, er habe „von jeher … an der Zerstörung (s)eine besondere Lust“.[30]

Prototypisch findet sich Gewaltlust als Kriegserfahrung in einer Beschreibung einer Belagerung im Krieg gegen die Sowjetunion nach 1941 von Willy Peter Reese: „Plötzlich sprang einer auf. Niemand hatte den Befehl gegeben. Aber wir folgten ihm, atmeten befreit auf, unseres Daseins wieder bewußt, nicht tapfer, sondern in einer verzweifelten Lust, von Nichtstun und Warten zermürbt …, jäh von einer durchsichtigen, überhellen Begeisterung getragen, in einem transparenten Rausch. … Wir stürmten wie Besessene ….“.[31]

Der Übergang zum Gewalthandeln wird von Reese im Sinne einer „organisierten Plötzlichkeit“[32] beschrieben: als Sprung aus einer Phase der Entfremdung in einen exzeptionellen Zustand, in dem die körperlichen Sinne, das eigene Handeln und das Gefühl einer über die konkrete Situation hinausreichenden Transzendenz als Einheit erfahren werden. Der Ausbruch wird zu einer lustbesetzten „epiphanischen Erfahrung“,[33] die der eigentlichen Gewalt vorhergeht. Was während des Gewaltakts geschieht, schildert Reese nicht. Seine eigenen Gefühle beschrieb er durchaus als ambivalent („verzweifelte Lust“), und selbst dieser Zustand hielt nicht an: Am nächsten Tag erfasste ihn eine „ungewisse Mischung von Entsetzen und Enttäuschung“, ehe sich schließlich eine „unendliche Apathie“ einstellte.[34]

Die Beispiele belegen, dass physische Gewalt – wie auch Axel T. Paul argumentiert hat – wegen ihrer Körperlichkeit immer „affektiv aufgeladen“ ist und insbesondere in Kollektiven mit einer „tendenziell euphorisierenden Expansion der eigenen Körperlichkeit“ einher geht.[35] Antizipation, Durchführung und Erfahrung des Gewaltakts lassen eine neue soziale Situation entstehen, die eigene Strukturmerkmale und Logiken aufweist. Je mehr Subjekt und Gewalt in dieser neu entstehenden Situation eine Einheit bilden, desto eher wird die Tat, wie Bernd Weisbrod es im Sinne von Victor Turners Liminalität formuliert hat, als eine „shared holistic sensation of engaging in a transformative act with total involvement“ und einem „apparent loss of ego“ erlebt.[36] Gewalt auszuüben muss dabei auch als performative, gruppenbezogene Identitätspolitik betrachtet werden: Sie soll alle Zweifel an Zugehörigkeiten tilgen.[37]

4 „Sadisten“ als narrative Figuren

Explizite Beschreibungen von Gewaltlust sind aus vielen Zeugnissen von Opfern der nationalsozialistischen Massengewalt gut bekannt. Sie werden häufig auf eine bestimmte narrative Figur reduziert: den „Sadisten“ oder den „Schläger“.[38] Letztlich entspricht dies dem abgrenzenden Exkulpationsparadigma vieler Täter, diente den Opfern aber häufig dazu, das Gewalterlebnis überhaupt für sie darstellbar zu machen.

So notierte Victor Klemperer den Bericht eines jüdischen Arztes, der bei einer Haussuchung anwesend war, aber selbst nicht geschlagen wurde. Dort hatte offenbar einer der Beteiligten „gewissermaßen das offizielle Amt des Schlägers“ inne: „Fausthiebe ins Gesicht, Tritte mit dem Stiefel, auch gegen Frauen“.[39] Der „Schläger“ wird zur bestimmenden Figur: Er wendet ein besonderes Maß an Gewalt an und ist zudem federführend für die gesamte Aktion verantwortlich. Das dynamische Geschehen wird für den unmittelbar Beobachtenden wie für Klemperer durch diese Figur narrativ geordnet.

Wie hier finden sich in vielen Augenzeugenberichten der NS-Gewalt Beschreibungen von Täteraffekten oder Hinweise darauf. Als wiederkehrende Merkmale, die mit dem Phänomen der Gewaltlust verbunden sind, erweisen sich eine exzessive und eskalatorische Gewaltanwendung, ein emotional massiv aufgeladener Konfrontationsraum, das Zusammenspiel von Euphorie und Überlegenheit sowie die Erfahrungen physisch unterlegener Opfer. So erinnerte sich ein weiblicher Häftling des KZ-Außenlagers Hannover-Limmer später an eine Aufseherin unter dem Spitznamen „die Rote“. Sie verlas beim Appell vermeintliche Vergehen und ließ die betreffenden Häftlinge vortreten. Während des sich wiederholenden Ablaufs manifestierte und reproduzierte sie ihre Macht, indem sie die Angst der Opfer auskostete: „Die ‚Rote‘ ging an ihnen vorbei und betrachtete sie lange. Bevor sie eine schlug, weidete sie sich an ihrer Angst. Plötzlich löste sich die Spannung. Ein, zwei, drei oder vier kräftige Ohrfeigen klatschten. Zu glücklich das Opfer, das den Schock ohne Schwanken vertrug …“.[40] Der Auftritt war inszeniert und kalkuliert, das Verfahren erprobt. Die Sequenz des Auswählens, Wartens und Zuschlagens ging ebenso wie das Wissen um die Unsicherheit, ob man noch einmal oder wer als nächstes getroffen wird, mit einem Verhalten der Bewacherin einher, das von den Opfern als sadistisch und voyeuristisch erinnert wurde.

Eine ähnliche Täterfigur findet sich im Bericht von Heinz Wilhelmy über eine Massenerschießung in Berditschew Anfang September 1941.[41] Wilhelmy war als evangelischer Pfarrer nach einem Disziplinarverfahren von seinem Dienst freigestellt worden und seit 1939 Soldat bei der Wehrmacht. In Berditschew war er mit zwei anderen Soldaten dem Abtransport der Juden der Stadt mit ihren Bewachern zu deren Exekutionsort gefolgt. Was Wilhelmy sah, beschrieb er mehr als drei Jahrzehnte nach der Tat mit der größtmöglichen Distanz zu den Gewaltakteuren. „Da trat zwischen die ängstlich am Boden hockenden Juden ein Mann in schwarzer SS-Uniform, wahrscheinlich ein Unterscharführer, groß und mächtig. Er fing an zu brüllen und schlug mit einer russischen Nagaika (Peitsche mit Bleikugeln verknotet) … um die Leiber der am Boden Sitzenden, die mit ihren Händen und Armen ihren Kopf deckten.“ Dabei schrie er sie als „Judensäue“ an.[42] Zwei andere SS-Offiziere „gaben ihnen mit den Reitpeitschen leichte Schläge auf die Köpfe, spotteten und lachten zu ihren makabren Witzen und zogen an ihren Bärten“.[43]

In der spät entstandenen Quelle verkörpern die SS-Männer eine Übermacht, der sich keiner in den Weg stellen konnte. Indem Wilhelmy sie als sadistische Schläger beschrieb und deren Gewaltlust betonte, diente dies auch der eigenen Exkulpation, indem er sich habituell von ihnen distanzieren konnte. Seine eigene Rolle als Zuschauer reflektierte Wilhelmy nicht; offen muss auch bleiben, welche Emotionen er und die anderen Anwesenden tatsächlich hatten oder zeigten.

In ihren Selbstzeugnissen, aber vor allem in Prozessaussagen nach 1945 waren die Angeklagten darauf bedacht, keine affektive Bindung an ihr eigenes Handeln zu zeigen. So gab Johanna Anders, die als Aufseherin eines Neuengamme-Außenlagers angeklagt war, im Mai 1947 zu Protokoll: „Ich habe viel geschlagen. Ich habe nicht gern geprügelt.“ Aber zur Anwendung von Gewalt habe es keine Alternative gegeben, weil die „Gefangenen … keine Disziplin (hatten), sie benahmen sich wie Tiere. Ich stand unter Druck und konnte nicht anders handeln als sie zu schlagen. Es gab auch andere Gründe, sie zu schlagen.“[44]

Durch die Interpretation der Gewalt als weitgehend instrumentell und funktional wird ihre möglicherweise stimulierende Wirkung ausgeblendet. Täteraffekte werden so über die intensiv genutzten Gerichtsquellen kaum – und jedenfalls nicht unverdeckt – als systematischer Bestandteil des KZ-Systems greifbar, sondern als exzeptionelle Form gegenüber einer prioritären organisierten Gewalt isoliert.

5 „Organisierte Gewalt“ als Forschungsparadigma

Trotz der hohen Präsenz von Gewaltlust in vielen Quellen spielt diese in weiten Teilen der Forschung zu den NS-Verbrechen nur eine untergeordnete Rolle. Exemplarisch spricht sich Harald Welzer gleich zu Beginn seiner Studie „Täter. Wie ganz normale Menschen zu Massenmördern wurden“ explizit gegen psychologische Erklärungsansätze aus. Der Anteil psychisch auffälliger Personen unter den „zahllosen Vordenkern und Exekutoren der Vernichtung“ werde „regelmäßig auf fünf bis zehn Prozent taxiert“. Verglichen mit der Normalbevölkerung sei das nicht auffällig.

Affektive Gewalt taucht bei Welzer nur in Verbindung mit wenigen Akteuren auf, die als Repräsentanten einer pathologischen Minderheit das Bild bestätigen, die NS-Täter repräsentierten einen Querschnitt der „normalen“ Gesellschaft.[45] Einzelne Täter oder ganze Züge („Subgruppen“) hätten „Spaß“ an Erschießungen gehabt, zum Beispiel durch das Abhalten ihrer „Brotzeit“ auf einer Leiche. Sadistische Quälereien, das Vordrängen bei den Exekutionen oder sexuelle Vergehen betrachtet Welzer lediglich als Gelegenheitsgewalt unter Ausnutzung der „rechenschaftslosen Handlungsfreiheit“ (Herbert Jäger). Solchen Tätern räumt Welzer zwar eine gewisse strukturelle Bedeutung ein, weil sie hohe Exekutionszahlen für das gesamte Kollektiv sicherten und für die anderen als „negative Referenzfiguren“ dienten, von denen man sich distanzieren konnte.[46] Aber sie haben für Welzer keine Relevanz für seine Erklärung des Massenmords.

Welzer bestreitet in dem zusammen mit dem Historiker Sönke Neitzel verfassten Buch „Soldaten“, dass die „Männer persönliche Freude am Töten“ gehabt hätten. Stattdessen habe das „kaltblütige Töten“ von Menschen, die als „Feinde“ definiert waren, zum „praktischen Normengefüge“ gehört, ihrem in dieser Situation dominanten „Referenzrahmen“. Erschießungsaktionen hätten „einen Rahmen etabliert, in dem das Töten von Kindern schließlich nicht mehr war als die Konsequenz aus der praktischen Einsicht, dass die Ermordung der Juden erstens sinnvoll und zweitens machbar war“.[47] Da Menschen in der Lage seien, solche „partikularen Rationalitäten“ zu übernehmen, hätte sich die Mehrheit der an der Gewalt beteiligten Akteure in eine „Rollendistanz“ zu ihrem Handeln versetzen können und sei durch sie auch nicht moralisch korrumpiert worden.

Welzer weist vor allem auf Merkmale des Prozesses der Routinisierung und Distanzierung des Massenmordens hin: die Dynamisierung des Tötungsvorgangs, die Suspendierung von persönlicher Verantwortung durch den quasi-automatischen Ablauf, die Konzentrierung der Wahrnehmung auf die effiziente Verrichtung der Tötungsarbeit. Im Rahmen dieser organisierten Gewalt unterscheidet Welzer zwar verschiedene Typen, etwa den „Judenhasser“ oder den „Praktiker“, nennt aber nicht positive Täteraffekte, sondern „Stress“ als wesentlichen Grund für Abweichungen von der routinemäßigen Organisation des Mordens, bedingt etwa durch die schlechte Planung von Exekutionsorten oder den Widerstand von Opfern.

Die Zurückhaltung gegenüber Gewaltaffekten in Forschungen zur modernen (westlichen) Massengewalt ist aber auch darauf zurückzuführen, dass diese vornehmlich – auch von den Tätern selbst – als organisierte, arbeitsteilige Gewalt verstanden wird.[48] Diese Form der Gewalt ist durch mehrere Merkmale gekennzeichnet: Erstens geht es um die Gewalt von Kollektiven, die wie Staaten oder bestimmte Terrorgruppen über eine ausreichend stabile innere Ordnung und hinreichend starke Machtmittel verfügen, um ihre Ziele mit Gewalt durchzusetzen. Zweitens sind die Ziele dieser Kollektive durch politische, ökonomische, ideologische oder weltanschauliche Vorgaben bedingt. Gewalt wird drittens als systematisches Machtinstrument integriert und verschmilzt mit übergreifenden Maßnahmen weltanschaulicher, raumpolitischer oder ökonomischer Zielsetzung. Viertens entwickeln die im Rahmen der organisierten Gewalt eingesetzten Kollektive bestimmte Abläufe, Hierarchien, Verhaltenscodes und Ressourcenkonzepte, um den Einsatz von Gewalt planbar, transparent und steuerbar zu machen. Fünftens führt dies zu sozialen Binnenstrukturen, die auf der Tatsache einer gemeinsamen Gewaltverantwortung und deren Integration in das eigene Selbstbild des Kollektivs und seiner Angehörigen beruhen.[49] Sechstens werden bestimmte Gewalthandlungen dafür ausgewiesener Akteure zur instrumentellen Norm des Kollektivs erklärt.

6 Gewaltlust als Ressource der organisierten Gewalt

Ob Gewalt „organisiert“ ist oder nicht, sagt jedoch an sich noch nichts über die Intensität der Gewalt, ihre affektive Besetzung, die Motivationen der Akteure oder ihren Gefühlshaushalt aus. Vielmehr müssen diese als eine notwendige Ressource der organisierten Gewalt betrachtet werden.

Erstens gilt das Fehlen eines Übermaßes an gewaltpathologischen Dispositionen zwar durchaus als eine Voraussetzung für ein stabiles Handlungsarrangement von Täterkollektiven. Aber der „joy of combat“ und die Effizienz soldatischen Handelns schließen einander nicht aus. Zudem dienen gewaltverherrlichende Propaganda, Vorgesetzte, die „ein Auge zudrücken“ im Sinne einer „authorized transgression“, oder die Befriedigung durch kämpferische Erfolge im Krieg ausdrücklich der Steigerung von Effizienz.[50]

Zweitens können Gewaltlust und die Fähigkeit, Gewalt zu organisieren, eng miteinander verbunden sein: Sadistische und exzessive Gewalttäter verfügen oft über eine ausgesprochen hohe planerische Intelligenz. Persönlichkeiten mit einer psychopathologischen Disposition können zwar die Emotionen ihrer Mitmenschen und mithin ihrer Opfer neurologisch nicht adäquat wahrnehmen und mit ihnen empfinden, sind aber sehr wohl kognitiv dazu in der Lage, sich diese vorzustellen und in ihr luststeigerndes Kalkül einzubeziehen („kalte Empathie“).

Betrachtet man drittens die Rationalisierung der Gefühle durch ihre Verwissenschaftlichung seit der Wende zum 20. Jahrhundert, ist zudem eine andere Grundform sinnlicher Erregung als spätmodernes Gefühlsrepertoire in Rechnung zu stellen: eine „funktionale Lust“, die der Steuerung, Planung und Transparenz unterliegt.[51] So prägte Alexander Mitscherlich, ausgehend von seinem Bild von Adolf Eichmann, den Begriff des peniblen und effizienten „Grausamkeitsarbeiters“, der ohne Leidenschaft und Lust, sondern primär aus Pflichtgefühl und Befehlsgehorsam handelte.[52] Inzwischen haben aber neuere biographische Studien Eichmanns ausgewiesenen, emotional tief verankerten Antisemitismus belegen können.[53]

Viertens zeugen die Berichte der Opfer von verschiedensten Kombinationen von organisierter und exzessiver, rationaler und affektiver Gewalt. Vor der Deportation nach Auschwitz-Buna erlebte Primo Levi einen Appell, den die deutschen Bewacher mit „absurder Präzision“ durchführten. Kurz darauf erhielt er die „ersten Schläge“. Sie erschienen ihm als so „unsinnig“, dass er „keinen Schmerz“ empfand, sondern nur „tiefe Verwunderung“, weil er sich fragte, wie man „einen Menschen ohne Zorn schlagen“ könne.[54]

Fünftens ist das Phänomen der Gewaltlust nicht allein an die persönliche Anwendung exzessiver physischer Gewalt gebunden. So vermieden es viele SS-Wachleute gerade mit höheren Diensträngen, die sich an ihrer Skrupellosigkeit und ihrem Zynismus befriedigten, direkte körperliche Gewalt anzuwenden, nutzten Pistolen oder delegierten den Exzess: „Die Beamten der Staatspolizei verabfolgten selbst meist ‚nur‘ Faustschläge und Fußtritte, für die andere Behandlung sind meist besondere Prügler dort.“[55]

Sechstens kann sich ein individuelles Streben nach Gewaltlust gerade im Sinne der Arbeitsteilung als nützlich und treibend erweisen. Längst nicht alle müssen sich dabei aktiv und brutal an der Gewalt beteiligen – es müssen nur hinreichend viele sein. Sara Berger hat unter 120 Tätern in den Vernichtungslagern Belcez, Sobibor und Treblinka die Hälfte als eigeninitiative und exzessive Gewalttäter identifiziert; darunter waren 20 und damit insgesamt ein Sechstel, die dabei „undiszipliniert“ agiert haben.[56] Ebenfalls jeder Sechste verband eine Führungsposition mit eigeninitiativer und extremer Gewalttätigkeit sowie mit massivem psychischem Druck gegenüber den Untergebenen, sich an den Vernichtungsaktionen zu beteiligen. Berger spricht für diese Gruppe von einer „Funktionslust“.[57] Auch Christopher Browning hat für die Polizeibataillone ein Drittel ihrer Angehörigen als „eager killers“ klassifiziert.[58] Dies entspricht den Ergebnissen des Gefängnisexperiments von Philip Zimbardo, bei dem sich ebenfalls ein Drittel als besonders gewaltbereit gezeigt hatte und immer neuere Formen des Quälens und Folterns entwickelte.[59]

Siebtens war eine Organisation des Mordens – im Sinne von Befehlen, der Ausgabe des Ziels, der Einweisung in Tötungstechniken, der Entwicklung einer bestimmten Arbeitsteilung – in den meisten Fällen nur zu Beginn nötig. Danach entwickelte sich die Vernichtungsgewalt weitgehend eigendynamisch und ging oft mit grausamen Entgrenzungen der eingesetzten Gewalt einher. Dies ging im Falle von organisierter Massengewalt mit einer Erweiterung der Legitimationszonen von Gewalthandlungen einher, die das Neue – die affektive Transgression durch die Anwendung grausamer Gewalt – selbst zur rationalen Gewalt erklärten.

Achtens weisen auch manche Täterzeugnisse darauf hin, dass sich Phänomene der Gewaltlust im Lauf der Zeit einstellen konnten. So berichtete ein Bremer Kaufmann aus der besetzten Sowjetunion recht freimütig über Ermordungen von Juden. Zunächst übernahm er die Vorgaben seiner Autoritäten: Dies „müsse so sein“. Im Verlauf wurden seine Beschreibungen der Juden immer drastischer. Er demütigt und dehumanisiert sie, bis er schließlich nach einer Exekution, der er selbst nicht beiwohnen konnte, an seine Frau schrieb: „Man sagt, es habe Spaß gemacht.“[60]

Neuntens nahm die Gewalt häufig die Form einer rituellen Gewalt an. Getragen von einem ideologisch bestimmten Weltbild, das durch Gruppenprozesse und deren Abgrenzungen von ihrer äußeren Umwelt forciert wird, ist rituelle Gewalt durch das Bedürfnis geprägt, die Unterwerfung der Opfer durch Akte einer erniedrigenden Beschämung gezielt herbeizuführen, zu beobachten und selbst zu erleben. Der Gruppenkontext führt zu einer Steigerung und Systematisierung der Gewalt; die Gewaltlust vergemeinschaftet die Akteure als kollektive Erfahrung, als radikalste Form der Abgrenzung und als Zugehörigkeitsausweis.

7 Massaker und Gewaltlust

Hinsichtlich der Kriegsverbrechen in der zweiten Kriegshälfte – vor allem der zahlreichen Massaker an Zivilisten von den Niederlanden bis Griechenland – ist die lange Zeit verfolgte Trennung in ideologisierte SS-Einheiten und pathologische Einzeltäter einerseits sowie militärische, unpolitische sowie rechtskonform agierende Einheiten der Wehrmacht oder sogar der Waffen-SS andererseits schon seit geraumer Zeit in der Forschung obsolet geworden. Unter anderem hat dazu Carlo Gentile mit seiner Studie zu „Wehrmacht und Waffen-SS im Partisanenkrieg“ in Italien von 1943 bis 1945[61] maßgeblich beigetragen. Ich möchte hier nur einige Merkmale skizzieren, die meines Erachtens einen engen Zusammenhang zwischen den Massakern und der Gewaltlust erkennen lassen:

Erstens ereignete sich ein Großteil der Massaker jeweils zeitlich und räumlich verdichtet als ein serielles Geschehen. So verübte die 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ vier ihrer teils mehrtägigen Massaker mit mehr als 50 Opfern zwischen dem 11. und dem 27. August in der Toskana. Für die Fallschirm-Panzerdivision „Hermann Göring“ lassen sich ähnliche Verdichtungen im März und April sowie im Juni und Juli 1944 feststellen. Das serielle Morden wird im Paradigma der organisierten Gewalt mit einer Routinisierung und Entfremdung von der Gewalttat verbunden. Es handelte sich aber um aufwändige und mit Gefahren verbundene Einsätze, die womöglich zu einer dauerhaften Erregung und einer bewussten Gewaltbereitschaft beitrug.

Zweitens wurden die Massaker vorab durch einen ideologischen Frame gerechtfertigt, der weit über die konkrete Kriegssituation hinausging. Die Anordnungen, mit „unerbittlicher Härte“ vorzugehen, stellten die Maßnahmen in einen engen Zusammenhang mit Gewaltrechtfertigungen, die seit 1933 ein Wesensmerkmal des NS-Regimes ausmachten. Dabei darf auch der Konnex zur Vergeltungsrhetorik im Reichsgebiet zur selben Zeit nicht unbeachtet bleiben. Im Zuge des intensivierten Luftkriegs waren Rache, Hass und Angst seit 1943 zu einem Grundmuster der Propaganda geworden. Die Figur des „jüdischen Terrors“, die jegliche Missachtung von Kriegsrecht und Moral erlaubte, ließ sich dabei auch auf andere Feindkonstellationen übertragen. Auch die Einheiten in Italien handelten im Kontext eines „paranoiden Diskurses“,[62] auf den sie mit einer „existenziellen Gewalt“[63] antworteten.

Drittens ging die Massakergewalt im Ausmaß, aber auch in den Anlässen weit über einen funktionalen Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Partisanen hinaus. In vielen Fällen gab es zwar einen Zusammenhang zwischen konkreten Partisanenaktionen gegen die deutschen Besatzer. Aber dies war längst nicht bei allen der Fall. Betrachtet man die Massaker in dieser Phase im besetzten Europa insgesamt, genügte oft auch das Gerücht oder es wurde gelogen, wenn zum Beispiel durch Berichte über die Verstümmelung von deutschen Soldaten die Erregung der Massakereinheiten angestachelt werden sollte. Zudem kam es zu Massakern und Morden auch im Zusammenhang mit „Auskämmungen“ für Zwangsarbeiter sowie bei Razzien, u. a. nach Juden, oder bei der gezielten Ermordung von Menschen, die als „arbeitsunfähig“ betrachtet wurden. Der ideologische Schirm, unter dem sich diese Vielfalt an Kriegsverbrechen vereinte, war über die Kriegssituation hinaus ganz wesentlich durch die weltanschaulichen Prämissen des NS-Regimes überdeterminiert. Das Streben nach Macht, um Identität, Sicherheit und Reinheit herzustellen, lag auch den Massakern im Kriegskontext zugrunde.

Viertens lassen sich, obwohl an den Massakern diverse Einheiten von Wehrmacht, SS und lokalen Komplizen beteiligt waren, ausgewiesene Massaker-Einheiten identifizieren. Unter den zehn Massakern mit den höchsten Opferzahlen wurden bekanntlich fünf von der bereits erwähnten 16. SS-Panzergrenadierdivision „Reichsführer SS“ begangen, die nicht zuletzt von Carlo Gentile eingehend untersucht worden ist. Die bekanntesten darunter sind die Massaker in Marzabotto in der Emilia Romagna vom 29. September bis zum 1. Oktober 1944 und in SantʼAnna di Stazzema in der Toskana am 12. August 1944. Die Division war für ein Fünftel der Massakeropfer in Italien verantwortlich, wenn man die Zahl von 10 000 ermordeten Zivilisten zugrunde legt.

Carlo Gentile hat für die Division drei wichtige Merkmale ihrer Zusammensetzung herausgearbeitet: Zum einen waren zwei Drittel der Soldaten zwischen 17 und 23 Jahre alt, was sie leicht beeinflussbar machte bzw. sie waren bereits durch das nationalsozialistische Feinddenken sozialisiert worden. Dann hatten viele Kommandoführer in vorherigen Gewalteinheiten wie den SS-Totenkopfverbänden oder Sonderkommandos in der besetzten Sowjetunion mitgewirkt. Eine frühe Zugehörigkeit zur NS-Bewegung vor 1933 trug bei vielen zu einer Mischung aus Ideologisierung, Führerloyalität und Gewaltbereitschaft bei. Schließlich waren Exponenten dieses Führungstypus auf allen Ebenen der Division vertreten, was zur Konformität der Haltungen in der Division beitrug. Dem entsprach eine Vergemeinschaftung durch die komplizenhafte Struktur der Massakergewalt.

Fünftens versuchten die verantwortlichen Einheiten, durch die Organisation der Massaker und ihre Grausamkeit die vollständige Kontrolle über die Zivilisten zu erlangen. Sie trieben die Opfer an abgegrenzten Orten zusammen und brachten sie mit Maschinengewehren um. Die Massaker gingen vielfach mit Akten einer besonderen Grausamkeit einher. In Bardine di San Terenzo waren am 17. August 1944 sechzehn deutsche Soldaten von den Partisanen umgebracht worden. Als die deutsche Feldgendarmerie zwei Tage später erneut in das Dorf kam, brachte sie 53 Geiseln aus SantʼAnna di Stazzema mit. Diese wurden brutal ermordet: Mit Draht an Lastkraftwagen befestigt, wurde ihnen so in die Gliedmaßen geschossen, dass sie vom Draht erdrosselt wurden.

Folgt man Interpretationen, die dem performativen Moment von Massakern ein hohes Gewicht beimessen, dann waren die Beteiligten allesamt Teil einer Aufführung, in der jeder an ihrer Bedeutung mitwirkte und selbst eine Rolle übernahm, in der das Selbst durch diesen bedeutsamen Gewaltakt transformiert und als bedeutsam bestätigt wurde. Denn der Zweck ging über die lozierende, raptive und autotelische Dimension der Gewalt hinaus. Die Massaker dienten dazu, eine imaginierte Ordnung herzustellen, die auf dem Ziel einer absoluten Kontrolle beruhte. Ähnlich den Akten der Lynchjustiz an Schwarzen in den USA bedeuteten Massaker eine Selbstermächtigung, um die eröffneten Handlungsspielräume im Sinne einer „alternativen sozialen Ordnung“ (Lee-Ann Fuji) und einer eigenen Vorstellung von Gerechtigkeit zu nutzen.

8 Schluss: Epiphanische Gewalt

Gewaltlust sollte weder als ein selbsterklärendes noch als ein generelles oder hinreichendes Erklärungsmoment für massenhafte und genozidale Gewalt herangezogen werden. Sie ist jedoch in die organisierte Gewalt als notwendiger Bestandteil integriert. Sie stellt ein entscheidendes Element dar, das hinreichend viele Täter dauerhaft, wiederkehrend oder temporär über den eigentlichen Widerspruch zwischen ihren Taten und einer kollektiven Tötungshemmung trägt.

Wie lässt sich diese Verschränkung von organisierter Gewalt und Gewaltlust begrifflich fassen? Ein Angebot ist Jan Philipp Reemtsmas Begriff der „Terroratio“.[64] Wenn exzessive Gewalt zum regulären Staatsziel wird, basiert dies auf einer „eigenen Rationalität“, da die üblichen „Maßgaben instrumenteller Logik“[65] außer Kraft gesetzt werden. Ihre verschiedenen Merkmale sieht Reemtsma in einem „systemkonformen Sadismus“[66] gebündelt: Die „Terroratio“ komme nicht ohne „Momente des Gefallenfindens“[67] oder „psychische Gratifikationen“[68] aus. Andererseits argumentiert Reemtsma, durch die Inklusion der exzessiven in die organisierte Gewalt hätten die Täter sich innerhalb dieser „Interpretationen und Vokabulare“ verständigen können, als wenn „alles beim Alten geblieben“ sei.[69] Er hält es daher für möglich, dass die Angehörigen des Polizeibataillons 101 tatsächlich „nicht das Gefühl hatten, ihrem Hass die Zügel schießen zu lassen (obwohl wahrscheinlich in vielen, vielleicht den meisten, Fällen dieses tatsächlich der Fall gewesen ist)“.[70]

Die Verschränkung von organisierter und affektiver Gewalt führt jedoch eher nicht dazu, dass „alles beim Alten“ bleibt. Stattdessen wird kollektive Massengewalt zumindest von vielen, wenn nicht den meisten Mitgliedern einer Gruppe als eine neu zu schaffende Konstellation im Ganzen affektiv durch Botschaften und konkret durch positiv stimulierende Erfahrungen besetzt. Sie weisen über die konkrete Handlung hinaus und stellen zwischen den einzelnen, räumlich wie zeitlich verstreuten Akten einen über die Zeit wachsenden, integrierenden Zusammenhang her. Die physische Zerstörung lässt sich nicht von der selbstüberhöhenden Imagination einer Gewalt trennen, die mit der Versprechung aufgeladen ist, höheren Zwecken zu dienen.[71]

Im kollektiven Gewalthandeln der nationalsozialistischen Verbrechen stellt sich ein nicht im „autotelischen“ Moment der Gewalt aufgehendes Telos ein, die Gewalt in einem tief empfundenen Sinne als „wahr“ zu verstehen. Sich daran zu beteiligen, basiert auf der Selbsteinschreibung in eine affektive Struktur, durch die eigenen Taten an einem kollektiven Erlösungshandeln teilzuhaben. Die Bereitschaft zum exzessiven Einsatz physischer Zerstörungsmittel ist deshalb auch nicht hinreichend durch einzelne Ideologeme oder persönliche Dispositionen begründbar, sondern beruht auf einem für viele in die Selbstkonzepte einpassungsfähigen Gefühl der Überlegenheit, der Ermächtigung und der Unterwerfung.

Gewaltlust wird durch dieses zweifache Gefühl einer Erlösungsgewalt – einer Erlösung von der eigenen Unterlegenheit und von den dafür als ursächlich betrachteten Objekten, die man zu Unterlegenen macht – vom Kollektiv internalisiert, als bindendes Gemeinschaftsgefühl erfahren und von höchster Instanz legitimiert. Sie ist gerade nicht „pre-cultural“ im Sinne der Annahme einer anthropologischen Gewaltneigung, die unter bestimmten Bedingungen „ausbricht“, sondern „pre-eminently cultural“: An die Stelle der normativen Trennung zwischen „rationaler“ und „affektiver“, zwischen „organisierter“ und „exzessiver“, zwischen „kalter“ und „heißer“ Gewalt tritt eine diese beiden Pole verschmelzende, vergesellschaftete und den Akteuren bewusste „epiphanische Gewalt“.

Published Online: 2025-11-07
Published in Print: 2025-11-03

© 2025 bei den Autorinnen und den Autoren, publiziert von De Gruyter.

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